Softball in einer Hardball-Welt: Wie Europa vom Spielzeug zum echten Mitspieler werden kann
Das Wiederaufleben globalen Großmachtstrebens setzt der EU zu. Sie muss sich im chinesisch-russisch-amerikanischen Gerangel behaupten. Ein Essay.
Die vergangenen fünf Jahre waren schwierig für die europäische Außenpolitik. Die EU war weniger relevant, weniger aktiv und weniger geeint, als man in den Tagen nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages 2010 gehofft hatte. Und die kommenden fünf Jahre könnten noch härter werden. Denn die Europäer laufen Gefahr, in dem chinesisch-russisch-amerikanischen Gerangel um die geopolitische Vorherrschaft zum Spielball zu werden. Ob es so kommt, hängt von dem neuen EU-Team ab, das Ende 2019 übernehmen wird. Es muss nichts Geringeres angehen als eine umfassende Überarbeitung der EU-Außenpolitik.
Fairerweise muss man zugeben, dass die Mechanismen der EU-Außenpolitik mit dem neuen Amt der Außenbeauftragten und eines diplomatischen Dienstes ein paar Verbesserungen erlebt haben. Die EU-Kommission hat es geschickt verstanden, die Bedrohung durch Zölle abzuwehren und zugleich eine neue Generation von Handelsabkommen mit diversen Partnern abzuschließen. Und die Europäer haben mit ihrer Wettbewerbspolitik und ihren Datenschutzbestimmungen bewiesen, dass sie im digitalen Bereich immer noch eine Vorreiterrolle spielen können.
Aber die bescheidenen Brüsseler Zugewinne wurden von den Zerrüttungen der Welt um uns herum wieder zunichtegemacht. Im Ergebnis hat sich die EU-Maschinerie in so wichtigen Fragen wie dem Nahen Osten, Russland, dem Balkan, China und natürlich dem Verhältnis zu den USA als unfähig erwiesen, eine europäische Einigkeit zu erzielen und effektiv zu handeln. Der nahende Brexit könnte die Lage weiter verschlechtern. Die Außenpolitik der EU ist nach wie vor eine Geisel der fehlenden Einigkeit ihrer Mitglieder und deren genereller Abneigung, außenpolitische Fragen der EU zu überlassen.
Das Wiederaufleben des globalen Großmachtstrebens setzt dem Traum der EU von einer multilateralen Weltordnung zu. Die Vereinigten Staaten unter Donald Trump verfolgen die Idee, Wirtschaftskrieg gegen die EU zu führen, um sich in Handelsstreitigkeiten durchzusetzen. Sie spalten die Europäische Union ganz aktiv, indem sie die mittel- und osteuropäischen Regierungen fragen, ob sie ihre Sicherheitsbeziehungen zu den USA wirklich für die bilateralen Probleme Amerikas mit Deutschland und der EU riskieren wollen. In den kommenden Monaten werden wir einen großen Druck auf die Einheit der EU erleben, was den Nahen Osten und auch die Beziehungen zu Drittländern wie Russland und der Türkei angeht.
Aber China wird unter allen transatlantischen Problemgebieten das größte sein. Die trilateralen Beziehungen zwischen den USA, China und der Europäischen Union, die bereits fast zwei Drittel des globalen BIP ausmachen, werden die Weltwirtschaft im nächsten Jahrhundert bestimmen. Die EU hat zuletzt eine gemeinsame Front in der Außenhandelspolitik mit China recht gut hinbekommen, aber auf das geopolitische Erstarken Chinas in Ostasien oder in Afrika und dem Nahen Osten hat sie weniger gut reagiert.
Mit Hinblick auf Russland übertraf die EU zwar die Erwartungen, als sie nach der russischen Invasion in der Ukraine ein strenges Sanktionsregime vereinbarte und aufrechterhielt. Doch hat sie ihre Interessen in Bezug auf Russland nie richtig definiert. Sie will eine zweigleisige Politik aus Sanktionen und Engagement, aber über die Sanktionspolitik hinaus gibt es keine gemeinsame Linie.
Geopolitischer Machtkampf ist Nachteil für die EU
Die moderne Art des geopolitischen Konkurrenzkampfs bedeutet vor allem für die EU einen Nachteil. Sie geht davon aus, dass Wirtschaftsfragen global geregelt und von Geopolitik getrennt behandelt werden können. Entsprechend fallen Fragen der Außenhandelspolitik – etwa Handels- und Wettbewerbspolitik – in die Zuständigkeit von Brüssel, während geopolitische Bereiche wie die Außen- und Verteidigungspolitik oder die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten weiterhin zuvorderst Sache der Mitgliedstaaten sind.
