Skandal in St-Germain-des-Prés: Das linksintellektuelle Pariser Milieu schaute weg
Eine merkwürdige Mischung aus höfischen Sitten und Geist von 68 machte Pädophilie salonfähig. Doch den Kindern der 68er reicht es. Eine Kolumne.
Wie hat mich in der Pariser Studienzeit doch die französische Galanterie und dieser leichtfüßige, selbstverständliche Flirt im Alltag fasziniert!
Spätestens mit dem Vergewaltigungsskandal um den Weltbankpräsidenten Dominique Strauss- Kahn wurde dann die Kehrseite seziert: Der verbreitete und als falsches „savoir vivre“ geduldete Sexismus in der französischen Gesellschaft.
Doch es geht noch schlimmer: Derzeit erschüttert ein Missbrauchs-Skandal mit minderjährigen Schutzbefohlenen die intellektuelle Linke, diese Hochgebildeten und Hocheingebildeten, die im Pariser Mikrokosmos von Saint-Germain-des-Prés zu Hause sind und mittlerweile an vielen Machthebeln sitzen.
Im Zentrum des Skandals steht der Politologe und Verfassungsrechtler Olivier Duhamel, eine Art Anführer dieses Milieus in dem berühmten Stadtviertel auf dem linken Seine-Ufer, wo Sorbonne und die Elitehochschule Science Po, Verlage und Buchhandlungen und Intellektuellen-Treffpunkte wie das „Café de Flore“ nahe beieinander liegen.
Der Skandal trifft das "Who is Who" dieses Milieus
Seine Stieftochter Camille Kouchner hat in dem im Januar erschienen Buch „La Familia grande“ den Vorwurf erhoben, Duhamel habe vor Jahrzehnten ihren damals 13-14jährigen Zwillingsbruder sexuell missbraucht. Und die linksintellektuelle Clique, die „Kaviar-Linke“, wie dieses Milieu seit den Zeiten des sozialistischen Präsidenten Francois Mitterrand genannt wird, schaute weg, wollte es nicht wissen, deckte Duhamel. Denn alle waren ja so befreundet und auch beruflich so nützlich.
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Der Skandal trifft das „Who is Who“ dieses Milieus. Denn Olivier Duhamel war ein „homme de pouvoir“ (ein Mann der Macht), zuletzt Leiter der Stiftung der elitären Politik-Hochschule "Science Po", an der er zuvor jahrzehntelang unterrichtet hatte, und gerade erst im Januar zum Präsidenten des exklusiven Clubs „Le Siècle“ gewählt, in dem sich politische und wirtschaftliche Entscheider treffen.
Der Missbrauchte ist der leibliche Sohn des ehemaligen Außenministers und Gründers von „Ärzte ohne Grenzen“, Bernard Kouchner, dessen Ex-Frau später mit Duhamel liiert war. Er bestätigte die Vorwürfe und erstatte Anzeige gegen seinen Stiefvater.
Viele wussten seit Jahren von den Vorwürfen - und schauten weg
Da man in diesem Milieu gerne auch die Sommerferien gemeinsam verbracht - beispielsweise in der Villa aus dem Familienbesitz Duhamels an der Cote d´ Azur - gab es seit Jahrzenten Gerüchte und mehr. Aber keiner wollte es wissen. Und so zieht die Affäre jetzt Kreise: Zuletzt musst am Dienstag der Direktor von Science Po, Frédéric Mion, zurücktreten – er wusste seit 2018 von den Vorwürfen gegen Duhamel, die frühere Kulturministerin Aurélie Filippetti hatte ihn informiert. Geschehen war aber nichts.
Auch der Ex-Generalsekretär der Regierungen Hollande und Macron und enge Vertraute von Duhamel, Marc Guillaume, soll im Bild gewesen sein. Ex-Justizministerin Elisabeth Gigou, die gerade erst den Vorsitz einer Kommission zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch übernommen hatte, wusste von nichts, verbrachte ihre Sommer aber auch gerne mit Duhamel in Südfrankreich und gab daher den Vorsitz der Kommission ab. Zuletzt verlor der Philosoph Alain Finkelkraut wegen als relativierend empfundener Äußerungen zu dem Skandal seinen Kommentatorenjob beim TV-Sender LCI.
Es ist eine Abrechnung der Kinder mit der Generation der 68er: Ähnlich wie beim Skandal um den Missbrauch in der Odenwaldschule scheint es damals in diesen Kreisen ein verstörendes Verständnis vom Umgang mit der Sexualität von Kindern gegeben zu haben. Es wurde sogar noch offener kultiviert – man denke an die Werke des Schriftstellers Gabriel Matzneff, der der Pädophilie im Werk und im Leben huldigte und bis 2019 bei dem angesehenen Verlag Gallimard veröffentlichte.
Der Nährboden für diese Spielarten der Libertinage ist wohl eine sehr französischen Mischung aus höfischen Sitten und dem Geist von Mai 68. Die Aufarbeitung dieses falschen Freiheitsverständnis wird die „grande nation“ hoffentlich lange beschäftigen. Und die besondere französische Galanterie hat ihren letzten Reiz verloren.