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Interview mit Hans Bertram: „Da herrscht große Ängstlichkeit“

Der Soziologe Hans Bertram über die Reform der deutschen Familienpolitik, wirksame Unterstützung für Kinder und Eltern in anderen Ländern und staatliche Achtung für die Bedeutung fester Bindungen.

Herr Professor Bertram, der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, hat kürzlich eine Sonderabgabe für Kinderlose vorgeschlagen. Bringt uns das weiter?
Mit Sicherheit nicht. Ich kann über solche Vorschläge nur lachen, denn sie bedeuten einen Rückschritt in der familienpolitischen Debatte. Sie gehen davon aus, dass der Staat auf die Fürsorglichkeit seiner Bürger zugreifen kann. Das geht aber nicht. Vernünftiger wäre es, darüber nachzudenken, wie Fürsorglichkeit unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen so gewährleistet werden kann, dass sich die Menschen leichter für Kinder entscheiden.

Das müssen Sie erläutern …

Meine These ist: Fürsorge für andere Menschen ist ein so knappes Gut in unserer Gesellschaft, dass wir sie genau so hoch bewerten müssen wie eine berufliche Tätigkeit. Eine ganz besondere Fürsorge ist noch einmal die für kleine Kinder. Die kann der Staat weder hervorbringen noch ersetzen, sondern höchstens durch gute Bedingungen unterstützen.

Mit welchem Instrumentarium lässt sich das machen?

Durch einen Dreiklang: durch den weiteren Ausbau der Infrastruktur, durch Zeitpolitik und durch eine bessere finanzielle Unterstützung, aber nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern ganz gezielt an wenigen Stellschrauben, wo die Mittel große Wirkung entfalten. In der Regel nehmen ja junge Frauen eine berufliche Auszeit, wenn die Familie ein Kind bekommt. Die nordeuropäischen Staaten haben ihnen eine eigenständige Alterssicherung dadurch ermöglicht, dass sie in dieser Zeit einen Zuschuss zu ihren Beiträgen bekommen, damit sie keine Ausfallzeiten in der Rente hinnehmen müssen.

In Deutschland gibt es doch auch Rentenpunkte für die Geburt eines Kindes …

Aber trotzdem muss die Frau bei der Rente Ausfallzeiten in Kauf nehmen. Das sollte die deutsche Familien- und Sozialpolitik nun auf die Agenda setzen: Wie organisiert man für die Frau mit Kind oder mehreren Kindern eine eigenständige Alterssicherung unabhängig vom Mann?

Nach der Einführung der Vätermonate beim Elterngeld konnte die Zahl der Väter, die eine Auszeit nehmen, um sich ums Kind zu kümmern, vervielfacht werden. Wäre die Alterssicherung für die Frau da nicht ein Rückschritt?

Die Befürchtung ist unbegründet. Gerade die Länder, die wie Schweden, Finnland und Dänemark eine eigenständige Alterssicherung für die Frau aufgebaut haben, weisen eine sehr hohe Integration der Frauen ins Erwerbsleben auf. In Schweden kann eine Frau bis zum achten Lebensjahr des Kindes ihre Arbeitszeit reduzieren und bekommt die fehlenden Rentenbeiträge vom Staat bezahlt. Das führt zu zwei Dingen: Die Frauen steigen früher wieder ins Berufsleben ein, weil es sich lohnt. Und sie arbeiten sehr lange – in der Regel bis zum 67. Lebensjahr, weil sie dann eine ordentliche Rente haben. Wir haben die Betreuungseinrichtungen ausgebaut und damit jungen Frauen die Integration ins Arbeitsleben ermöglicht. Jetzt sollte man diesen zweiten Schritt machen.

Es gibt keine deutsche Partei, die ein solches Modell vertritt. Woran liegt’s?

Da herrscht eine große Ängstlichkeit, das deutsche Alterssicherungsmodell zu reformieren. Es ist doch viel schöner, verdiente Verwaltungsangestellte mit 63 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken oder eine Mütterrente zu verteilen, statt dafür zu sorgen, dass Erziehungszeiten Renten-unschädlich sind. Es wäre eine schwierige Reform, aber sie würde sich lohnen.

Hans Bertram
Hans Bertram
© Mike Wolff

Seit Langem verspricht die Politik, benachteiligte Kinder zu fördern. Warum gelingt das bislang so unzureichend?