Jetzt aber sieht sich die EU Mächten ausgesetzt, die diese Bereiche als Bühnen nutzen, auf denen sie um Macht und Einfluss konkurrieren – mit wirtschaftlichen Instrumenten, um politische oder militärische Ziele zu fördern und umgekehrt. Die EU kämpft nicht nur um eine Antwort. Manchmal sieht es geradezu so aus, als würde sie ein anderes Spiel spielen. Wie ein Witzbold sagt: Sie will Softball in einer Hardball-Welt spielen.
Die Aufgabe des neuen Teams in Brüssel wird daher nicht in erster Linie sein, neue außenpolitische Ideen zu entwickeln. Es geht vielmehr darum, in Brüssel einen neuen Mechanismus zu etablieren, der geopolitisch agieren kann. Zweitens geht es darum, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernimmt. Drittens geht es darum, das Vertrauen und die Einheit der Mitgliedstaaten zurückzugewinnen.
Um Brüssel für ein geopolitisches Zeitalter zu rüsten, muss die EU sich angewöhnen, strategisch zu denken. Außenpolitik wird zunehmend auf der Ebene von Staats- und Regierungschefs gemacht. Der Präsident des Europäischen Rates sollte zudem eine proaktivere Rolle in der EU-Außenpolitik übernehmen und eine globale Präsenz, etwa in Form eines „Chairman of the Board“, aufbauen.
Der Europäische Rat sollte sich auf eine Agenda zum Thema „Souveränität der EU in einer multipolaren Welt“ einigen. Diese sollte wirtschaftliche und finanzielle Elemente (Bewältigung von Sekundärsanktionen, die Rolle des Dollars, Zahlungssysteme, Investitionsscreening, Technologieregulierung), Sicherheits- und Verteidigungselemente (Förderung einer größeren europäischen Verantwortung und Widerstandsfähigkeit gegen konventionelle, hybride und Cyberbedrohungen) und politische Diplomatie umfassen. Und um diese Agenda umzusetzen, müssen wir den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik durch mächtige Stellvertreter stärken.
Eine Möglichkeit wäre ein Team von europäischen Kommissaren, die verschiedene Teile der Welt abdecken. Eine andere wäre, nationale Außenminister mit Aufgaben im Namen Europas zu beauftragen. Zur Reorganisation der europäischen Verteidigung: Die Nato wird weiterhin die zentrale Institution für die territoriale Verteidigung Europas gegen Russland und anderen Angreifer sein. Aber für alle anderen Bereiche der europäischen Sicherheit bedarf es neuer Wege, um sich besser zu organisieren und mehr Verantwortung zu übernehmen – ob als besserer Partner für die USA oder um bei Bedarf allein handeln zu können.
Sicherheitsvertrag nach Brexit
Wenn Großbritannien die EU verlässt, muss es einen Sicherheitsvertrag geben, der es auch weiterhin möglich macht, Informationen auszutauschen und weiterhin bei der Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung zusammenzuarbeiten. Das bietet die Möglichkeit, nützliche Strukturen zu entwickeln, die der EU grundsätzlich helfen könnten. Ein Europäischer Sicherheitsrat könnte ein wirksames Hilfsmittel sein, um einen strategischen Austausch zu erhalten, der das Vereinigte Königreich einbezieht, und es den Willigen und die Fähigen erlaubt, Fortschritte zu erzielen. Der Europäische Auswärtige Dienst könnte hier federführend sein.
Es gibt verschiedene Modelle, um eine solche Struktur zu organisieren. Auf der einen Seite steht das Modell des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit ständigen und rotierenden Mitgliedern, auf der anderen Seite die Idee, das Vereinigte Königreich einfach einzuladen, sich einmal im Jahr einer Diskussion im Europäischen Rat anzuschließen. Ein Mittelweg wäre das Verfahren des Sicherheitsrates der Afrikanischen Union, welches vorsieht, dass Mitgliedsstaaten auf Basis regionaler Gruppierungen für ein zwei- bis dreijähriges Mandat gewählt werden.
Auch innerhalb der Nato muss es ein Umdenken geben. Während das Bündnis und die USA weiterhin im Mittelpunkt der europäischen Verteidigungspolitik stehen, soll das nicht bedeuten, dass die Amerikaner die Hauptlast tragen müssen, gerade wenn es um die Stärkung der Nato-Militärpräsenz in Mittel- und Osteuropa geht, die 2014 auf dem Nato-Gipfel in Wales vereinbart wurde. Die europäischen Verbündeten täten gut daran, darüber nachzudenken, dass die Unterstützung der USA im Rahmen der „European Reassurance Initiative“ auch in umgekehrte Richtung funktionieren könnte. Die neue europäische Regierung und wichtige Mitgliedsstaaten sollten diese Entwicklung schon jetzt antizipieren und eine proaktive Haltung einnehmen.
