Arbeit und Armut in Berlin: Wie sozial ist Berlin?
Kaum irgendwo in Deutschland gibt es mehr arme Menschen als in Berlin. Woran liegt das und wie leben sie hier?
Seit Jahren schon sprechen Sozialpolitiker und -wissenschaftler davon, dass Kinder das größte Armutsrisiko sind. Und die Zahlen belegen es: Gut ein Drittel der in Berlin lebenden Jungen und Mädchen sind laut Statistik von Armut betroffen – ganz besonders, wenn sie nur mit einem Elternteil, meist der Mutter, zusammenleben. Oft können diese nur eine Beschäftigung in einem prekären Arbeitsverhältnis finden, so dass sie aufstockende Leistungen vom Jobcenter beziehen müssen.
Wie entwickeln sich die verschiedenen Formen von Armut in Berlin?
Weitere Verschlechterungen für die Kinder erwartet die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, Barbara Eschen, sollte das Vorhaben der Bundesregierung umgesetzt werden, bei Trennungskindern Sozialleistungen zu kürzen: „Das wäre eine Katastrophe“, sagt Eschen. Laut einem Entwurf soll etwa der Mutter das Geld für die Tage gekürzt werden, in denen das Kind sich beim Vater aufhält.
Die Armut von Rentnern ist noch kein so verbreitetes Problem – auch wenn deren finanzielle Lage schwieriger wird. Oliver Zobel vom Berliner Paritätischen Wohlfahrtsverband rechnet aber damit, dass bereits ab 2020 bei vielen Senioren die Renten nicht mehr ausreichend seien und sie dann zusätzlich Grundsicherung beziehen müssen. Der Grund: Ihre Berufsbiografien sind immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochen worden, in denen sie nicht für ihre Altersversorgung einzahlen konnten.
Zieht Berlin Armut an?
In Berlin ist der Anteil derer, die von ihrer Arbeit nicht leben können, besonders groß: Knapp 120000 Menschen müssen zusätzlich zum Jobcenter gehen, um ihr Einkommen durch Hartz IV aufzustocken. Viele verzichten auch auf staatliche Unterstützung.
Zwar sind in den letzten Jahren hier zehntausende Arbeitsplätze geschaffen worden und es gibt inzwischen einen großen Fachkräftemangel in der Stadt. Dennoch können viele Berliner Arbeitssuchende davon nicht profitieren und müssen sich mit Teilzeit- oder schlecht bezahlten Jobs zufrieden geben. Berliner mit Migrationshintergrund haben es ohnehin oft schwerer.
Neue Jobs entstehen vor allem im Dienstleistungssektor und in der wachsenden Start-up-Szene. Das Problem ist nur: Ein Großteil der neuen Jobs wird von Zuzüglern besetzt. Und wer bereits seit Jahren auf Sozialleistungen angewiesen ist, dem fällt der Aufstieg trotz wirtschaftlichem Aufschwung schwer. Deshalb halten Wissenschaftler die sozialen Perspektiven trotz Wirtschaftswachstum und sinkender Arbeitslosenzahlen für schwierig.
Wie muss Berlin seine soziale Infrastruktur entwickeln?
Laut Diakonie-Direktorin Eschen gibt es inzwischen Engpässe bei den unabhängigen Sozialberatungsstellen freier Träger, die nicht mehr in allen Bezirken vertreten seien. Und auch bei den Schuldnerberatungen gebe es durchaus mehr Bedarf: „Wenn beispielsweise auf einmal eine neue Waschmaschine her muss, weil die alte kaputt ist, aber kein Geld dafür angespart wurde, dann kommt man ganz schnell in die Schuldenfalle.“ Direkte Not lindern auch die vielen Tafeln, die es inzwischen über die Stadt verteilt gibt und über die sich Bedürftige mit Lebensmitteln versorgen können. „Aber die Tafeln können nicht die Lösung sein“, sagt Eschen. Der Staates müsse ein auskömmliches Leben ermöglichen.
Wo steht Berlin im Vergleich mit anderen Städten?