Der Kontext, in dem ein Kind aufwächst, ist entscheidend. Und natürlich weiß etwa ein Bezirksbürgermeister viel mehr über seinen Stadtteil als etwa die Bundesfamilienministerin. Eigentlich müsste deshalb der Bürgermeister für die Förderung von Kindern zuständig sein. Das Problem ist: Die Kommunen haben kein Geld. Als Ursula von der Leyen (CDU) noch Familienministerin war, hat sie versucht, mit Bildungsgutscheinen Geld auf der kommunalen Ebene bereitzustellen. Herausgekommen ist leider ein kompliziertes bürokratisches Monster. Dieser Versuch hätte nur funktioniert, wenn der Bund Bildungsgutscheine nicht nur für benachteiligte, sondern für alle Kinder zur Verfügung gestellt hätte, aber das wäre natürlich auch viel teurer geworden. Solange es uns nicht gelingt, wirklich vor Ort Mittel zu organisieren, werden wir die Kinderarmut nicht wirksam bekämpfen können.

Warum steigern die 200 Milliarden Euro, die jährlich in die Familienpolitik fließen, nicht die Geburtenrate?

Glücklicherweise entscheiden sich die Menschen für Liebe, Partnerschaft und Kinder nicht wegen der Milliarden. Wir haben in Deutschland das Problem, dass kein Politiker eine familienpolitische Leistung zurücknehmen will, auch wenn sie sich als wenig sinnvoll erwiesen hat. Sonst könnte man das Geld zumindest teilweise umverteilen und müsste nicht neues ausgeben.

An welche Leistung denken Sie etwa?

Nehmen wird das Beispiel Ehegattensplitting. Als es Ende der 50er Jahre eingeführt wurde, war das ein Akt der Gerechtigkeit, um die Nachteile von Familien gegenüber kinderlosen Paaren steuerlich auszugleichen. Heute aber profitieren besonders jene Paare vom Ehegattensplitting, deren Kinder schon aus dem Haus sind. Das kommt daher, dass das Einkommen der Männer in diesem Alter in der Regel am höchsten ist und gleichzeitig viele Frauen Teilzeit arbeiten. Wir haben also einen maximalen Effekt zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kinder gar nicht mehr im Haus sind. Politisch hat sich nichts geändert, aber geändert hat sich die Einkommensstruktur. Der Facharbeiter der 70er Jahre verdiente mit 25 schon so viel wie später auch mit 40. Heute hat man mit 30 Jahren wenig Einkommen, aber mit 50 viel mehr. Deshalb muss das Ehegattensplitting reformiert werden.

Sie persönlich würden aber bei der Reform der Familienpolitik noch weiter gehen …

Richtig. Ich bin seit Langem für die Einführung einer Kindergrundsicherung, die besteuert werden muss. Alle familienpolitischen Leistungen würden darin zusammengeführt. Darüber hinaus würden die Familien Bildungsgutscheine erhalten und hätten damit einen Anspruch auf staatliche Bildungs- und Förderungsangebote. Mit diesem Modell könnte der Staat seine Aufgaben in der Familienpolitik klar definieren und besser erfüllen.

Hat ein Staat überhaupt Möglichkeiten, eine Geburtenpolitik zu betreiben?

Die Politik sollte sich nicht in erster Linie auf die Geburtenrate konzentrieren, sondern darauf, dass die hier lebenden Kinder – und zwar egal, woher sie kommen – sich möglichst gut entwickeln können. Wenn das gelingt, könnte das für junge Paare auch ein Anreiz sein, Kinder zu bekommen.

Das Familienbild in Deutschland hat sich stark gewandelt. Wie wichtig ist es, dass das Institut der Ehe auch für nicht- heterosexuelle Paare voll geöffnet wird?

Der Oberste Gerichtshof der USA hat dazu meiner Meinung nach alles Nötige gesagt. Sein Argument war: Die feste Bindung an eine andere Person ist etwas so Wichtiges, dass der Staat das stützen und fördern sollte. Wenn zwei 60-jährige Männer unauflöslich füreinander da sein wollen – mit welchem Argument soll der Staat dann sagen, das will ich nicht fördern? Unsere Gesellschaft hat die Diversität, die Verschiedenheit, als Lebensentwurf akzeptiert – und zwar nicht nur hier in Berlin.

Hans Bertram (69) ist emeritierter Soziologie-Professor der Humboldt-Universität und Familienexperte. Auch die Politik suchte immer wieder seinen Rat. Momentan forscht er am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“in Berlin. Mit ihm sprach Hans Monath.

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