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Gedenkfeier für Opfer der Neonazis: Wunden und Worte

Genau so hatten sie es sich vorgestellt. Auf der Gedenkfeier für die zehn Opfer des Nazi-Terrors machen die Familien ihren Frieden mit einem Land, in dem sie selbst lange als mögliche Täter galten. Kanzlerin Merkel bat sie um Verzeihung dafür. Das wollten die Angehörigen hören.

Die Anspannung ist aus ihrem Gesicht gewichen, und das Kribbeln, das sie den ganzen Tag verfolgt hatte, fühlt sich jetzt anders an. Gamze Kubasik streicht über ihren Bauch und sagt: „Ich glaube, ich habe Hunger.“ Es ist 13.06 Uhr, als die Tochter von Mehmet Kubasik, der am 4. April 2006 in Dortmund mutmaßlich von der rechten Terrorzelle erschossen wurde, im Türkischen Haus an der Urania ankommt. Der türkische Botschafter hat die Angehörigen von Opfern der rechtsterroristischen Mordserie nach der staatlichen Trauerfeier im Konzerthaus hierher zum Essen eingeladen.

Als Überraschungsgast taucht der künftige Bundespräsident Joachim Gauck auf, der aber schnell versichert, dass er nur als Bürger hier sei, als Vorsitzender der Vereinigung gegen das Vergessen, die „für ein Deutschland eintrete, das gegen rechte Gewalt aufsteht“.

Gamze Kubasik hat nicht gehört, was Gauck gesagt hat, sie ist froh, dass sie jetzt endlich gemeinsam mit ihrer Familie an einem der festlich geschmückten Tische Platz nehmen darf. Gleich werden die Türen zugehen, alle Medien werden weg sein und die Familien unter sich.

Gamze Kubasik hat nichts gegen Öffentlichkeit. Sie hat so viele Jahre darauf gewartet, dass sie dieser Öffentlichkeit, die ihr viele Jahre so gleichgültig erscheinen musste, mitteilen kann, was sie durchgemacht haben. Nun ist es ein Staatsakt vor 1200 geladenen Gästen geworden, live übertragen. Jetzt, wo alles vorbei ist und der Magen knurrt, sagt Gamze Kubasik: „Es war gut, es war so, wie wir uns das vorgestellt haben. Und wir nehmen die Entschuldigung von Frau Merkel an.“

Knapp drei Stunden zuvor hatte Gamze Kubasik gemeinsam mit der Tochter des ersten Opfers der Mordserie, Semiya Simsek, in der ersten Reihe des Konzerthauses am Gendarmenmarkt gesessen. Immer wieder haben die beiden sich kurz angeschaut, haben ein paar leise Worte gewechselt und gescherzt, um sich gegenseitig im Kampf gegen die Tränen zu unterstützen. Dieser Staatsakt erzählt natürlich eine Geschichte über alle Familien und Opfer, aber Gamze Kubasik und Semiya Simsek haben dafür gesorgt, dass sie aktiv miterzählen können. Die beiden Töchter waren die Einzigen, gemeinsam mit dem Vater des am 6. April 2006 in Kassel erschossenen Halil Yozgat, die die Kraft hatten, in den letzten Jahren in die Öffentlichkeit zu gehen und auf ihre Fälle aufmerksam zu machen.

„Dein Vater hätte nicht sterben müssen“, mit diesen Worten begann ihre Freundschaft. Und damals, im Sommer 2006, als Semiya Simsek diesen Satz auf einer Demonstration gegen Fremdenhass zu Gamze Kubasik sagte, war ihnen noch gar nicht so ganz klar, wie richtig er war. Als am 9. September 2000 Enver Simsek mit acht Schüssen an seinem Blumenstand in Nürnberg regelrecht hingerichtet wurde, versprach die Polizei, in alle Richtungen zu ermitteln, nur der Weg in Richtung rechter Terror und Fremdenhass blieb unbeschritten.

