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Nato-Fahne in Litauens Hauptstadt Vilnius
© Ints Kalnins/REUTERS

70 Jahre Nato: Die Nato bleibt Europas Schicksal

Von Deutschlands Verhalten in der Nato hängt viel ab. Die Bundesregierung darf nicht nur auf Europa setzen, denn das würde die EU spalten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sigmar Gabriel

Die Nato wurde vor 70 Jahren gegründet, um den großen Krieg zwischen West und Ost zu verhindern. Und das hat sie geschafft. Sie hat die Bedrohung durch den Blockfeind erfolgreich abgewehrt, ohne jemals in einen heißen Krieg mit ihm getreten zu sein. Dort, wo Nato-Verbände zum Einsatz kamen, erfolgte es auf der Grundlage von Beschlüssen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE). Die oftmals kritisierte Ausnahme, der Kriegseinsatz von Nato-Verbänden im ehemaligen Jugoslawien während des Kosovokrieges, beendete Völkermord und ethnische Säuberungen, weil die Nato-Mitglieder – darunter auch Deutschland – dem Morden nicht länger tatenlos zusehen wollten.

Der erste und bislang einzige Fall kollektiver Verteidigung trat nicht ein auf Grund eines militärischen Angriffs durch einen gegnerischen Staat, sondern durch den Anschlag des Terrornetzwerks Al Qaida auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Und noch etwas gelang der Nato: gemeinsam mit dem Projekt der europäischen Einigung die Deutschen so einzubinden, dass von diesem großen Land in der Mitte Europas keine Gefahr mehr ausging. Die Nato, die North Atlantic Treaty Organisation, ist also alles andere als eine Kriegsallianz. Sie ist das erfolgreichste Bündnis zur Verhinderung und Beendigung von Kriegen, das es in der Weltgeschichte je gab.

Kernbestand des Vertrags, auf dem die Nato basiert, ist das Musketier-Prinzip „einer für alle, alle für einen“. Es steht in Artikel 5, der besagt, dass ein Angriff auf einen Bündnispartner als ein Angriff auf alle Bündnispartner gesehen wird. Die Übersetzung dieser Verpflichtung lautet: Wir sind bereit für die Freiheit unserer Partner zu sterben. Zugegeben: Dieser Satz klingt heute gerade für uns in Deutschland merkwürdig fremd und bedrohlich. Doch er stand auch hinter dem berühmten Satz des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, geäußert in Berlin: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können, ‚Ich bin ein Berliner’“.

Europa droht bei der Neuvermessung unter die Räder zu kommen

So war letztlich der Nato-Artikel 5 der Grund, warum West-Berlin frei blieb und die Bundesrepublik nie Sorge haben musste, von der Sowjetunion oder den Staaten der gegnerischen Warschauer- Pakt-Staaten in einen Krieg verwickelt zu werden. Und es ist heute dieser Artikel, den die Polen, Balten und andere Osteuropäer als Garantie für ihre Freiheit empfinden. Die in Deutschland oft geäußerte Kritik an der Nato-Osterweiterung, die gern als Begründung für das aggressive Verhalten Russlands auf der Krim und in der Ukraine dient, verweigert damit implizit diesen Staaten genau das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das wir Westdeutschen Jahrzehnte ganz wesentlich auch durch die Nato genießen konnten.

Heute leben wir in einem grundlegend anderen weltpolitischen Umfeld, und das nicht erst seit der Annexion der Krim. Wo einst klare Unterscheidungen herrschten, scheinen die Grenzen heute verschwommen zu sein. Während die atomare Bedrohung mit ihrem zerstörerischen Potenzial fortbesteht, hat die digitale Revolution das Gesicht des Krieges um eine weitere, in ihren vielen Facetten kaum greifbare Dimension erweitert. Neue Machtzentren sind neben die beiden Pole Washington und Moskau getreten. Es ist diese Unberechenbarkeit, die die Weltlage, in der sich die Nato an ihrem 70. Jahrestag ihrer Gründung befindet, so viel gefährlicher macht.

