Grünen-Chefin Annalena Baerbock: "Ich hatte Sorge, dass ich dafür nicht hart genug bin"
Annalena Baerbock ist seit einem Jahr Grünen-Chefin. Im Interview spricht sie über ihr erstes Jahr, heftige Diskussionen mit Robert Habeck und die Wahlen im Osten.
Frau Baerbock, Sie sind seit einem Jahr Grünen-Chefin. Gab es Momente, in denen Sie es bereut haben?
Nein. Es gab Situationen, in denen ich dachte: krass. Es ist nicht immer einfach, Parteivorsitz und Familie zu vereinbaren. Aber ich bin politisch aktiv geworden, um zu verändern, und jetzt ist die Zeit, in der es politisch richtig um was geht: Die Klimakrise eindämmen, Europa zusammenhalten und nicht zu akzeptieren, dass in unserem reichen Land jedes fünfte Kind in Armut lebt.
Von der einfachen Abgeordneten zur gefragten Spitzenpolitikerin: Was macht das mit Ihnen?
Ich stehe inzwischen ständig im Feuer, muss immer sprechfähig sein, und wenn ich was vergeige, stehen 75.000 Mitglieder doof da. Auch die Aggressivität, die sich besonders gegen Politikerinnen richtet, bekomme ich zu spüren. Ich hatte erst Sorge, dass ich dafür nicht hart genug bin. Aber gefährlich wird es dann, wenn man sich aus der Angst heraus abkapselt. Mir ist wichtig, die Offenheit für andere Menschen zu bewahren.
Wie hat sich Ihr Alltag verändert?
Schon als Bundestagsabgeordnete war mein Kalender rappeldicke voll, jetzt sind selbst die Wege zwischen Terminen mit Telefonaten verplant. Alltag ist da eher selten. Daher ist zumindest einmal unter der Woche Abendessen mit den Kindern fest fürs ganze Jahr im Kalender geblockt. Und die Kindergeburtstage sind heilig. Als Herr Seehofer im Frühsommer öfter mal die Regierung platzen lassen wollte, hatte meine Tochter Geburtstag. Krisensitzung an dem Nachmittag ohne mich, auch wenn manch einer da erst mal nachfragt, ob ich das wirklich so meine. Nur, weil ich Parteivorsitzende bin, habe ich nicht aufgehört, Mutter zu sein.
Worüber haben Sie sich am meisten geärgert?
Dass Frauen und Männer immer noch anders behandelt und bewertet werden, auch in der Politik. Ich denke immer, jetzt wirst du erst zur richtigen Feministin.
Ist es Ihnen egal, dass Ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck ständig für kanzlertauglich befunden wird, während keiner die Frage stellt: Kann Baerbock Kanzlerin?
Wir treten in keinen Wettstreit, wer öfter nach Kanzlerschaft gefragt wird. Darum geht es eh nicht, sondern darum, den Vertrauensvorschuss aus den Umfragen zu erfüllen. Diesen Job machen wir gemeinsam. Wenn das anders wäre und wir uns ständig nur beharken würden, würde uns niemand zutrauen, dass wir etwas fürs Land bewegen.
Sie teilen sich in der Parteizentrale nicht nur ein Büro mit Habeck, sondern inszenieren Ihre Harmonie regelrecht. So reibungslos kann es doch gar nicht immer zugehen.
Klar diskutieren wir manchmal auch heftig, das geht aber gerade deshalb, weil wir uns sonst so gut verstehen. Das kennt man ja aus jeder WG. Man streitet, ob eine Wand im Haus weiß oder blau werden soll. Aber man sorgt gemeinsam dafür, dass man gut zusammenlebt.
Sprechen Sie denn jede Entscheidung miteinander ab? Hat Habeck Sie zum Beispiel um Rat gefragt, bevor er sich bei Twitter und Facebook abgemeldet hat?
