Rechte auf den Straßen: Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?
Im Osten des Landes häufen sich die fremdenfeindlichen Aufmärsche. Warum? Unsere Autorin kehrt zurück in eine Heimat, die ihr fremd geworden ist.
Wenn vor dem „Sonnenblumenhaus“ eine Fremde steht und Leute anspricht, gehen bei den Einheimischen die Alarmglocken an. Am Vormittag sind hier in Lichtenhagen, dem Plattenbauviertel zwischen der Rostocker Innenstadt und der Ostsee, vor allem Rentner unterwegs, ein paar Mütter schieben Kinderwagen durch den Supermarkt. Die Vorgärten sind geharkt, die Wohnblocks saniert und in freundlichen Farben gestrichen. Ein Idyll.
Wenn es da nicht diese Erinnerungen gäbe, an damals, 1992, als die Nachbarn hier dem rechten Terror zusahen, als sie applaudierten, statt Menschlichkeit zu zeigen. Als es brannte und grölte und die Staatsmacht ihr Gewaltmonopol den Gewalttätern überließ.
„Ging ja auch nich so weiter“, murmelt ein alter Mann, der sich die Füße vor Hausnummer 19 in der Mecklenburger Allee vertritt. Er wohnt hier fast sein ganzes Leben lang. In jenen Augustnächten war er dabei, nachdem die Ausländerbehörde die freien Wohnungen mit Asylbewerbern gefüllt hatte. „Selbst auf de Wiese ham se kampiert, die Zigeuner.“ Die rechten Randalierer seien damals „zugereist“, sagt der alte Mann.
Warum die Nachbarn nicht eingeschritten sind? „Gehn se ma runter und machen was, wenn die mit Flaschen werfen und nirgendwo Polizei zu sehen ist!“ Dann tritt eine Frau, vielleicht Mitte 50, eilig aus der Haustür und ruft den Mann hinein. Sie wisse schon, sagt sie scharf, weshalb ich hier bin: „Wegen Chemnitz. Aber wir sagen nichts, lassen Sie uns endlich in Ruhe, wir wollen unseren Frieden.“
Selten scheinen Ruhe und Frieden in der Bundesrepublik Deutschland ferner als in diesen Tagen, wo die rechten Arme wieder durchgedrückt und in die Luft gestreckt werden. In Chemnitz, in Köthen und Halle, wo den Leuten wieder der Hass ins Gesicht geschrieben steht. „Deutschland den Deutschen“, brüllen sie und es trifft mich mitten ins Herz. Weil ich mich in meiner eigenen Heimat als Fremde fühle. Schon wieder.
26 Jahre liegen zwischen dem August ’92 in Rostock und heute – und ich habe die gleichen Fragen: Warum taucht vor allem im Osten Deutschlands immer wieder dieser Nazi-Spuk auf, woher kommt diese Wut? Und vor allem: Warum stellen sich tausende Frauen und Männer, die meine Nachbarn sein könnten, denen ich beim Bäcker begegne oder vielleicht im Bürgeramt, in eine Reihe mit Rassisten? Weshalb schauen so viele weg, wenn zur blindwütigen Jagd auf Menschen angesetzt wird?
Aufgewachsen in der DDR
Fast ein Drittel der Ostdeutschen bekennt, bei den Landtagswahlen nächstes Jahr ihre Stimme der AfD geben zu wollen. Einer Partei, in der Flüchtlinge „Messermänner“ genannt werden, die offen vom „Systemwechsel“ spricht. Das ist ein Zeichen dafür, wie weit die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft bereit ist, sich aus dem demokratischen Konsens des Landes zu verabschieden.
Ich habe mich aufgemacht in diesen Tagen. Nach Dresden, Chemnitz, Limbach-Oberfrohna. Habe meinen Geburtsort Ohrdruf besucht. Eine Kleinstadt in Thüringen, dem Bundesland, in dem Björn Höcke wohnt und wo Rechtsextreme Immobilien kaufen, ihre Bunker des Völkischen darin einrichten, und die Truppen sammeln sich zu Festivals des blutigen Liedes. Und ich war in Rostock, um von den Erinnerungen an 1992 zu erfahren und zu hören, wie die Menschen heute darüber denken. Eine Reise durch mein wütendes Ostdeutschland, auf der Suche nach Erklärungen und Antworten auf immer die gleiche Frage: Warum?