Militärbasen im Ausland etablieren
Die Europäer sollten verstärkt darüber nachdenken, mehr Militärbasen im Ausland zu etablieren, auch dauerhaft. Polens Vorschlag einer „Fort Trump“-Basis ist kontraproduktiv, weil er allen voran wieder die USA in die Pflicht nimmt und dabei die Nato umgeht. Zumindest aber zeigt der Vorschlag, dass der Nato-Gipfel in Wales damals danebenlag, als man sich gegen eine permanente Stationierung von Truppen in Osteuropa entschied. Wenn die EU-Mitgliedstaaten auch nur eine kleine Militärbasis in Polen gründen würden, wäre dies ein starker Beweis für die Solidarität der europäischen Verteidigung.
Im Kosovo sollte die EU die Führung der dortigen Nato-Mission übernehmen, um ihrem amerikanischen Partner zu beweisen, wie ernst sie es meint und wie wirksam sie sein kann. Schritte wie diese werden für die USA besonders überzeugend sein, wenn die EU innerhalb der Nato ein europäisches Ambitionsniveau formuliert und gemeinschaftliche Verantwortung für die Bereitstellung eines gewissen Teils der zukünftig geplanten Fähigkeiten der Nato übernimmt.
Ein Weg, wie die Europäer eine gemeinsame strategische Kultur entwickeln können, ist, gemeinsam Zeit im Schlamm zu verbringen. Zu diesem Zweck sollte versucht werden, ein operatives Element der EU-Außenpolitik wieder einzuführen. Für die Kampfgruppen sollten Übungen organisiert werden. Die Kampfgruppen sollten an die zivilen Krisenbewältigungsorgane der EU gekoppelt und den Vereinten Nationen für geeignete Aufgaben, wie etwa die Unterstützung in Libyen oder im Jemen, angeboten werden.
Die wohl größte Herausforderung wird es sein, das Vertrauen in die EU wiederherzustellen. In jüngster Zeit haben einige Mitgliedstaaten EU-Entscheidungen blockiert, um um die Gunst Dritter zu buhlen. Ungarn, Griechenland und Slowenien haben Resolutionen blockiert oder verwässert, in denen China in den Fragen des Südchinesischen Meeres und der Menschenrechte angegriffen wird. Es ist verlockend, dies durch die Einführung einer qualifizierten Mehrheit in der Außenpolitik zu umgehen. Aber zwei Punkte zeigen, woran dies scheitern könnte: Erstens, man braucht Einstimmigkeit, um eine Mehrheitsentscheidung einzuführen. Zweitens war das Beispiel der Anwendung der qualifizierten Mehrheit bei Flüchtlingsquoten kontraproduktiv, da einige Mitgliedstaaten sich einfach weigerten, dem EU-Beschluss zu folgen, und die EU sich als machtlos erwies.
Verteidigungslinie für die Kerninteressen vieler Länder
Die langfristige Herausforderung besteht darin, eine Form der Solidarität aufzubauen, indem gezeigt wird, dass die EU die erste Verteidigungslinie für die Kerninteressen vieler Länder ist. Anstatt kontroverse Themen zu vermeiden, sollten der Europäische Rat und der Rat für Auswärtige Angelegenheiten kontroverse Themen diskutieren, um konkurrierende Positionen miteinander in Einklang zu bringen und einen Kompromiss zu finden.
Dies könnte zum Beispiel dadurch gelingen, dass man Kerngruppen von Mitgliedstaaten ernennt, die sich mit kontroversen Fragen befassen, um Optionen und kollektive Standpunkte zu entwickeln, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausreichen. Diese Kerngruppen sollten laufend an andere Mitgliedsstaaten oder EU-Vertreter berichten – ähnlich wie es die EU-3 mit der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik beim Thema Iran getan haben.
Im Falle eines Ausbleibens von Fortschritten sollten sich die EU-Mitgliedstaaten aus der Position befreien, in der ihre Handlungen und Erklärungen von einem einzigen Mitgliedstaat verwässert oder blockiert werden können. Sie müssen sich daran gewöhnen, gemeinsame Erklärungen zu 25. oder 27. zu veröffentlichen.
Die EU wird darüber hinaus Strategien entwickeln müssen, um ihren wichtigsten geopolitischen Herausforderungen aus Russland, China und sogar den USA zu begegnen, und neue Ansätze für den Umgang mit dem Brandherd in ihrer Nachbarschaft, der vom Balkan bis zum Nahen Osten und zur Sahelzone reicht, erarbeiten müssen. Bevor die EU solche Strategien in Angriff nehmen kann, muss sie ihre Führung in den Mitgliedstaaten festigen und deren Vertrauen zurückgewinnen. Sie muss beweisen, dass sie die Mitgliedstaaten angemessen auf der außenpolitischen Bühne repräsentieren und ihre Kerninteressen gegen die Verwüstung von außen schützen kann. Aus dem Englischen übersetzt von Max Tholl.
Carl Bildt, Mark Leonard