Als Gamzes Vater und Ismail Yozgats Sohn erschossen wurden, waren sie, das weiß das Land seit November, die letzten Opfer ausländischer Herkunft, sieben weitere Menschen waren vor ihnen getötet worden, und die Polizistin Michèle Kiesewetter sollte noch folgen. Aber „die Einzigen, die an einen rechtsextremen Hintergrund glaubten, waren wir“, haben Simsek und Kubasik immer wieder betont und damit gleich erklärt, warum sie nach Bekanntwerden der rechten Terrorzelle den Glauben „an diesen Staat verloren haben“. Sie mussten stattdessen mit Verdächtigungen und falschen Ermittlungen leben, und die Hauptverdächtigen waren Familienmitglieder – etwa die Mütter von Semiya und Gamze oder Ismail Yozgat selbst, der Vater von Halil, dessen Sohn in seinen Armen verblutet war.

Das Netzwerk des braunen Terrors.
Das Netzwerk des braunen Terrors.
© Foto/ Tagesspiegel/Frank Jansen

Längst hat sich das Konzerthaus gefüllt, Schüler haben zwölf Kerzen hereingetragen – zehn für die Opfer, eine für die Hoffnung und eine weitere für unbekannte Opfer. Acht von den zehn betroffenen Familien sind mit Angehörigen gekommen. Als die Bundeskanzlerin, die neben Ismail Yozgat sitzt, aufsteht und zum Rednerpult geht, ein paar Treppenstufen hoch, vorbei an dem Tisch mit den Kerzen, sitzt Gamze Kubasik aufrecht und unbeweglich, die Hände an ihr Programmheft geklammert. Die Angehörigen sagen, dass sie dem zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff vertraut haben, weil er zugehört und auch verstanden habe, was ihnen wichtig sei. Umso wichtiger ist es ihnen nun, dass Angela Merkel die für sie entscheidenden Dinge anspricht.

Merkel erinnert an alle Getöteten, als sie Gamzes Vater erwähnt, verharrt die Tochter in ihrer starren Haltung, später wird sie sagen, dass das ein Moment war, in dem sie wusste, „jetzt könnte ich losheulen“. Als Merkel erwähnt, dass die Familien „zu Unrecht unter Verdacht“ standen, und sagt, „dafür bitte ich Sie um Verzeihung“, nicken sich beide Töchter kurz zu. Diese Entschuldigung wollten sie hören, und sie wollten hören, dass Merkel ihnen „Aufklärung“ verspricht.

Sie wissen genau, was es bedeutet, Hass zu fühlen

Einen Tag zuvor sitzen Gamze und Semiya gegen 17 Uhr alleine in der schmalen Lobby des Scandic-Hotels am Potsdamer Platz, vor ihnen liegt die Rede, die Semiya halten wird. Sie sind nervös, aber gleichzeitig freuen sie sich auf den Tag, „weil wir endlich eine Plattform haben, um zu sagen, wie es uns erging“. In den Tagen vor der Gedenkveranstaltung hatten sie unzählige Anfragen von Medien aus dem In- und Ausland, sogar ein Drehbuchschreiber war darunter, der die Geschichte von Semiya Simsek verfilmen will. Aber sie haben allen abgesagt, sie brauchten ihre Ruhe, sie kichern kurz wie zwei Teenager, „wir sind vorhin kurz shoppen gegangen“.

Aber jetzt ist keine Zeit mehr für Zerstreuung, jetzt redet bereits Ismail Yozgat, obwohl das offizielle Programm des Bundespräsidialamts ihn gar nicht vorsah. Es gab ein wenig Ärger deshalb, weil Ismail Yozgat sich das Reden nicht verbieten lassen wollte. Aus dem Umfeld der Familien war zu hören, dass eben nicht immer alles nur nach einem Plan funktionieren könne, „Emotionen gehören auch dazu.“

Als Yozgat redet und eine Dolmetscherin übersetzt, kann jeder sehen, was der gewaltsame Tod eines geliebten Menschen mit den Hinterbliebenen macht. Yozgat bedankt sich sichtlich gerührt bei allen Beteiligten, bei der Bundeskanzlerin, aber vor allem bei Christian Wulff, der die Idee zu dieser Veranstaltung hatte, „wir sind seine Gäste, wir bewundern ihn“, sagt Yozgat. Er versichert, dass seine Familie kein Geld wolle, sondern andere Wünsche habe: Man möge bitte die Verantwortlichen fassen und alles aufklären. Als er endet, wird endlich geklatscht im Saal, der Applaus durchbricht die Etikette des Stillseins, das tut der Feier gut. Dann ist es an Semiya und Gamze, die Bühne zu betreten.