Ich bin ein Kind der DDR, Jahrgang 1963, in den 70ern in Thüringen zur Schule gegangen, habe in Dresden studiert. Als 1992 die Stiefel in Rostock auf den Asphalt knallten und Steine flogen auf Wehrlose, war ich 5000 Kilometer entfernt, saß ich in einer Zeitungsredaktion an der Park Avenue in Manhattan. Hundert amerikanische Kollegen der „New York Newsday“ hatten mich gerade erst voller Neugierde aufgenommen. So was wie mich hatten sie noch nie gesehen: ein leibhaftiger Ossi, aufgewachsen hinter Stacheldraht und selbst befreit aus der Diktatur des Proletariats. Ohne Krieg und Blutvergießen, nur mit diesen vier einfachen Worten: „Wir sind das Volk.“
Was damals geschah, die tagelange Belagerung, die in Todesangst schreienden vietnamesischen Frauen und die wutverzerrten Gesichter der Männer unten auf der Wiese, nannte man später die „Schande von Lichtenhagen“. Die „New York Newsday“ titelte „Nazis in Ostdeutschland“, und die Amerikaner sahen mich entsetzt an. Waren das die friedlichen Revolutionäre, von denen ich erzählt hatte? „Ist das dein Volk? Da war es mir zum ersten Mal fremd geworden.
In Ohrdruf aufzuwachsen, in den Sechzigern und Siebzigern, das bedeutet, die DDR erfahren zu haben. Die Häuser grau, die Fenster zugig und der Braunkohlenteer auf den Straßen so weich, dass die Schuhe im Sommer daran kleben blieben. Morgens um sechs zogen die Ohrdrufer an ihre Werkbänke, an die Webstühle oder sie standen am Bahnhof, um nach Gotha, die nahe Kreisstadt, zur Arbeit zu fahren. Ein mühevoller Alltag zwischen Kohleöfen und der Kunst, der Mangelwirtschaft dann und wann ein paar Bananen oder ein Ersatzteil für den Trabi abzutrotzen.
Aber zugleich auch Normalität. Wir Kinder spielten auf dem Markt, erbettelten Wurstzipfel beim Fleischer und verbrachten unsere Nachmittage im Freibad. Und manchmal sonntags ging die Familie zu „Acken“, dem feinen Café zwischen dem Kino und der Post. Hier roch es nach Likör, und elegante Damen servierten Obstkuchen mit silberfarbenen Gäbelchen. Treffpunkt für Alt und Jung, Ort von Bürgerlichkeit und Gemeinschaft.
Ohrdruf in der Gegenwart
Der Mann, der den Kuchen zuletzt gebacken hat, ist heute weit über sechzig. Sein Café konnte er mühelos über die Wendezeiten retten. Doch irgendwann versagten auch ihm die Kräfte, er hat lange einen Nachfolger gesucht. Vergeblich. Vor ein paar Wochen machte das Café zu. Die Tür ist verschlossen, die Rollläden sind unten.
Das Erbe der Nachwendezeit ist in Ohrdrufs Zentrum noch immer zu spüren. Der Aufschwung ist fragil, die Menschen sind verunsichert. Weil die Kaufkraft gering und Aldi nah ist, lohnt es sich für Bäcker und Fleischer nicht mehr. Dunkle Schaufenster prägen die kleine Innenstadt. Die Jungen ziehen nach wie vor fort. Zurück kommt kaum einer. Das Krankenhaus mitten in der Stadt ist jetzt ein Altersheim.
Über den Marktplatz eilt ein älterer Mann, kariertes Hemd, blaue Hose, schwere Ledertasche über der Schulter. Er ist Elektriker, wie sich später herausstellt, eigenes kleines Unternehmen, eine Handvoll Angestellte. Darf man ihn fragen, wie es so geht? Skeptischer Blick, „wozu soll das gut sein?“ Ein Kommunalpolitiker, die Apothekerin, ein Straßenhändler, der aus seinem Lieferwagen heraus Klamotten verkauft: Niemand möchte gern mit einer Journalistin reden, sie fürchten zugespitzte Schlagzeilen und aus ihrer Sicht oberflächliche Urteile. Schon gar nicht wollen sie ihre Namen in der Zeitung lesen. „Versprochen?“, fragt der Elektromeister und ist dann bereit zu erzählen.