Es ist vor allem Europa, das in dieser Neuvermessung unter die Räder zu kommen droht. Das liegt an den zunehmenden Unterschieden unter europäischen Partnerländern und vor allem an einer grundlegenden Neuausrichtung der US- Politik. Wenn wir nicht wollen, dass Europa in die Bedeutungslosigkeit zurückfällt, dann müssen wir angesichts aktueller innerer Schwierigkeiten fragen, wie es früher gelang, die Einheit zu erhalten, mit der die Nato und ihre Bündnispartner auftraten.

Eine besondere Herausforderung war dabei die Dreiecksbeziehung Frankreich-Nato-Deutschland. Frankreich wollte unter der Führung de Gaulles eine einseitige Abhängigkeit Europas von den USA verhindern und verweigerte 1966 die Unterstellung französischer Truppen unter das Nato-Kommando. Frankreich war auch skeptisch, als es um die Frage der deutschen Wiederbewaffnung ging. Die Argumente dafür überwogen letztlich auch deshalb, weil es der deutschen Regierung gelang, den Spagat zwischen Wiederbewaffnung und Demut vor der jüngsten Geschichte zu halten.

Die Debatte um die Beiträge ist so alt wie die Nato selbst

Mit dem Pleven-Plan versuchte Frankreich, Deutschland besonders eng in europäische Strukturen einzubinden. Aus dieser Zeit rührt die Idee einer europäischen Armee - das Vorhaben jedoch scheiterte damals am französischen Parlament. Deutschland wurde wiederbewaffnet, und in die Nato-Strukturen integriert. Aus dieser Zeit rührt dabei auch der hohe Anteil der Vereinigten Staaten an den Verteidigungslasten Europas innerhalb der Nato. Wenn heute durchaus zu Recht die USA eine stärkere finanzielle Beteiligung der europäischen Mitgliedsstaaten an den Verteidigungslasten fordern, weil beide Volkswirtschaften doch längst gleich stark sind, war damals eine bewusste strategische Entscheidung: Europa und vor allem Deutschland sollten erst gar nicht über die militärischen Fähigkeiten zur eigenen Verteidigung verfügen, weil - vor allem mit Blick auf die Erfahrungen mit den beiden von Deutschland ausgehenden Weltkriegen - die Kontrolle dieser militärischen Gewalt in der Führung der USA liegen sollte.

Die Zusammenarbeit zwischen Staaten ist immer ein komplexes Unterfangen - häufig ist es vor allem die Frage nach den nationalen finanziellen Beiträgen für die kollektive Sicherheit, die für Spannungen sorgt. Diese Debatte, die wir ja auch heute beobachten, ist so alt wie die Nato. Es hat sich immer gelohnt, einen gemeinsamen Weg zu finden, denn mehr bleibt mehr. Alleingänge haben sich gerade in Europa historisch als gefährlich erwiesen.

Dies gilt für Donald Trump genauso wie für Deutschland. Zwar ist es richtig, dass Donald Trump das transatlantische Bündnis in Frage stellt, und in seinen Twitter-Meldungen immer wieder lautstark die Einhaltung des sognannten Zwei-Prozent-Ziels fordert, also die Investition von zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes der Mitgliedsstaaten in die nationalen Verteidigungshaushalte. Und es ist auch richtig, dass er das transatlantische Verhältnis mit seinen protektionistischen Maßnahmen und seinem nationalistischen Unterfangen konkret unter Druck setzt. Es ist aber auch richtig, dass wir derzeit auf der operativen Ebene der Nato sehr viel Positives über die Zusammenarbeit zwischen den USA und ihren europäischen Partnern hören.

Für wessen Freiheit wären die Deutschen zu sterben bereit?

