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Der verwüstete Friedensplatz von Charkiw.
© Vyacheslav Madiyevskyy/Imago

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch, Teil 2: „Russischer Biomüll“ ist ein neuer Begriff in der Ukraine

Yuriy Gurzhy, geboren 1975 in Charkiw, lebt seit 1995 in Berlin. Er ist Autor, Musiker, DJ und schreibt, wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt.

28. Februar 2022
Während gestern in Berlin hunderttausende Menschen mit Fahnen und Plakaten gegen den Krieg marschierten, kämpften meine Freunde auf den Straßen meiner Heimatstadt Charkiw mit Gewehren in ihren Händen. Die Videos in Social Media, gefilmt oft mit zitternden Händen auf Mobiltelefonen, wirken zur Zeit stärker als jeder Marvel-Film – weil sie real sind. Russische Panzer fahren meine Straße entlang. Reingefahren sind sie wahrscheinlich über die Siegesallee, so nach dem Sieg der UdSSR über Nazi Deutschland benannt.

„Liebe Bürger der Stadt, bitte bewahren Sie Ruhe. Die Situation ist unter Kontrolle. Bleiben Sie bitte zu Hause, während wir die Stadt vom russischen Biomüll bereinigen“ – diese Nachricht bekomme ich in einem der zahlreichen Whatsapp-Chats, weitergeleitet von meinem Klassenkamerad. „Russischer Biomüll“ ist seit ein Paar Tagen ein neuer gängiger Begriff im Ukrainischen dafür, was von russischer Militärausrüstung sowie von den Besatzern auf ukrainischem Boden liegen bleibt.

Denazifierung, was ist das für eine Idee?

Jahrelang lebten meine Eltern, Großeltern und ich in der Straße des 23. Augusts – an diesem Tag im Jahre 1943 wurde Charkiw von den Nazis befreit. Heute, 59 Jahre später, arbeitet mein Land daran, sich von der russischen Invasion zu befreien, von Soldaten, die gekommen sind, um die unabhängige Ukraine zu DENAZIFIZIEREN. Denazifizierung! Wie, wie kommt man bloß auf solche Idee?

Und wer auf der Welt würde es glauben?!! Das geht mir am frühen Morgen durch den Kopf, als ich aufwache. Ich habe Angst, mein Handy zu berühren. Von den Nachrichten wird man zwar müde, aber sie zu ignorieren geht nicht. Ich denke an den Satz aus einem Song der Neunziger: „Die schlechten News verbreiten sich schnell wie die Läuse, und die guten sind eh bekannt“.

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In einer WhatsApp-Gruppe der Charkiwer Musiker wurde in der Nacht ein Screenshot gepostet – die neueste Facebook-Meldung von Alexander Chernetskiy. Chernetskiy war mein Idol als ich 15 war, seine Songs waren giftige Satire gegen das sowjetische System. Ende der Achtziger war er der bekannteste Rockstar meiner Heimatstadt.

Er lebt inzwischen in St. Petersburg und schreibt, dass Charkiw die „Denazifizierung“ unterstütze. Ich bin nicht enttäuscht, nur wütend. Ob er schon die neuesten Bilder von Saltivka gesehen hat, dem Stadtbezirk im Nordosten Charkiws, wo seine Familie jahrzehntelang lebte? Auch dort wurde in den letzten Tagen heftig bombardiert.

Raketenschaden in Katyas Wohnung in Charkiw.
Raketenschaden in Katyas Wohnung in Charkiw.
© privat

1. März 2022
Mein Bruder schreibt, seiner Familie und ihm geht es gut. Gott sei Dank! Als ich mich an dem Schreibtisch setze, passiert etwas mit meinem Messenger. Drei Nachrichten. Vier. Fünf. Sechs. Eine Freundin aus Boston, ein Freund aus Kopenhagen, einer aus Düsseldorf, alle teilen ein Video, gemacht vor wenigen Minuten in Charkiw auf dem Freiheitsplatz, dem größten Platz Europas.

In der erster Sekunde erkenne ich den Ort, ich bin dort täglich, wenn ich die Heimatstadt besuche. Direkt um die Ecke wohnte mein Onkel, schräg gegenüber ging ich jeden Sonntag in die Literatur-AG. In der zweiten Sekunde des Videos sieht man eine schwere Explosion.

Eine Rakete landet in der Wohnung

Das Zentrum von Charkiw wird bombardiert. Ich heule vor meinem Computer. Ich will es nicht sehen. Ich muss es sehen. Eine Klassenkameradin schickt mir ein Bild, das sie gerade gemacht hat. Darauf ist etwas zu sehen, was wie ein Rohr aussieht, ich schaue genauer und realisiere, dass es eine Rakete ist, die in ihrer Wohnung gelandet ist.

Sie fragt, ob ich jemanden kenne, der sagen könnte, wie gefährlich das Ding ist. „Poste es bitte auf Facebook“, schreibt sie, „ich möchte, dass die Welt sieht, was Russen mit uns machen!“ „Natürlich, Katya!“ schreibe ich zurück. In diesem Moment vibriert mein Handy. Eine Freundin aus Berlin ruft an. Sie ist in der U-Bahn, ich kann sie kaum verstehen. „Yura! Yuraaa!“, schreit sie, – es tut mir so leid!“ Sie heult. Wir heulen zusammen.
Lesen Sie hier Teil 1 des Kriegstagebuchs.

Yuriy Gurzhy

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