Seitdem sie sich kennen, sind sie wie Schwestern, die sich ergänzen, die eine, die einfach drauflosplappert, und die andere, die immer ein bisschen länger braucht, um sich zu trauen. Semiya Simsek hat die Rede gemeinsam mit ihrem Anwalt Jens Rabe geschrieben, sie haben bis nachts um drei Uhr daran gearbeitet, sie wollte etwas von ihren Gefühlen preisgeben, wollte von ihrem Vater berichten und wollte trotzdem auch aufmunternde, positive Worte finden. Und so steht sie da und erzählt, wie der Vater mit ihr in der Türkei nachts lauschte, wie die Schafe aus den Bergen kamen, was sie mit ihm erlebte und wie sie elf Jahre lang aufgrund der Verdächtigungen niemals mit reinem Gewissen trauern konnte.

Gamze steht dicht neben ihr, ganz in Schwarz gekleidet, während Semiya eine blaue Bluse trägt.

An dem Tag, als Gamzes Vater erschossen wird, muss sie erst später zur Schule. Sie weckt den Vater, um ihm zu sagen, dass sie den kleinen Bruder zur Kita bringen kann. Dann geht sie, und als sie wieder aus der Schule zurückkommt, will sie in den Laden gehen, in dem der Vater arbeitet, wie immer. Die Eltern haben sich den Kiosk aufgebaut, nachdem sie Anfang der 90er Jahre aus dem südostanatolischen Antep nach Dortmund gekommen waren. Das Geschäft war klein, aber sie waren stolz darauf, unabhängig zu sein, es ernährte sie. Gamze sieht schon von Weitem die Lichter der Polizei, dann fragt sie ein Polizist, wo sie hinwill. Von nun an beginnt ein Albtraum. Zum Vater, antwortet sie, aber der Polizist nimmt sie mit. Es folgen Verhöre, stundenlang, über Tage und Wochen, und immer Fragen, nach Feinden, Drogen, der Mafia.

Diese Erfahrungen verbinden alle Angehörigen bis hin zur Familie der Polizistin Michèle Kiesewetter, die am 25. April 2007 in Heilbronn mit Kopfschüssen getötet wurde. Die rührendste Szene des Tages spielt sich deshalb auch nach dem Festakt ab, in einem Nebensaal, wo Semiya Simsek und Gamze Kubasik sich rund 20 Minuten mit der Bundeskanzlerin unterhalten. Aber danach kommt plötzlich ein Mann in Marineuniform auf die beiden Töchter zu. Es ist ein naher Verwandter von Michèle Kiesewetter. Noch nie haben sich die Angehörigen beider Familien gesehen, er schüttelt beiden die Hand und bedankt sich für die Rede, in der sie sich als Familie mit ihren eigenen Erfahrungen wiederfinden könnten. Dann reden beide Töchter mit der Mutter der getöteten Polizistin.

Vor der Trauerfeier haben Gamze Kubasik und Semiya Simsek einmal ihre Gefühle beschrieben, sie haben offen zugegeben, dass sie nun genau wissen, was es bedeute, Hass zu fühlen. Aber da oben auf der Bühne, vor diesem hochoffiziellen Publikum, vor den Ministerpräsidenten der Bundesländer und den übrigen obersten Staatsorganen, sagt Semiya Simsek, alle seien aufgefordert zu verhindern, dass sich eine solche Tragödie wiederholen könne.

„Wir alle gemeinsam, alle zusammen, das kann die Lösung sein“, sagt sie, und es hört sich ein bisschen an wie Merkels Satz „Deutschland sind wir alle“. Gamze Kubasik spricht die letzten Worte, Zeilen aus einem Gedicht des türkischen Dramatikers Nazim Hikmet. „Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.“ Hass ist nicht zu spüren an diesem Tag bei diesen beiden Hinterbliebenen, sie haben ihn in sich vergraben, ihr Wunsch lautet Versöhnung mit „unserem Deutschland“, wie sie es formulieren.

Armin Lehmann

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