Ich bin froh, dass er mich nicht mitten in der Nacht angerufen hat. Aber natürlich hat Robert mich kontaktiert. In dem Fall war er aber ja sehr persönlich betroffen, und es war eben eine sehr persönliche Entscheidung. Ich selbst twittere weiter.
Was tun Sie, um als prominenter Mensch die Bodenhaftung nicht zu verlieren?
Da helfen Kinder total. Ich mache ja den gleichen Spagat wie viele berufstätige Mütter und etliche Väter: An meinem Familiennachmittag komme ich gehetzt in der Kita oder im Schulhort an. Oder plötzlich kommt der Anruf, ein Kind hat Ohrenschmerzen, bitte sofort abholen. In solchen Momenten spürt man immer wieder, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt als Pressekonferenzen. Und genau so ist es, wenn man direkt mitbekommt, dass bei Mitschülern das Geld für Schulmaterialien knapp ist. Dann ist die Debatte, die man im Ausschuss des Bundestages über Kinderarmut führt, sehr konkret.
Die erste große Bewährungsprobe steht Ihnen erst noch bevor. Endet der grüne Höhenflug, wenn in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Herbst gewählt wird?
Die Wahlen in Ostdeutschland, aber auch in Europa im Mai, sind für die Demokratie insgesamt eine Bewährungsprobe. Es geht darum, wieder Vertrauen in die Institutionen und die Politik herzustellen. Dafür müssen wir die großen Fragen und die sehr konkreten Probleme lösen.
Was treibt die Menschen im Osten um?
Endlich gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West zu schaffen. Wir müssen uns stärker um die Regionen kümmern, die wirtschaftlich kaum eine Chance haben. Eine Bahntrasse in einem Landkreis zu finanzieren, dessen Einwohnerzahlen schrumpfen, mag unökonomisch sein. Ich halte eine solche Anbindung aber für essenziell, wenn wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken wollen. Das gilt im Osten, aber auch im Westen. Wir müssen neu definieren, welche soziale Infrastruktur ein Grundrecht ist.
Was meinen Sie, außer Bahnstrecken?
Noch bringt der Postbote in jedes Dorf täglich die Post. Aber es ist nicht überall gewährleistet, dass man eine E-Mail abschicken kann. Oder es gibt Regionen, in denen es nicht ausreichend Hebammen oder Ärzte gibt. Um hier stärker investieren zu können, wollen wir den Solidarzuschlag in eine Unterstützung für gleichwertige Lebensverhältnisse umwandeln. Denn ohne Frage müssen wir gerade im ländlichen Raum investieren, damit die Menschen dort weiter dazugehören. Und gerade bei mir in Brandenburg geht es auch um eine andere Form der Landwirtschaft. Die großen industriellen Tierhaltungsanlagen, die kommen, weil ihnen die Gesetze aus den Niederlanden und dann aus Niedersachsen zu streng sind, empfängt der Brandenburgische Landwirtschaftsminister mit offenen Armen. Das verändert die Dörfer und wirkt sich negativ auf den Tourismus aus. Wir brauchen Alternativen.
Haben Sie den Eindruck, dass sich Ost und West 30 Jahre nach dem Mauerfall wieder voneinander entfremden?
Wir haben zu lange zu wenig Interesse für einander gezeigt. Heute schauen wir wieder genauer hin, was 1989 und in den Jahren danach in Ostdeutschland passiert ist. Auch in meiner Generation haben viele von heute auf morgen die Orientierung verloren. Lehrer waren nicht mehr Autoritätspersonen, es galt nicht mehr, was in den Schulbüchern stand. Die Eltern waren nicht ansprechbar, weil sie ihren Arbeitsplatz verloren hatten oder weil sie um ihre neue Rolle ringen mussten. Lange haben wir darüber nicht geredet. Ich fände es gut, wenn wir diese Sprachlosigkeit überwinden. Nur so können wir eine gemeinsame Identität finden.
Woran liegt es, dass die Grünen im Osten so eine schwache Basis haben?
