Die Familien der NSU-Mordopfer: Vom langen Weg zurück in die Gesellschaft
Falsche Verdächtigungen haben den guten Ruf der Familien zerstört, die Öffentlichkeit weiß nichts vom täglichen Kampf der Hinterbliebenen. Und dann tritt auch noch der Bundespräsident zurück, dem sie vertraut haben. Was haben die Angehörigen durchgemacht?
Was haben die Familien nach den Morden erlebt?
Die Geschichte der betroffenen Familien und Angehörigen ähnelt sich vor allem in einem Punkt: Die Verdächtigungen führten nicht nur zum Verlust der sozialen Kontakte, sondern oftmals auch zur Zerstörung des familiären Zusammenhalts. Falsche Verdächtigungen gingen meist tagelang durch die Medien, entweder es waren Blumenschmuggler, Drogendealer, die Türken-Mafia, die Wettpaten oder Internet-Kriminelle. Als der Grieche Theodoros Boulgarides in München ermordet wurde, titelte eine Zeitung: „Türken-Mafia schlug wieder zu.“ Viele Angehörige beschreiben, dass sie den Reflex im Kopf hatten, nur nicht auszusprechen, dass es Neonazis gewesen sein könnten. Aus Angst vor Auseinandersetzung und Diffamierung. Aber die Verdächtigungen führten in den Familien auch dazu, dass man innerlich zerrissen war. Einerseits wusste man von der Unschuld der eigenen Familie, des eigenen Vaters, Bruders oder Sohnes, andererseits hatte man ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Toten, weil man manchmal doch glaubte, es gäbe einen kriminellen Hintergrund. Ein Bruder sagt, er habe irgendwann selbst geglaubt, dass „wir Feinde haben“.
Sehr viele Familien beklagen einen Mangel an Empathie der Ermittler oder Behörden für die Hinterbliebenen. Allein die Verhörmethoden der Polizei haben tiefe Wunden geschlagen. Eine Ehefrau wischte, nachdem die Spurensicherung durch das Geschäft des Ehemanns gegangen und sie verhört worden war, am Ende mit einem Wischmopp das Blut und die Gehirnteile des toten Mannes weg. Sie fand sogar Patronenhülsen, die Polizei hatte sie wohl vergessen.
Ein Vater, der seinen Sohn noch im Arm hielt und ihn verbluten sah, wurde direkt vom Tatort auf die Polizeistation gebracht und verhört. Trotz dieser Schilderungen ist die Polizei sehr sensibel, wenn es um die Kritik an ihren Ermittlungsmethoden geht. So hat sich der Opferbeauftragte der Kölner Polizei beispielsweise bei der Ombudsfrau der Bundesregierung, Barbara John, darüber beschwert, dass diese in Fragebögen die Familien gefragt habe, wie die Polizei mit ihnen umgegangen sei. Auch im Fall der getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter spielten falsche Verdächtigungen eine fatale Rolle. Nachdem BKA-Chef Jörg Ziercke öffentlich von einer „Beziehungstat“ sprach und andeutete, dass die Polizistin das Trio gekannt haben könnte, erlebte die Familie Tage wie Albträume. Verwandte trauten sich nicht mehr nach Hause, weil überall die Presse wartete, Kamerateams, Fotografen, Reporter. Auch hier hatte ein unmöglicher Verdacht in Rekordzeit die Ehre einer ganzen Familie untergraben.
Generell ist Barbara John davon überzeugt, dass die Familien, weil sie Opfer waren und Täter sein sollten, ihr soziales Umfeld verloren haben. Angehörige wandten sich ab, zerstritten sich, verdächtigten selbst andere Angehörige, manche Verwandte durften nicht einmal bei der Beerdigung dabei sein, Kindern wurde das Erbe verweigert. Der familiäre Zusammenhalt, quasi als letzte Reißleine, sagt Barbara John, sei kaputtgemacht worden.
Wie wird geholfen, was machen die Anwälte?