Vor der „Wende“ habe er in einem der Betriebe in der Umgebung gearbeitet. Gleich nach dem Fall der Mauer sei er entlassen worden. Der Elektromeister machte sich selbstständig, schrieb sich bei der Handwerkskammer ein. Seither hangelt er sich von Auftrag zu Auftrag. Mal ist die Arbeit knapp, dann ist es wieder so viel, dass er nicht weiß, wie er hinterherkommen soll. Seine Frau schreibt die Rechnungen, er die Angebote, abends wird es meistens spät.
Auch in Ohrdruf wussten die wenigen Betriebe am Ort zu Beginn der neunziger Jahre zunächst nicht mit der neuen Marktwirtschaft umzugehen. Woher sollten sie auch? Jahrzehntelang hatten „die Genossen da oben“ in Berlin bestimmt, was zu produzieren war. Wirtschaft in der DDR, das war die systematische Ausrotten von Selbst-Bestimmung und Selbst-Behauptung, die eine ganze Generation Ostdeutscher prägte. Man lernte, dass der Staat allmächtig ist und das alltägliche Leben am besten funktioniert, wenn man sich zurückzieht ins Private.
Für „den ganzen Politikquatsch“, sagt der Elektromeister, habe er keine Zeit. Wenn einer seiner Leute kündigt, weil er anderswo ein paar Euro mehr verdient, steht gleich seine eigene Existenz auf dem Spiel. Wie soll er den nächsten Auftrag abarbeiten, woher Ersatz finden? Die Zeit seiner Selbstständigkeit war wohl zu kurz, um Rücklagen zu bilden, und zu hektisch, um sich Gedanken zu machen darüber, wie man die Firma erfolgreich entwickelt. Woher er dann auch noch die Kraft nehmen soll, sich gegen das Schimpfen in seiner Nachbarschaft über die Flüchtlinge zu stemmen, fragt der Mann entrüstet.
Leben mit kleinem Einkommen
Wird auch er die AfD wählen? Sein Blick geht zu Boden. „So geht’s ja nicht weiter mit den Migranten.“
So einfach klingt der Befund, so verständlich sind die Sorgen. Doch wer hat sie wirklich gehört, wer hat sie ernst genommen, in der Politik? Die politische Mitte in Ohrdruf, das sind 20 Sozialdemokraten, ein paar mehr von der Union und den Linken. Die anderen, Handwerker, Ingenieure, Händler, wollen mit Politik nichts zu tun haben. Fadenriss zwischen oben und unten.
Wo immer ich in diesen Tagen mit den Menschen spreche, in Ohrdruf, in Sachsen oder in Mecklenburg, schwingt Bitterkeit mit und eine Enttäuschung über die Politik, in der kaum noch Platz zu sein scheint für Gespräche über einen Ausweg. „Wir sind das Volk“ klingt wieder nach Wutausbruch gegen die eigene Regierung.
Womöglich sind Menschen, die oft und lange Zeit mit kleinen Einkommen und ABM-Maßnahmen leben mussten, besonders sensibel, wenn sie das Gefühl haben, der Staat erfüllt seine Aufgaben nicht. Denn das wenige, was sie besitzen, gerät dadurch in Gefahr. „Für Lehrer ham se kein Geld“, schimpft der Elektromeister, ständig falle Unterricht aus. Und Polizei im Ort, die habe er schon lange nicht mehr gesehen. „Kann man ja die Mädels noch nicht mal allein zum Tanzen gehen lassen.“
Wenn es nicht genügend Lehrer gibt, wenn der nächste Polizist 30 Kilometer entfernt ist, der Bahnhof längst geschlossen wurde und Ärzte rar werden, wenn der Staat also seine Pflicht nicht erfüllt, dann fürchten sich viele Ostdeutsche vor dem nächsten wirtschaftlichen Tal und davor, dass es dann zuerst den Schwächsten an den Kragen gehen wird, ihnen im Osten, wo die ökonomische Leistungskraft noch immer weit hinter der des Westens liegt.