Nato, Europa, Deutschland - drei Gewichte, die sich neu austarieren.
Nato, Europa, Deutschland - drei Gewichte, die sich neu austarieren.
© dpa

Mit Deutschland verhält es sich dem Eindruck nach genau umgekehrt: Wir bekunden unser Bewusstsein über die gestiegene Verantwortung, sind aber auf der operativen Ebene nicht mehr in der Lage, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Der Fehler liegt dabei nicht auf dieser Ebene, sondern auf der politischen. Es ist müßig, sich mit der Suche nach dem oder der Schuldigen aufzuhalten, denn es ist klar: Zu lange hat Deutschland sich vor der Frage gedrückt, wie es seine gestiegene Verantwortung sichtbar machen wird. Die Stärke der Nato lag in der Vergangenheit vor allem darin, sich trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen der Bündnispartner auf einen gemeinsamen Weg einigen zu können. Sie hat gezeigt, dass sie sich an veränderte Weltlagen und Herausforderungen anpassen kann. Die Einheit, die sie auch politisch so stark machte, war nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis unzähliger schwieriger Verhandlungen zwischen den Bündnispartnern. Die Bundesrepublik hat dabei als Frontstaat des Kalten Krieges vieles geleistet, militärisch ebenso wie politisch. Auf ihrem heutigen Territorium waren Millionen Truppen stationiert, tausende Panzer und Raketen standen einsatzbereit auf beiden Seiten der deutschen Grenze.

Gleichzeitig war es die Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts, die in Westdeutschland Verhandlungs- und Dialogangebote an die Sowjetunion formulierte, mit der schrittweise ein System gemeinsamer Sicherheit in Europa erreicht werden konnte. Eine Politik ganz im Einklang mit der 1967 formulierten Strategie der Nato unter ihrem Generalsekretär Pierre Harmel, die eine Abkehr von der reinen Konfrontationspolitik hin zur Verbindung von Verteidigungs- und Dialogfähigkeit einleitete.

Der Blick auf Deutschland in Europa ist überaus kritisch geworden

Die deutsche Haltung kennzeichnet seitdem eine klare Verankerung im politischen und militärischen Bündnis bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Entspannung und Abrüstung. Allerdings nimmt das aufgebaute Vertrauen wieder ab. Deutschland sticht hervor durch einen moralischen Rigorismus und innenpolitische Nervosität, die seine Verlässlichkeit zunehmend in Frage stellen.

Auch wenn wir es nicht zugeben wollen: Der Blick auf Deutschland in Europa ist überaus kritisch geworden. Zu groß, zu mächtig und zu dominant erscheint unser Land inzwischen vielen wieder. Nicht militärisch, aber politisch, finanziell und wirtschaftlich. Und zu ignorant hat sich Deutschland seit vielen Jahren gegenüber seinen großen europäischen Nachbarstaaten verhalten. Es ist kein Zufall, dass sowohl die Brexiteers als auch ihre Gegner im Vereinigten Königreich ihre Position mit der zu starken Stellung Deutschland in Europa begründen. Die einen wollen heraus aus einem deutsch dominierten Europa, die anderen verbleiben, um eine wachsende Dominanz zu verhindern.

Die Wahrheit ist: Weder Großbritannien noch Frankreich verfügen über die Kraft, Deutschland europäisch einzubinden. Nur die USA verfügen über ausreichen wirtschaftliche und politische Stärke. Würde sich Deutschland nicht zuletzt wegen der antideutschen Haltung des derzeitigen US-Präsidenten verführen lassen, von sich aus „nur“ noch auf Europa und nicht mehr auf das transatlantische Verhältnis zu setzen, würde es das Gegenteil von dem erreichen, was es zu wollen vorgibt: Es würde Europa spalten und nicht zusammenführen. Denn nicht zuletzt die osteuropäischen Mitgliedsstaaten werden ihre Sicherheit nicht allein den Europäern und schon gar nicht uns Deutschen überlassen. Zu sehr sind die historischen Erfahrungen z.B. in Polen davon geprägt, dass auf Deutschland im Zweifel kein Verlass ist. Und zu ungewiss erscheint es vielen Osteuropäern, ob ausgerechnet wir Deutschen bereit wären, für ihre Freiheit zu sterben. Das trauen sie nur den Vereinigten Staaten zu.