Welche Hilfe haben die Familien bekommen, nachdem im November 2011 die Existenz der rechten Terrorzelle bekannt wurde?
Konkret gab es nun die Möglichkeit, Geld aus dem Opferentschädigungsgesetz zu bekommen. Den unmittelbaren Verwandten, also Kindern und Ehepartnern, stehen bis zu 10 000 Euro zu. Bisher waren die Großeltern davon ausgeschlossen, Barbara John setzt sich dafür ein, dass sich dies ändert. Sie sagt allerdings: „Die Summe an sich ist viel zu gering.“ Zum Vergleich verweist sie auf die Opfer des verunglückten Kreuzfahrtschiffs „Costa Concordia“, wo jeder, der auf dem Schiff war, 11 000 Euro erhalten soll. John setzte sich auch erfolgreich dafür ein, dass die Bestattungskosten der Familien vom Staat übernommen werden, denn alle Familien haben Überführungen in die Heimat oder Beerdigungskosten selbst gezahlt. Anwaltskosten werden bisher nicht vom Staat übernommen, was allein ein bürokratisches Versäumnis ist, denn über die Beiordnung als Opferanwälte wäre das möglich. Die meisten Anwälte arbeiten seriös und bisher oft ohne Bezahlung, allerdings gab es auch Fälle, wo Anwälte die Opferhilfe beantragt haben und von dem Geld auch die Anwaltskosten bezahlt werden mussten. Allein für die Antragstellung für den Mandanten wurden 700 Euro in Rechnung gestellt. Dass auch getrickst wird, macht eine Episode deutlich: Ein Anwalt meldete sich bei Barbara John im Auftrag seines Mandanten, der Betroffene wiederum wunderte sich und sagte zu ihr: „Ich habe doch gar keinen Anwalt.“
Seit Anfang des Jahres hat die Bundesregierung mit der ehemaligen Berliner Ausländerbeauftragten eine Ombudsfrau eingeschaltet. Allerdings lastet die gesamte bürokratische Arbeit auf den Schultern der 74-Jährigen, die nicht einmal ein offizielles Büro besitzt, geschweige denn Sekretariat oder Mitarbeiter. Die Bundesregierung hat quasi alle Verantwortung auf John abgeschoben, die nun sehen kann, wie sie zurechtkommt und auf deren Briefköpfen zurzeit noch die Adresse des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes steht, für den sie ehrenamtlich arbeitet. Mittlerweile hat sie Hunderte von Briefen und Mails geschrieben, ist alleine zur Post marschiert, hat Anträge gestellt, Telefonate geführt, sich mit Behörden gestritten, und immer wieder hat sie die Erfahrung gemacht: Das Schicksal dieser Menschen verschwindet in den Mühlen der vielen Zuständigkeiten.
Ein Familienangehöriger hatte seinen Pass verloren, aber ohne Pass kam er nicht aufs Arbeitsamt, um sein Anliegen vorzutragen, auch auf anderen Ämtern wurde er abgewiesen. John tätigte unglaubliche 45 Anrufe, von der Ausländerbehörde über Botschaft, Jobcenter, allein um diesem Mann zu helfen. Sie sagt: „Ich schwanke manchmal zwischen Empörung und Arbeitswut.“ Ihre Arbeit reicht weit hinein in die Lebensbereiche der Familien: Sie sucht psychologische Betreuung, hilft bei der Wohnungsfindung, fragt bei Behörden an für Umschulungen, Umzüge, Bewerbungen und versucht, Kindern den Weg für die doppelte Staatsbürgerschaft zu ebnen. Aber es werden immer mehr Details, bei denen sie um Hilfe gefragt wird.
Können die Opferanwälte ihre Arbeit machen?