Doch statt dass man sich um ihre Belange und Nöte kümmert, bestimmen Flüchtlinge die öffentlichen Debatten. „Niemand hat uns gefragt, ob wir das schaffen“, sagt der Handwerker, „und jetzt sitzen wir hier mit Fremden, die unsere Sprache nicht sprechen und von denen man nicht weiß, ob und wie lange sie hierbleiben.“
Knapp am Aufschwung vorbei
5000 Einwohner, mitten in Deutschland, ganz nah zur Autobahn A4, die den Osten mit Frankfurt am Main verbindet: 1990 wähnten sich die Ohrdrufer im Zentrum eines nahenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Aber wie an so vielen anderen Orten kam es anders. Die Betriebe hatten über Nacht keine Aufträge und kein Geld.
Und dann verhökerte die Treuhand auch noch den Farbenhersteller an einen Glücksritter aus dem Iran. Der bezahlte den Kaufpreis nicht und ließ die Maschinen abbauen und in seine Heimat verschiffen. Wenn sich die Ohrdrufer an jene Zeiten erinnern, dann klingen ihre Berichte düster. „Man wusste ja nie, ob man nächsten Monat noch Arbeit hat“, sagt der Elektromeister. Und jeden Tag in den Nachrichten die Hiobsbotschaften: Wieder einer pleite im Osten.
Heute werden zwar im Gewerbegebiet „Brandt“-Zwieback und „Storck“-Schokoladen für die ganze Welt hergestellt. Der Iraner wurde schließlich zum Teufel gejagt und der ehemalige Farbenbetrieb trägt dazu bei, dass die Arbeitslosigkeit so gering ist wie in vielen Teilen Westdeutschlands. Doch die Skepsis ist geblieben. „Wie lange geht das wohl gut?“
Als ich fürchtete, es werden auch in Ohrdruf die rechten Arme fliegen, war es Winter 2015. Am Stadtrand hatte die Bundeswehr ihren Standort geräumt für eine sogenannte Erstaufnahmeeinrichtung. Tag und Nacht Busse: Syrer, Afghanen und Menschen aus anderen Teilen der Welt. Auf dem Markt Gruppen junger dunkelhäutiger Männer. Vor dem Supermarkt verschleierte Frauen mit Kindern. 5000 Einwohner, mehr als eintausend Flüchtlinge: An jeder Ecke der Stadt ein Bild von Fremdheit. Die Stadtoberen von Ohrdruf hielten die Luft an. Rentner mussten beruhigt, Händlern musste die Sorge vor Diebstählen genommen werden.
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Die Versprechungen der Nationalisten
Vom Thüringer Wald bis ins Erzgebirge, nach Limbach-Oberfrohna, sind es knapp 200 Kilometer. Man fährt an Jena vorbei, an Weimar, über das Hermsdorfer Kreuz. Vor fünfzehn Jahren traf ich hier Gitta Schüssler, eine Frau Mitte vierzig, Mutter und auch schon Oma. Gelernte Buchhändlerin, dann arbeitslos, kleine Jobs: ganz normale Biografie für jemanden aus dem Osten.
Schüssler war frustriert, sie trat in die NPD ein. Auch hier, nur ein paar Kilometer von Chemnitz entfernt, bestimmten damals der Niedergang der Wirtschaft und der Rückzug des Staates die Stimmung. Schulschließungen, Zuwanderer aus Russland: Bei Gitta Schüssler und ihren Nachbarn fielen die Heilsversprechen der Nationalisten auf fruchtbaren Boden. Die NPD-Frau zog in den sächsischen Landtag ein.
Spaziergang durch das Zentrum von Limbach-Oberfrohna: Blumengeschäfte, Restaurant, Bankfilialen, gepflegte Plätze. Die Stadtverwaltung logiert in einem schlossähnlichen Gebäudekomplex. Ein paar Ecken weiter verfallen Häuser. Man spürt, dass es noch lange dauern wird, bis Limbach-Oberfrohna so etwas wie einen „selbsttragenden Aufschwung“ erreicht haben wird. Einige Flüchtlinge leben auch hier, in der örtlichen Polizeistation sagt ein Beamter, man sei „besonders wachsam, damit es nicht zu Ärger kommt“. Gewalt, von welcher Seite auch immer, sei kein Thema. Die Zustimmung der Menschen zur AfD ist dennoch hoch.
