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Widerstand zwecklos: Eine Terrormiliz des "Islamischen Staates" rückt an.
© AFP

"Islamischer Staat": Wie organisiert ist die Terrormiliz IS?

Die Dschihadisten des "Islamischen Staats" kontrollieren mittlerweile ein riesiges Territorium. Ihre Herrschaft gründet auf militärischer Schlagkraft, Gewalt, religiöser Ideologie – und Bürokratie. Einblicke in die Strukturen des "Kalifats".

Wo sie auftauchen, verbreiten sie Horror und Verwüstung. Auf Twitter und Facebook brüsten sich die Dschihadisten in Arabisch, Englisch, Französisch oder Spanisch mit Enthauptungen, Massenhinrichtungen und Kreuzigungen. Ihre schier endlosen Kolonnen nagelneuer Allrad-Fahrzeuge mit aufgeblendeten Scheinwerfern reichen bis zum Horizont. "Wir kommen – Widerstand zwecklos" heißt die Schreckensbotschaft an die arabische Region, mit der sich die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) inszeniert. Gleichzeitig ziehen ihre unerbittliche Brutalität und ihre scheinbar unaufhaltsame Dynamik immer mehr Sympathisanten weltweit in den Bann.

Die IS-Brigaden sind die jüngste und bisher gefährlichste Gattung unter den sunnitischen Terrorgruppen des Nahen und Mittleren Ostens. In Syrien und Irak kontrolliert das neue "Kalifat" mittlerweile ein Drittel der beiden Staatsflächen, ein Territorium so groß wie Großbritannien und 700 Kilometer lang, in dem acht Millionen Menschen wohnen. "Sie haben ausgebaut, was Al Qaida bisher gemacht hat, aber in sehr viel größeren Dimensionen", urteilt Bruce Hoffman, Terrorexperte an der Georgetown-Universität in Washington.

Die Scharfschützen des IS sind gefürchtet

In Training und taktischen Fähigkeiten sind die Extremisten nach Einschätzung von Militärfachleuten den Soldaten der syrischen und irakischen Armee überlegen. Ihre Scharfschützen sind gefürchtet, bei den jüngsten Eroberungen syrischer Kasernen wurden gleich mehrere Wellen von Selbstmordattentätern eingesetzt. In eroberten Städten wie Falludscha graben die IS-Terroristen verzweigte Netzwerke unterirdischer Tunnel, die es ihnen erlauben, überraschend anzugreifen und sich sofort wieder zurückzuziehen. "Sie sind wie Geister: tauchen auf, schlagen zu und sind Sekunden später wieder wie vom Erdboden verschluckt", erklärte ein irakischer Offizier.

Treibende Kraft hinter dieser militärischen Professionalisierung ist ein ehemaliger irakischer Islamgelehrter mit Kriegsnamen Abu Bakr al Baghdadi, der seit 2010 die IS-Brigaden anführt und sich vor zwei Monaten in Mossul zum Chef des "Islamischen Kalifats" ausrief. Mit seinen beiden Stellvertretern Adnan al Sweidawi und Fadel al Hayali bildet er das Führungstrio der Organisation. Die drei lernten sich im US-Gefangenenlager Camp Bucca in Südirak kennen, wo seinerzeit 20.000 Iraker eingesperrt waren. Die beiden IS-Vizechefs bekleideten unter Saddam Hussein hohe Posten im irakischen Militär. Nach der US-Invasion 2003 kämpften sie gegen die Amerikaner und gehörten dem sunnitischen Untergrund an. Adnan al Sweidawi war jahrelang bei Al Qaida im Irak aktiv, nachdem er bei der Radikalengruppe Ansar al Sharia wegen Korruption herausgeflogen war. Seine religiösen Kenntnisse sind anders als seine militärische Kompetenz offenbar eher bescheiden. Sein Pendant Fadel al Hayali war in jungen Jahren ein moderater Muslim. Er wurde erst radikalisiert, nachdem er als Saddam-Getreuer aus der irakischen Armee gefeuert worden war.

Der Anführer des IS: Abu Bakr al Baghdadi
Der Anführer des IS: Abu Bakr al Baghdadi
© AFP

Zusätzlich stützt sich der "Islamische Staat" auch auf eine Reihe erfahrener Kommandeure aus Tschetschenien, die in ihrer Heimat jahrelang gegen die russische Armee gekämpft haben. Der bekannteste unter ihnen ist Abu Omar al Shishani, der einst im Militärgeheimdienst der georgischen Armee gearbeitet hat. Zusammen mit Irakern, Saudis und Tunesiern brüsten sich die Tschetschenen, zu den "vier Säulen" der Terrormiliz zu gehören. So archaisch ihre religiöse Ideologie, so ausgeklügelt ist die Aufgabenverteilung der wichtigsten Kader. Baghdadis Vize Adnan al Sweidawi ist für Syrien zuständig, sein Kollege Fadel al Hayali für den Irak. Zwölf Gouverneure sind den beiden unterstellt, die die verschiedenen Provinzen kontrollieren – fünf in Syrien und sieben im Irak. "Kalif Ibrahim", alias Abu Bakr al Baghdadi, dagegen kümmert sich nicht um tägliche Details. Er verfügt über ein Netz von persönlichen Kurieren, die seine militärischen Befehle und seine religiösen Fatwas überbringen. Im engsten Führungszirkel herrscht nach dem Urteil westlicher Terrorexperten ein "Klima von Paranoia und Pochen auf absoluter Loyalität". So hat Baghdadi in der Vergangenheit bereits mehrere Kommandeure ermorden lassen, weil sie sein Misstrauen erregten.