Zunächst machen sie ihre Arbeit in den allermeisten Fällen sehr professionell und engagiert, sie haben sich sogar zu einem gemeinsamen Austausch in Berlin getroffen. Aber auch sie würden sich wünschen, besser in den Informationsfluss der zuständigen Stellen integriert zu werden. Bisher haben die Anwälte nur wenig Aktenmaterial zur Verfügung gestellt bekommen, das liegt auch daran, dass die 1400 Aktenordner der Mordserie noch nicht vollständig bei der Bundesanwaltschaft zentralisiert wurden. Was bisher noch völlig unklar ist: Wann es zu einem Prozess gegen Beate Zschäpe oder andere kommen könnte. Normalerweise sieht das Gesetz bei Untersuchungshaft nach sechs Monaten Anklage und Verhandlung vor, allerdings gibt es in besonders schweren Ermittlungsfällen Ausnahmen. Vor Ende dieses Jahres wird nach Expertenansicht nichts passieren. Anwalt Jens Rabe, der die Familie Simsek vertritt, sagte dem Tagesspiegel: „Meine Erfahrung als Opferanwalt ist, dass sich die Betroffenen vor allem wünschen, dass es ein Verfahren und eine öffentliche Verhandlung gibt. Und natürlich, dass die Taten aufgeklärt werden.“
Spielt der Alltagsrassismus für die Familien eine große Rolle?
Die meisten waren vor den Morden nicht konfrontiert mit diesen Erfahrungen. Experten aber gehen davon aus, dass der fremdenfeindliche Hintergrund der Taten nicht mehr aus dem Gefühlsleben der Betroffenen verschwinden wird. Nach den rassistischen Überfällen 1992 und 1993 in Mölln und Solingen beobachtete die Psychotherapeutin Esin Erman, dass die „türkische Gemeinde in Deutschland in der Kontinuität dieser mörderischen Anschläge lebt. Das Gefühl, das kann wieder passieren, ist präsent“. Das chronische Empfinden von Verunsicherung, sagt die Vizevorsitzende der Gesellschaft für Türkischsprachige Psychotherapie (GTP), blockiere die Menschen im Alltag. Viele Türken würden die Mordserie deshalb eher als „bittere Bestätigung“ ansehen. Dass die Familien als Tatverdächtige galten, passt dabei in die Erfahrungswelt vieler Migranten, wo „Konflikte auf das Ausländersein reduziert werden“. Erman sagt, „deshalb brauchen wir dringend eine Debatte über den täglichen Rassismus“. Aus dieser Sicht ist die „Anpassungsleistung“ der Migranten „riesig“, findet Erman, die selbst vor 34 Jahren als Grundschülerin in Berlin-Buckow täglich mit dem „Hitlergruß“ empfangen wurde. „Ich dachte, das sei normal“, sagt sie.
Fällt durch den Rücktritt des Bundespräsidenten ein Schatten auf die offizielle Gedenkveranstaltung am kommenden Donnerstag?
Aus Sicht der Angehörigen nicht. Allerdings finden es einige schade, dass Wulff nicht sprechen wird. Das erste Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit dem Bundespräsidenten hat allen sehr gefallen und ihnen gutgetan. Wulff habe zugehört, sie konnten berichten. Dass nun die Bundeskanzlerin spricht, begrüßen die Familien, und auch Barbara John findet es richtig und angemessen. Sie erwartet nun, dass sich Merkel bei den Opfern und Angehörigen entschuldigt und sie damit den „guten Ruf der Familien wiederherstellt, den diese durch falsche Verdächtigungen verloren haben“. Gleichzeitig warnt sie davor, die Gedenkveranstaltung „als eine Art Schlusspunkt zu sehen, denn dann geht die Gleichgültigkeit weiter“. Zudem müssten die Angehörigen besser informiert werden, alle Familien haben beispielsweise von der Existenz der Terrorgruppe erst aus der Zeitung erfahren. John hat deshalb einen Brief an den Generalbundesanwalt geschrieben, mit der Bitte, den Angehörigen mehr Informationen zukommen zu lassen.
Im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt werden 1400 Gäste erwartet, die ursprünglich der Bundespräsident offiziell geladen hat. Neben Merkel werden auch Angehörige reden. John findet: „Die Opfer müssen Akteure werden, und wenn es nur darum geht zu sagen, was sie empfinden.“ Armin Lehmann