Gleich neben der Stadtverwaltung steht auf dem Bonhoeffer-Platz die evangelische Kirche von Pfarrer Johannes Schubert. Männerstammtisch, Lady-Time, Seniorentreffen: In sein Gemeindehaus lädt Schubert die Limbacher regelmäßig zu Gesprächen und Lesungen. „Tja“, sagt er, „die Menschen fühlen sich schon sehr lange allein gelassen von der Politik.“ Dann kamen die Flüchtlinge, und noch immer hatte man nicht das Gefühl, dass jemand zuhören will.
Auch er, der Pfarrer, der sich um Flüchtlinge kümmert, bekennt, dass er manchmal Angst davor hat, in der Öffentlichkeit laut zu sagen, was er falsch und gefährlich findet an der Flüchtlingspolitik. „Man steht doch sofort in der rechten Ecke“, sagt er. Oder wird gezwungen, sich „links“ einzuordnen.
Auch ein Argument, das ich häufig höre in diesen Tagen. Frage ich, wer zu Demonstrationen geht, wenn es darauf ankommt, gegen Rassismus Flagge zu zeigen, wird abgewunken. „Bin doch kein Linker“, heißt es zur Begründung. Der Osten scheint zum Schauplatz von Auseinandersetzungen der politischen Extreme geworden zu sein. Und die Mitte der Gesellschaft, sie entscheidet sich eher für den Rückzug hinter den eigenen Gartenzaun.
"Trauermarsch" in Chemnitz
Auf der Landstraße geht es weiter nach Chemnitz. Chemnitz, wo ein Asylbewerber einen Deutschen erstochen haben soll und die Rechten innerhalb von Stunden einen „Trauermarsch“ von Tausenden organisierten, der das ganze Land zum Beben gebracht hat. Hitlergrüße, Steine auf ein jüdisches Restaurant, „Ausländer raus“-Parolen.
Das ist jetzt drei Wochen her, und Familienministerin Franziska Giffey aus Berlin hat nach ihrem Besuch in Chemnitz ein Gesetz zur Förderung von Demokratie ins Gespräch gebracht. Haben die Ostdeutschen da Nachholbedarf? Identifizieren sie sich noch immer nicht wirklich mit dem Grundgesetz?
Das Restaurant „Cortina“ im Stadtzentrum von Chemnitz ist ein Ort, an dem man sich gern trifft. Es gibt Gemüseteller, frittierte Garnelen, und schicke Schirme schützen die Besucher vor der heißen Sonne. Die arbeiten in der Umgebung, in den Banken, Kanzleien oder in der Stadtverwaltung, Leute also, die von sich sagen könnten, dass sie es „geschafft“ haben, kommen zur Mittagspause her.
Ich bin verabredet mit einem Bankangestellten, er ist Mitte vierzig, trägt Anzug und Krawatte, ist CDU-Mitglied. Und mit einer Lehrerin, Gymnasium, kurz vor der Rente. Es war nicht leicht, auch diese beiden zu einem Gespräch zu überreden. Erst die Information, dass ich in Dresden studiert habe, also „von hier“ bin, löste die Spannung. „Okay“, sagt der Banker, „dann wissen Sie ja, wie’s uns so geht.“
Auch, wenn die DDR lange zurückliegt: Sozialforscher beobachten bis heute, dass Ostdeutsche die Gemeinschaft suchen. „Zu Friedenszeiten“ (das meint: vor der Wende), „aufreißen wie ein Westpaket“ oder „Kaufhalle“ sind typische Codes, die in Gespräche eingestreut werden und signalisieren, dass man zusammengehört. Abgrenzung gegen Fremde sehen die Wissenschaftler darin, wobei die Fremden „Wessis“ sind.
