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Nach wie vor versuchen viele syrische Kurden die Grenze zur Türkei zu überqueren. Sie haben Angst vor dem Terror der Islamisten und haben deshalb ihr Zuhause verlassen.
© AFP

Syrische Flüchtlinge in der Türkei: „Es könnten noch 400.000 Menschen kommen“

Zehntausende kurdische Syrer haben aus Furcht vor dem "Islamischen Staat" die Grenze zur Türkei überquert. Ein Gespräch mit Nesrin Semen vom Welternährungsprogramm der UN über den Ansturm der Flüchtlinge, verzweifelte Vertriebene und Gesten der Solidarität.

Frau Semen, bis zu 140 000 syrische Kurden sind vor den Angriffen des „Islamischen Staats“ in die Türkei geflüchtet. Sie koordinieren die Hilfe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen im Grenzgebiet. Wie ist die Lage?

Hier kommen jeden Tag immer noch hunderte Menschen an, die Schutz suchen. Nachdem sie die Grenze überschritten haben, werden die Flüchtlinge – es sind zumeist Frauen, Kinder und Alte – zunächst vom türkischen Katastrophenschutz registriert. Danach bringt man sie mit Bussen in nahe gelegene Städte. Viele Syrer haben dort Verwandte und können bei ihnen unterkommen.

Und was ist mit jenen, die diese Möglichkeit nicht haben?

Die werden provisorisch zum Beispiel in Schulen untergebracht. Aber es gibt auch Zeltlager, die hier schnell errichtet wurden. Dazu gehört auch eine Feldküche, die vom türkischen Roten Halbmond betrieben wird. Dort geben wir derzeit bis zu 30 000 Essen pro Tag aus.

Wie ist die Stimmung unter den Flüchtlingen?

Die Menschen sind sehr verzweifelt. Sie mussten von einer auf die andere Minute ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen. Einige konnten wenigstens eine Matratze oder ein paar Kleidungsstücke mitnehmen. Aber vielen ist nur das geblieben, was sie am Leib tragen.

Nesrin Semen (31) koordiniert für das Welternährungsprogramm die Lebensmittelhilfe in den Flüchtlingslagern, die im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien errichtet worden sind.
Nesrin Semen (31) koordiniert für das Welternährungsprogramm die Lebensmittelhilfe in den Flüchtlingslagern, die im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien errichtet worden sind.
© WFP

Auf einen Schlag suchten Zehntausende Schutz. War man auf diesen Ansturm vorbereitet?

Es gibt zwar immer Notfallpläne. Aber diese Dimension des Flüchtlingsstroms hat uns dann doch überrascht. Das ist eine riesige logistische Herausforderung.

Was benötigen die Menschen am dringendsten?

Nahrungsmittel, Kleidung und Hygieneartikel zum Beispiel. Und Babynahrung. Es gibt hier Frauen, die sind mit ihrem Neugeborenen im Arm über die Grenze gekommen. Die Männer sind oft zurückgeblieben, um das Zuhause zu schützen.

Funktioniert die Kooperation mit den türkischen Behörden?

Das klappt problemlos. Die türkischen Kollegen sind gut organisiert. Sie haben ja inzwischen viel Erfahrung, wie man Flüchtlinge möglichst effektiv in den Camps betreut. Wir selbst unterstützen die Behörden, wenn es um die Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln geht. Auch das funktioniert gut.

Spielt es im Alltag eine Rolle, dass die Flüchtlinge zumeist Kurden sind?

Nein. Alle Schutzbedürftigen werden gleich behandelt. Ohnehin sind die verwandtschaftlichen Beziehungen hier über die Grenze hinweg sehr eng.

Wie reagieren die Einheimischen?

Die Solidarität ist sehr groß. Es gab sogar schon Proteste, wenn es mal länger dauerte, bis die Menschen türkischen Boden betreten durften.

Was berichten die Flüchtlinge?

Dass sie große Angst vor den Kriegern des "Islamischen Staats" hatten und deshalb so schnell wie möglich ihre Heimat verlassen wollten. Dass sie tagelang ohne Essen und Trinken unterwegs waren. Dass sie sich um Haus und Hof Sorgen machen. Dass ein Teil der Familie zurückbleiben musste. Es sind oft wirklich erschütternde Geschichten.

Der "Islamische Staat" versucht weiterhin, zahlreiche Orte in Nordsyrien zu erobern. Das könnte dazu führen, dass noch weit mehr Menschen Zuflucht in der Türkei suchen. Besteht die Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerät?

Wir gehen davon aus, dass noch bis zu 400 000 Menschen kommen könnten. Auf ein derartiges Szenario bereitet man sich hier vor. Doch wir wissen nicht, mit welchen Mitteln: Schon für die große Mehrheit der bisherigen Flüchtlinge haben wir ab Mitte Oktober kein Geld mehr – 170 000 drohen bald zu hungern.

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