Operationsgebiete des IS in Syrien und im Irak (Stand Dezember 2014)
Operationsgebiete des IS in Syrien und im Irak (Stand Dezember 2014)
© Tsp

Der IS-Chef befehligt zudem einen neunköpfigen Führungsrat, quasi das Kabinett seines vor zwei Monaten ausgerufenen "Gottesstaates" und damit das Herzstück des Regimes. Die Minister sind zuständig für die Produktion von Bomben, für Gefangene, die Finanzen, den Verkauf des Öls sowie die Versorgung der im Kampf gefallenen "Märtyrer". Andere IS-Ressortchefs kümmern sich um den Empfang ausländischer und arabischer Dschihadisten, ihre Unterbringung sowie den Transport von Selbstmordattentätern an ihre Einsatzorte.

Schura-Rat überwacht die fundamentalistische Auslegung des Koran

Ein weiteres wichtiges Gremium ist der Schura- Rat, in dem neun Geistliche sitzen, die in islamischem Recht bewandert sind. Der Rat soll gewährleisten, dass die IS-Spitze sich an die fundamentalistische Auslegung der Scharia hält. Nach koranischer Tradition hätte dieser Kreis theoretisch sogar die Macht, den "Kalifen Ibrahim" abzusetzen, was jedoch praktisch ausgeschlossen ist. Die Entscheidung, die drei westlichen Geiseln in Syrien zu ermorden, die US-Journalisten James Foley und Steven Sotloff sowie David Haines, den britischen Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, dürfte von diesem Schura-Rat gefällt worden sein.

Nach westlichen Geheimdienstangaben zählen zum "Islamischen Staat" inzwischen mehr als 30.000 Kämpfer, von denen rund 1000 der Kommandoebene angehören. Je nach Aufgabe schwanken ihre Monatsgehälter zwischen 300 und 2000 Dollar – viel Geld in einer Region, wo das Durchschnittseinkommen bei etwa 400 Dollar liegt. Westliche Geheimdienste schätzen, dass sich den Dschihadisten in Syrien und Irak 10.000 Ausländer angeschlossen haben, die meisten aus Saudi-Arabien und Tunesien. 3000 von ihnen stammen aus Europa, darunter mindestens 450 Deutsche.

Anschein einer öffentlichen Ordnung

Anders als die Terrorkonkurrenz organisiert der IS in den von ihm beherrschten Regionen eine relativ differenzierte Bürokratie, eine eigene Art Polizei sowie eigene Scharia-Gerichte und Essensausgaben für Arme. Die neuen Herren zahlen Gehälter, sorgen für Wasser, Strom und Gas, regeln den Verkehr, unterhalten Schulen, Universitäten, Moscheen, Banken und Bäckereien. Oft lassen sie die lokalen Beamten im Dienst, nachdem diese dem IS Gefolgschaft geschworen haben. Das soll die eroberte Bevölkerung beruhigen sowie den Anschein einer öffentlichen Ordnung erzeugen, ähnlich wie es die Taliban in Afghanistan nach ihrer Einnahme von Kabul 1996 praktizierten.

Islamisten bei der Arbeit - Kontrolle des öffentlichen Lebens in den eroberten Gebieten.
Islamisten bei der Arbeit - Kontrolle des öffentlichen Lebens in den eroberten Gebieten.
© AFP

Im ostsyrischen Rakka mit seinen 500.000 Einwohnern, wo der IS sein Hauptquartier hat, schlossen die Kämpfer Geschäfte, weil die Händler angeblich Waren schlechter Qualität verkauft hatten. Regelmäßig werden Supermärkte und Kebab-Stände auf die Qualität ihres Angebotes überprüft. In vielen Stadtteilen stellten die Eroberer Dieselaggregate zur Stromerzeugung auf, reparierten Stromleitungen oder ließen Schlaglöcher ausbessern. Im irakischen Mossul verteilten IS-Krieger bereits kurz nach ihrem Einmarsch Flugblätter an die Bewohner, auf denen in 16 Punkten die neue "Charta der Stadt" gedruckt war. Frauen dürfen nur noch voll verschleiert auf die Straße – und nur dann, wenn "es unbedingt nötig ist" – stand dort zu lesen. Alle Bewohner müssen künftig an den fünf täglichen Gebeten des Islam teilnehmen. Alkohol und Zigaretten sind verboten. Mit Bulldozern ließen die neuen Herren bereits tausende aus Cafés und Wohnungen konfiszierte Wasserpfeifen öffentlich zermalmen.

Gleichzeitig versucht der IS, seinen ultra-gewalttätigen Dschihad über digitale Medien weltweit zu propagieren. Die Online-Zeitschrift "The Islamic State Report" wirbt für ein Leben im "Kalifat", für das kürzlich sogar die ersten 11.000 Pässe und Autoschilder ausgegeben wurden. Ein eigener Twitter-Dienst dient dazu, Freiwillige zu rekrutieren und Spenden einzuwerben. Auf Facebook dagegen werden vor allem Morddrohungen gestellt. Zwei Jahrbücher sind bisher erschienen mit Statistiken wie "eroberte Ortschaften", "Tötungen mit dem Messer" und "bekehrte Gotteslästerer". Seit kurzem geben die Krieger sogar ein Hochglanz-Magazin heraus, das sich primär an europäische und amerikanische Muslime wendet. "Die Rückkehr des Kalifats" lautet der Titel der ersten Ausgabe, die 26 Seiten hat und die "Ankunft einer neuen Ära" bejubelt: "Schon bald, wenn Allah es zulässt, wird der Tag kommen, an dem der Muslim überall als Herr auftreten wird, verehrt und bewundert – mit hoch erhobenem Kopf und in seiner Würde gewahrt."

Martin Gehlen

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