Sowohl gemessen an der Armut als auch an Kriterien wie der Zahl der Sozialhilfeempfänger oder der Kriminalitätsrate schneidet Berlin im Bundesvergleich schlecht ab. Die Stadt steht ähnlich schlecht da wie Bremen, Bremerhaven oder Gelsenkirchen. Auch wenn diese Regionen sehr unterschiedlich sind – ein Problem haben sie gemeinsam: Die Jobs, die geschaffen werden, passen nicht zu den Fähigkeiten, die die Jobsuchenden haben. Berlin leidet noch immer unter dem Rückzug der Industrie und dem Wegfall der Großkonzerne nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Fall der Mauer machte die Stadt erneut einen Strukturwandel durch. Erst vergangene Woche hat das Forschungsinstitut Prognos seinen Zukunftsatlas vorgestellt. Darin landet Berlin in der Kategorie „Wohlstand und soziale Lage“ auf Platz 400 von 402 untersuchten Städten und Kreisen. Das liegt an der besonders hohen Zahl an Sozialhilfeempfängern, der hohen Kriminalitätsrate und der kommunalen Verschuldung.
Wie werden Wohlstand und Armut eigentlich gemessen?
Niemand möchte gerne als arm abgestempelt werden. Trotzdem müssen Statistiker eine klare Grenze ziehen, ab wann sie jemanden als arm bezeichnen. Sie messen das anhand des Nettohaushaltseinkommens. Das heißt: Sie fragen, wie viel Geld ein Haushalt (ein Single oder eine Familie) noch zur Verfügung hat, wenn man alle Abgaben und Steuern abzieht. Als arm stufen sie dann alle ein, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Dabei ist das mittlere Einkommen die Summe, bei der es ebenso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen gibt. Als Grundlage dafür nehmen die Statistiker in der Regel die Daten des Mikrozensus. Das ist eine Art kleine Volkszählung; per Zufallsstichprobe werden dafür ein Prozent aller Haushalte in Deutschland befragt. Wer dabei ausgewählt wird, ist gesetzlich dazu verpflichtet, zu antworten und sein Nettohaushaltseinkommen anzugeben. Auf dieser Weise lassen sich Daten für ganz Deutschland erfassen und von Statistikern vergleichen. Weil dabei das mittlere Einkommen in einer wirtschaftlich besonders starken Region wie Baden-Württemberg höher ausfällt als in einem Stadtstaat wie Berlin, ist die Armutsgrenze je nach Bundesland verschieden.
In Berlin gilt ein Single zum Beispiel als arm, wenn er im Monat weniger als 841 Euro zum Leben hat. Bei einer Familie mit zwei Kindern liegt die Grenze derzeit bei 1767 Euro. Laut des jüngsten Armutsberichts des paritätischen Wohlfahrtsverbands liegt die Armutsquote in Berlin bei 20 Prozent. Auch hier schneiden nur drei Bundesländer schlechter ab: Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt.
Wie erfolgreich ist die Armutsbekämpfung des Berliner Senats?
Eigentlich sollte man meinen, dass angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt und des Jahren steten Rückgangs der Arbeitslosigkeit auch das Problem der Armut in Berlin rückläufig sein müsste. Aber das ist es in keiner Weise. Eine übergreifende Strategie gegen Armut ist auch politisch nicht erkennbar. Die Erwerbslosenquote ist in diesem Monat erstmals unter die zehn Prozent gerutscht – aber die Armutsquote ist so hoch wie zu den Hochzeiten der Massenarbeitslosigkeit um die Jahrtausendwende. „Der Senat hat die Armut nicht im Blick, die Abgehängten sind nicht im Fokus“, sagt dazu der Landeschef der Berliner Linken, Klaus Lederer.
Peter Kaiser vom Forschungsinstitut Prognos meint, Berlin könne seine Probleme nur durch noch mehr Ausgaben für Bildung und Integration in den Griff bekommen. Nur so hätten auch ungelernte Menschen eine Chance auf die Jobs, die es in der Stadt schließlich durchaus gibt. Die Politiker kennen das Problem – nur sind ihnen die Hände gebunden. Noch immer ist die kommunale Verschuldung in Berlin so hoch wie sonst in kaum einer Stadt oder einem Kreis Deutschlands. Pro Kopf ist die Stadt mit 8930 Euro in den Miesen – der Bundesdurchschnitt liegt bei etwa 1700 Euro. Kaiser sagt: „Das ist ein Teufelskreis.“
Auch im Haus von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) ist man davon überzeugt, dass der Schlüssel bei der Armutsbekämpfung die Bildung ist. Martin Hoyer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband fehlt ein Gesamtkonzept des Senats. Die einzelnen Verwaltungen arbeiteten nicht ressortübergreifend. Außerdem habe man bisher nicht ausreichend auf die dynamische Entwicklung der Stadt mit ihrem rasanten Wachstum reagiert.