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht gar nicht darum, ob man im Zweifel die Bedrohungsanalyse der Balten und der Polen gegenüber Russland teilt oder nicht. Denn selbst wenn man sie nicht teilt und in Russland keine ernsthafte Herausforderung für die Sicherheit Europas oder Osteuropas sieht, wird man die Perspektive der osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU nicht einfach übergehen können, wenn Europa zusammengehalten werden soll.

Es ist die Nato, die innerhalb von Europa für Vertrauen sorgt

Geografie und Geschichte bestimmten auch im digitalen Zeitalter den politischen Blick auf Gegenwart und Zukunft. Im Ergebnis würde sowohl das Ignorieren der sicherheitspolitischen Sorgen der Osteuropäer Europa spalten als auch der Versuch sich in eine Äquidistanz zu den USA zu begeben. Der derzeit in Deutschland und Frankreich in Mode gekommene Begriff der „strategischen Autonomie“ jedenfalls wird Europa auseinandertreiben und nicht einen. Strategische Souveränität wäre das weitaus sinnvollere Ziel und entspräche in seiner Konsequenz auch der Forderung nach mehr Fairness bei der Lastenteilung innerhalb der Nato. Deutschland könnte dabei eine überraschend neue Rolle einnehmen: statt zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts nur in die Bundeswehr zu investieren und damit mittelfristig die Sorgen deutscher Dominanz eher noch zu steigern, könnte es 1,5 Prozent in seine eigenen Streitkräfte stecken und 0,5 Prozent in die Verteidigungsbudgets der Nato für Osteuropa. Unser Land übernähme damit innerhalb der Nato Verantwortung für die Sicherheit gerade Osteuropas, wozu in der Vergangenheit nur die USA bereit waren.

Anders als zu de Gaulles Zeiten geht es heute eben nicht mehr um die Frage nach einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft ODER der transatlantischen Integration in die Nato, sondern um beides. Trotz Donald Trump und seiner Versuche, die EU, die Nato und die transatlantische Partnerschaft in Frage zu stellen, ist es genau diese transatlantische Partnerschaft mit den USA, die innerhalb Europas für Vertrauen sorgt und uns zudem geopolitisch auszeichnet.  Nirgendwo in der Welt gibt es eine vergleichbare Verbindung dieser Art wie in der Nato. Wie es damit weitergeht, wird davon abhängen, ob sich Deutschland seiner strategischen Verantwortung bewusst wird.

An geopolitische Abstinenz gewöhnt

Heute verläuft zwar nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges die militärische Frontlinie quer durch Deutschland, aber eben doch eine politische. Denn nirgendwo innerhalb der Nato ist die Kluft größer als in Deutschland zwischen dem militärisch Notwendigen und dem gesellschaftlich Akzeptierten. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich an geopolitische Abstinenz gewohnt. Einerseits, weil wir Deutschen die Welt in die Katastrophe gesteuert haben, als wir uns das letzte Mal mit Geopolitik befassten. Andererseits, weil dieses Feld in der Vergangenheit von anderen beackert wurde - die zugleich auf uns aufgepasst haben. Und das waren insbesondere die USA.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Wir müssen jetzt auf uns selbst aufpassen und politische Verantwortung für unsere Bündnisse übernehmen. Jedes Bündnis – auch die Nato - ist am Ende nur so stark wie das glaubhafte Bekenntnis zwischen politischen Führungen in Regierung und Parlamenten der Mitgliedstaaten und der inneren Verfasstheit ihrer Gesellschaften. Deutschland muss zeigen, dass es dieses glaubhafte Bekenntnis abgeben kann und bereit dazu ist, seine Außen- und Sicherheitspolitik nicht ausschließlich von innenpolitischen Erwägungen leiten zu lassen.  

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