Wir sind noch nicht überall präsent, aber es kommt viel in Bewegung – wir haben enorm viele neue Mitglieder. Gerade in ländlichen Regionen sprechen uns Menschen aus Bürgerinitiativen, aus der Flüchtlingshilfe oder Kirchengemeinden an, weil sie sich vorstellen können, bei Wahlen für uns anzutreten. Die teilen nicht jeden Punkt in unserem Programm, finden aber unsere Haltung gut.
Sie sind im Flächenland Brandenburg mit seinen 2,5 Millionen Einwohnern die einzige grüne Bundestagsabgeordnete. Wie geht das überhaupt?
Natürlich kann ich nicht in jedem Winkel Brandenburgs gleichzeitig sein. Aber ich bin bewusst nicht nur in Potsdam unterwegs, im Speckgürtel Berlins, sondern auch in den weniger dicht besiedelten Gegenden wie Ostbrandenburg. Ich habe sehr bewusst nicht nur ein Wahlkreisbüro in Potsdam, sondern auch in Frankfurt (Oder) und Neuruppin, fahre zu Seniorengruppen, die vorher noch nie eine Grüne oder auch Politikerin getroffen haben. Gerade durch den direkten Kontakt, durch Nahbarkeit kann vielleicht Vertrauen wachsen.
Wie erklären Sie sich den Erfolg der AfD im Osten?
Ich beobachte, dass die AfD dort erfolgreicher ist, wo Bus und Bahn nicht mehr fahren und wo es keine Schulen und Kitas gibt, wo Leute real abgehängt sind. Nicht nur im Osten, auch in anderen strukturschwachen Regionen. Im Osten haben Menschen zudem eben den Zusammenbruch einer ganzen Volkswirtschaft erlebt. Ganze Regionen waren ein Versuchslabor neoliberaler Ideen. Löhne, Renten, Vermögen sind ungleich verteilt zwischen Ost und West. An diese Probleme müssen wir ran.
Was halten Sie vom Kohleausstieg, wie ihn die Kohlekommission vorschlägt?
Es ist ein Anfang, immerhin: Deutschland steigt als großes Industrieland aus der Kohle aus. Das wäre ohne den langjährigen Druck der Zivilgesellschaft und uns unvorstellbar gewesen. Aber um das Klimaziel bis 2030 wirklich zu erreichen, braucht es mehr als der jetzige Kompromiss vorsieht. Gerade das Enddatum 2038 ist nicht mit den Pariser Klimazielen zu vereinbaren. Daher machen wir weiter Druck. Die Revisionsklauseln, die vorsehen, dass in den 20er Jahren überprüft wird, müssen für Nachbesserungen sorgen. Und schon jetzt ist klar, dass über den Kohlekompromiss hinaus nun noch viel deutlichere Maßnahmen zur CO2-Minderung im Verkehr, im Gebäudebereich und in der Landwirtschaft nötig sind.
Treiben die Grünen der AfD in der Lausitz nicht die Wähler in die Arme, wenn Sie den Kohleausstieg so forcieren?
Nein. Aus Angst vor der AfD plötzlich den Klimaschutz und die Transformation von Regionen in Frage zu stellen, wäre genau das Falsche. Man muss Antworten geben, statt aus Angst vor Rechtspopulisten gar nichts mehr zu tun. Daher ist es richtig, dass die Kommissionsvorschläge beinhalten, gerade die Lausitz zu unterstützen: Beschäftigungssicherung wie beim Steinkohleausstieg und zudem Ausbau der Bahn, Unterstützung der Zulieferer, regionale Wirtschaftsförderung. Leider hatten die ostdeutschen Ministerpräsidenten nicht den Willen darüber hinaus für Planungssicherheit zu sorgen. Auch das muss nachgebessert werden. Für Brandenburg heißt es, es dürfen keine weiteren Dörfer mehr abgebaggert werden.
Dem Brandenburg-Monitor zufolge vertrauen 86 Prozent aller Befragten den Parteien nicht mehr. Was ist da schiefgelaufen?