Die Alten, in der DDR Geborenen, sie benutzen die Codes quer durch alle sozialen Schichten. Aber auch unter den Jugendlichen ist es üblich. Sogar in Berlin, wo man annehmen sollte, dass es längst eine Durchmischung von Ost und West gibt. „Na klar weiß ich, wer aus dem Osten ist“, sagt zum Beispiel die 18-jährige Julia aus Köpenick über ihren Bekanntenkreis.
Warum die 13 Jahre zum Abitur brauchen und nicht 12, wie es in der DDR üblich war? – natürlich kennt Julia diesen bitteren Ostwitz über die „von drüben“, die man als selbstbewusster und wortgewandter kennengelernt hat. „Ist doch klar: 12 Jahre Abi, dann ein Jahr Schauspielunterricht.“ Wenn sich Julia mit Gleichaltrigen trifft, zum Chillen oder Feiern oder zu Seminarfahrten, dann, sagt sie, „fragt man meistens: Ost oder West?“ Warum das auch in ihrer Generation so ist, darüber hat sie noch nicht wirklich nachgedacht. „Es ist einfach so, wir sind anders als die.“
Stimmen aus dem Osten
Als Wolfgang Böhmer, später Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, 1991 in die dortige Landesregierung eintrat, zählte er in seinem Ministerium 272 Mitarbeiter. 51 davon waren wie er selbst im Osten aufgewachsen. Die meisten Sekretärinnen und Referenten. Das Sagen hatten die anderen, die Westler.
Wie sich das anfühlt? Sie selbst habe sich gleich mehrfach intensiver Befragung aussetzen müssen, sagt die Lehrerin in Chemnitz. Darüber, wie weit sie in das sozialistische System verstrickt gewesen war, und sie musste Bekenntnisse ablegen zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. „Das war erniedrigend“, sagt sie. Zumal zur gleichen Zeit ihre Kollegen, die aus dem Westen hierher gekommen waren, mühelos die nächste Karrierestufe erklommen. „Ich werde noch immer wütend“, sagt die Pädagogin, „wenn ich daran zurückdenke.“
Bis heute ist der Anteil von Führungskräften mit Ostbiografie erschreckend niedrig. 80 bis 95 Prozent der Führungskräfte in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gewerkschaften im Osten kommen aus dem Westen, hat die Uni Leipzig vor einigen Jahren ermittelt. In der Politik ist die Zahl der Ostdeutschen sogar wieder rückläufig. Noch nicht mal einer unter zehn Vorsitzenden Richtern in den neuen Ländern kommt „von hier“.
Schürt das ein andauerndes Gefühl der Fremdbestimmung? Erst brachten die Eliten aus dem Westen die unbekannte Rechts- und Wirtschaftsordnung, dann mutet dieser Staat, der noch nicht wirklich ihr Staat geworden war, ihnen auch noch die Herausforderung der Flüchtlinge zu.
Man kann das abtun. Sollen sich die Ossis mal nicht so haben! Man kann in diesem Zustand aber auch die Demütigung und Überforderung ganzer Landstriche sehen. Eine Überforderung, die zu Abwehr, Rückzug und schließlich zu Protest in den Wahlkabinen führt. Wie soll Demokratie auch funktionieren, wer soll ihre Werte tragen, wenn es an „selbstbewussten Bürgern“ fehlt, von denen der einstige Bundespräsident Joachim Gauck sagte, sie seien das Zentrum jeder freiheitlichen Gesellschaft?
Auch er habe „massenhaft Fragen“, sagt der Banker und Christdemokrat aus Chemnitz. Es geht um Sicherheit und Gerechtigkeit, den Umgang mit Russland, mit den Migranten. Doch sie zu stellen, das traue er sich nicht. Aus Angst, sich zu artikulieren, sich zu bekennen und dadurch Schwierigkeiten zu bekommen, auch im Job. „Es heißt doch gleich, man wolle das ganze System kritisieren“, sagt er. Da ist es wieder, dieses Gefühlsgebräu des Fremden: erst Fremd-Bestimmung, dann Über-Fremdung, schließlich Ent-Fremdung.