Viele zweifeln daran, ob die Politik die großen, globalen Herausforderungen in den Griff bekommt. Sie erleben, dass der Buchladen um die Ecke zumachen muss, weil er nicht mehr mithalten kann im Wettbewerb mit dem Digitalkonzern, der viel geringere Steuersätze zahlt. Die Bundesregierung und Finanzminister Olaf Scholz haben sich bisher gesträubt, den Vorschlag der Europäischen Kommission zur öffentlichen Steuertransparenz globaler Unternehmen zu unterstützen. So ist der Eindruck entstanden, dass die großen Unternehmen die Spielregeln vorgeben, nicht mehr die Politiker, die eigentlich dazu gewählt worden sind. Wir müssen versuchen, den globalen Kapitalismus einzuhegen. Es geht darum, dass die soziale Marktwirtschaft auch sozial ist.
Viele Menschen sehen dem Monitor zufolge in Zuwanderung und Integration das zentrale Problem. Sind Sie deshalb für schnellere Abschiebungen?
Mein Eindruck aus vielen Gesprächen ist, dass es die Menschen stärker umtreibt, ob sie sich ihre Wohnung noch leisten können oder ob es vor Ort noch einen Arzt gibt. Aber klar ist Integration eine Herausforderung und verlangt Arbeit. Und zu einer humanen und geordneten Flüchtlingspolitik gehört auch, dass es schnellere Asylverfahren und Rückführungen geben muss – da wo Menschen wirklich ausreisepflichtig sind, da differenziere ich sehr deutlich. Das ist aber nur möglich, wenn zum Beispiel die vielen leeren Richterstellen endlich besetzt werden.
Die AfD will den Wahlkampf in die Dörfer tragen. Können Sie da gegenhalten?
Ich finde es falsch, sich an der AfD abzuarbeiten. Wir sollten uns mehr damit beschäftigen, warum Menschen nicht zur Wahl gehen. Und man sollte sich das auch mal genauer anschauen, was die wirklich machen. Von den fünf Brandenburger AfD-Bundestagsabgeordneten hat kein einziger ein eigenes Wahlkreisbüro im Land, abgesehen vom Sammelbüro in Cottbus. So viel zur angeblichen Bürgernähe. Das Geld geht offensichtlich woanders hin.
Was würde es für die Chancen von Schwarz-Grün im Bund bedeuten, wenn die CDU im Osten mit der AfD koalierte?
Die CDU hat einstimmig – mit den Stimmen der Delegierten aus den ostdeutschen Bundesländern – Koalitionen mit der AfD ausgeschlossen. Da nehme ich die Partei beim Wort, namentlich die Parteichefin und die Kanzlerin. Alles andere wäre ein Dammbruch für die Demokratie und den Rechtsstaat – Österreich zeigt das. Das muss den Verantwortlichen in der Union klar sein.
Das Interview führten Cordula Eubel und Felix Hackenbruch.
Zur Person: Annalena Baerbock wurde 1980 in Hannover geboren. 2005 trat sie bei Bündnis 90/Die Grünen ein. Seit dem 27. Januar 2018 ist sie Bundesvorsitzende der Grünen und bildet gemeinsam mit Robert Habeck eine Doppelspitze. Politisch wird sie dem „Realo“-Flügel ihrer Partei zugeordnet. Von 2009 bis 2013 war sie Vorsitzende des Landesverbands Brandenburg.
Die studierte Völkerrechtlerin Baerbock ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. Ihr Wahlkreis ist der Wahlkreis 61 Potsdam, Potsdam-Mittelmark II, Teltow-Fläming II. Bei der Bundestagswahl im Vorjahr holte sie dort acht Prozent der Stimmen. Nach der Bundestagswahl 2017 war sie Mitglied des Sondierungsteams der Grünen in den Gesprächen mit CDU/CSU und FDP und Koordinatorin der Sondierungsgruppe Europa und Mitglied der Gruppe Klima und Energie.
Baerbock lebt mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in Potsdam.