Multikulturelles Dresden
Das Dresden der frühen achtziger Jahre eine Stadt zu nennen, in der unterschiedliche Kulturen zusammenleben, wird der Realität nicht gerecht. An der Technischen Universität studierten zwar Bulgaren, Tschechen und auch Angolaner. Zumindest mit den Osteuropäern saßen wir Studenten gemeinsam in den Hörsälen und tranken im „Bärenzwinger“, dem weit über die Stadtgrenzen bekannten Studentenclub an den berühmten Brühlschen Terrassen abends unser Bier.
Bei den Dresdnern hingegen, die meist kaum etwas mit unserem Studentenleben zu tun hatten, spielte der gemeinsame Alltag mit den Ausländern, eine Integration, kaum eine Rolle. „Mädchen“, sprach mich mal eine ältere Dame in der Straßenbahn besorgt an, „es gibt so nette deutsche Männer.“ So einen sollte ich mir suchen und nicht mit den dunkelhaarigen Kerlen aus Südeuropa herumziehen. Ich habe das nie vergessen, weil es meine Erfahrungen, mit einem von den Dunkelhaarigen in Dresden zusammengelebt zu haben, treffend beschreibt.
Die DDR der Völkerverständigung und des Internationalismus, es gab sie eigentlich nur in den Überschriften der Zeitungen. Der Alltag war ein anderer. Die deutsch-sowjetische Freundschaft hatte wenig mit Zwischenmenschlichkeit zu tun, sondern war eine Massenorganisation. Sie lebte in kleinen Mitgliedsbüchlein, in die man regelmäßig für ein paar Pfennige erworbene Marken geklebt hat.
Und als in den achtziger Jahren nicht nur die Technische Universität Dresden in der Mensa Essensräume für „Kommerzstudenten“ einzurichten begann – die DDR hatte das Wissen ihrer Wissenschaftler für Devisen an arabische Herrscherhäuser verkauft –, reichte man ihnen an weiß gedeckten Tischen Bananen und Apfelsinen zum Nachtisch. Nachts feierten sie in den Bars der Stadt, und tagsüber saßen diese Studenten in eigenen Lehrveranstaltungen. Wir haben sie nur aus der Entfernung erlebt.
Die Begegnung mit dem Fremden, mit anderen Kulturen und Hautfarben, ist für die allermeisten in Ostdeutschland Aufgewachsenen eine Erfahrung der Abschottung. Der Bundeswehrstandort in Ohrdruf beherbergte bis 1990 sowjetische Soldaten. Die Offiziere durften Familien mitbringen. Sie lebten separiert in eigenen Wohnblocks, ihre Kinder gingen nicht in unsere Schulen. Die einfachen Soldaten waren strengstens kaserniert. Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung war nicht erwünscht.
Wo Vietnamesen und Angolaner lebten, waren sie zum Arbeiten gekommen. Ausschließlich. Sie kamen, weil die DDR Aufbauhilfe leistete in ihren Heimatländern. Mit Geld, mit Maschinen, mit Saatgut. Diese Hilfe musste bezahlt werden, mit Arbeit.
Tausende vietnamesische Frauen und Männer schufteten in der Textilindustrie und anderswo. Sie wohnten in eigenen Plattenbauten, sie mussten einen großen Teil ihres Verdienstes dem heimatlichen Staat überlassen. Menschliche Verbindungen waren ihnen sogar untereinander verboten. Wer schwanger wurde, musste sofort ausreisen. Die meisten Deutschen wussten um diese Zustände nahe an der Zwangsarbeit. Wir nahmen es hin.
Unter uns allerdings entwickelte sich eine Kultur der Diskriminierung und der Herablassung gegenüber Schwächeren, Minderheiten. „Fidschi“, „Kanake“, „Neger“. Für all diese erniedrigenden Begriffe und ihre Wirkung gab es kaum ein Bewusstsein. Und ich höre sie bis heute im alltäglichen Sprachgebrauch.
Wer in die Archive steigt, findet auch reihenweise Belege für offen rassistische Übergriffe vor 1990. Die Täter waren meist enthemmte und gefrustete junge Männer. Der Staat hat sie kurzerhand von der Straße geholt, ansonsten schwiegen die Genossen darüber.
Natürlich sind die Ostdeutschen, sind wir, keine Nazis, die alles Fremde aus unserem Land tilgen und die demokratischen Strukturen aus den Angeln heben wollen. Wer so pauschalisiert, erntet noch mehr Distanzierung, noch mehr Wut. Man wird vielmehr zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich viel angestaut hat in den „fünf neuen Bundesländern“. Persönliche Zurücksetzung, wirtschaftliche Ängste, der Staat auf dem Rückzug. Und dann kommt eine Kanzlerin, die im fernen Berlin entscheidet, Millionen von Leuten einzuladen und eine demokratische Abstimmung über diesen gravierenden Einschnitt in das Leben der Menschen für nicht nötig ansieht.
Wer die Not nicht erlebt hat...
In Rostock-Lichtenhagen sitzt an seinem Schreibtisch, nur ein paar Straßen entfernt vom Sonnenblumenhaus, Rainer Fabian. Ein ruhiger Mann, Mitte 60. Bis er in Rente geht, kümmert er sich um die Leute, die hierher, ins „Haus der Begegnung“ kommen, das das katholische Kolpingwerk seit Jahren betreibt. Früher war hier ein Kindergarten, aber so viele davon braucht man in Lichtenhagen nicht mehr. Jetzt gibt es Seniorensport, Kaffeetafeln und Tipps für die, die Behördenkauderwelsch nicht verstehen und Strafen fürchten, wenn sie auf den Brief vom Amt nicht reagieren.
Fabian ist einer, der die Sorgen der Leute versteht. „20 Euro können ganz schön viel Geld sein“, sagt er. Typische ostdeutsche Nachwendekarriere auch bei ihm: Betrieb pleite, Job gefunden, wieder pleite, ABM, dann endlich Sozialarbeit. Fabian kennt einige in der Nachbarschaft, deren Renten oder Verdienste so klein sind, dass sie sich Obst und Gemüse und Waschmittel von der „Tafel“ holen.
In den nächsten Jahren wird es wahrscheinlich von diesen Menschen nicht nur in Lichtenhagen viel mehr geben. Denn die Renten derer, die ihr Arbeitsleben größtenteils in der DDR verbrachten, mögen meist auskömmlich sein, vor allem die der Frauen, die zu fast hundert Prozent gearbeitet haben. Doch längst kommen auch die Jahrgänge ins Rentenalter, deren jährliche Bescheide wegen der langen Arbeitslosenzeiten und Minijobs in den Nachwendejahren keine Beträge mehr ausweisen, mit denen es sich im Alter leben lässt. Über die „Angst vor Konkurrenz mit den Flüchtlingen“, sagt Fabian, „können nur die den Kopf schütteln, die Not nicht erlebt haben“.
Er meint damit die Berufspolitiker mit ihren Diäten und die Besserverdienenden im Westen. Und wahrscheinlich auch mich: fester Job, Wohnung im teuren Prenzlauer Berg, Wende-Gewinnler. Was wissen wir eigentlich wirklich von den Nöten eines „Tafel“-Betreibers, dem Leute wie ich fehlende Moral vorwerfen, weil er Asylbewerber nicht mehr mit Lebensmitteln versorgen will?
Als der gewalttätige und gewaltbereite Mob von Lichtenhagen im August ’92 endlich vertrieben war, hat es nach langem Hin und Her Rücktritte von Verantwortlichen gegeben und auch einige Strafverfahren. Kleine Ahndungen, Jugendstrafen, Geldstrafen. Nichts, was wirklich weh getan, was abgeschreckt hätte.
Zwanzig Jahre später stand Joachim Gauck, Rostocker und Bundespräsident, auf der Wiese vor dem Sonnenblumenhaus und nannte das Geschehene ein „Kapitel des Bösen“, das sich nie wiederholen darf. Die Nachbarn, die seinerzeit applaudierten, sahen ihrem Staatsoberhaupt skeptisch aus ihren Fenstern zu. An Gespräche der örtlichen Politik mit ihnen kann sich der Sozialarbeiter Fabian nicht erinnern. Erst sehr viele Jahre nach den Ereignissen habe er mal versucht, die Leute dazu einzuladen. Es kam nur eine Handvoll. Es war wohl zu spät zum Reden.
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