Massenmord in der Ukraine: Wer befiehlt die Massaker? Für Mariupol gibt es einen ersten Verdacht
In Butscha sollen Kriegsverbrechen begangen worden sein. Wer genau gab den Befehl? Unklar. Beim Mariupol-Angriff ist mehr bekannt – aber auch hier gibt es Rätsel.
Es sind erschütternde Bilder, die von Butscha um die Welt gegangen sind: Dutzende leblose Körper liegen in der ukrainischen Kleinstadt auf dem Asphalt, die Straßen sind von ausgebrannten Autowracks gesäumt, Wohnhäuser sind zerbombt. Mehr als 400 Tote wurden bisher entdeckt. Manche Leichen waren verbrannt, andere offenbar vermint. So sieht das Massaker von Butscha aus.
Noch ist unklar, welche Personen genau hinter dem Massenmord stecken. Doch die grundsätzlichen Zeichen weisen klar in eine Richtung: Laut ukrainischen Behörden aber auch internationalen Korrespondenten, die vor Ort sind, soll es sich um ein russisches Kriegsverbrechen handeln. Derzeit werden Zeugen gesucht – Angaben aus dem Gebiet lassen sich kaum unabhängig bestätigen.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]
Zugleich erinnern die Bilder an die heftigen Kämpfe um Mariupol. Auch hier sollen nach Angaben des Bürgermeisters Tausende von Zivilisten getötet und Wohngebäude dem Erdboden gleichgemacht worden sein.
Im Gegensatz zu Butscha gibt es aber für Mariupol Hinweise, wer konkret hinter den Gräueltaten an der Zivilbevölkerung stecken könnte: Generaloberst Mikhail Mizinzew. Er wird von der Presse und Politikern mittlerweile als „Schlächter von Mariupol“ bezeichnet.
Mariupol wird immer wieder mit Aleppo verglichen
Das britische Außenministerium verpasst Mizinzew diesen Schmäh-Titel jetzt sogar in einer offiziellen Erklärung. Inhalt des Schreibens waren Sanktionen gegen den Leiter des russischen Nationalen Verteidigungskontrollzentrums. Begründung? Er werde „mit der Planung und Durchführung der Bombardierung von Mariupol und anderen wichtigen russischen Militäroperationen gegen die Ukraine in Verbindung gebracht“.
Auch ukrainische Beamte und Aktivisten beschuldigen Mizinzew, erst die Belagerung und dann den Angriff auf die südukrainische Hafenstadt orchestriert zu haben. „Das ist Mikhail Mizinzew. Er leitet die Belagerung von Mariupol. ... Er hat große Erfahrung mit der Zerstörung von Städten in Syrien“, twitterte Oleksandra Matviichuk, Leiterin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten.
Die Zerstörung von Mariupol ist zuletzt immer wieder mit der Belagerung von Aleppo im Jahr 2016 verglichen worden. Damals halfen russische Streitkräfte dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad über mehr als ein halbes Jahr hinweg bei der Niederschlagung der Rebellen.
Zu einem internationalen Aufschrei führte dabei, dass neben konventionellen Luftangriffen auch Streubomben, chemische Waffen und andere verbotene Munition eingesetzt wurden.
Laut der Website des russischen Verteidigungsministeriums leitete Mizinzew ein ministerielles Koordinierungsgremium, das für die Rückkehr von Flüchtlingen während des Syrienkriegs zuständig war. In Mariupol war Mizinzew nun als Russlands Ansprechpartner für eine Vereinbarung mit den Ukrainern über eine humanitäre Waffenruhe benannt worden.
Zivilisten sollten aus der Stadt mit 100.000 Einwohner evakuiert werden und zugleich Hilfsgüter in die Stadt gebracht werden.
Doch die Aktion misslang mehrfach. Laut ukrainischen Angaben wurden stattdessen ein Entbindungskrankenhaus und andere zivile Ziele bombardiert. Dafür machte das ukrainische Militär Mizinzew „persönlich“ verantwortlich.
Aber an dieser Lesart gibt es Zweifel: US-Experten für die russische Armee sind durchaus überrascht, dass Mizinzew so explizit als „Schlächter von Mariupol“ herausgegriffen wird.
„Ich verstehe das alles ehrlich gesagt nicht – ich glaube nicht, dass er hier operative Führungsverantwortung hat, und er hat keinen besonderen Ruf als Schinder oder Schläger, von dem ich wüsste“, sagte Mark Galeotti, Honorarprofessor zum Thema Russische Streitkräfte am University College London der „Washington Post“.
Aktuell beliebt bei tagesspiegel.de:
- Keine Reporter vor Ort? ARD-Journalist irritiert mit Behauptung zu Butscha-Berichterstattung
- Steinmeier zieht bittere Bilanz: „In Putins imperialem Wahn habe ich mich geirrt“
- Gastbeitrag bei „Ria Novosti“: Russische Nachrichtenagentur ruft zur Vernichtung der Ukraine auf
- Melnyk macht Ampel-Ministern schwere Vorwürfe: „Steinmeier knüpfte ein Spinnennetz der Russland-Kontakte“ (T+)
- Er sollte Einfallstor nach Kiew sein: Der Flughafen Hostomel wird zum Sinnbild des russischen Scheiterns (T+)
Auch Keir Giles, Russland-Experte der britischen Denkfabrik Chatham House, will sich nicht auf Mizinzew als „Schlächter von Mariupol“ festlegen. Der Generaloberst sei zwar durchaus eine hochrangige Militär-Persönlichkeit in Russland, teilte er der „Washington Post“ mit.
Allerdings habe Mizinzew die letzten Jahrzehnte größtenteils in Positionen verbracht, die „eigentlich administrativer Natur waren – also nicht nur Stabsposten, sondern auch die Leitung von Hauptquartieren, Kommandoposten und Koordinationszentren“.
Giles betont dabei einen Gegensatz: „Er unterscheidet sich von den anderen prominenten russischen Befehlshabern, die zumeist über operative Erfahrungen vor Ort in Syrien verfügen.“
Damit erscheint Mizinzew zumindest bei Russland-Experten in den USA eher als unbeschriebenes Blatt. Und auch die US-Regierung will bislang nicht der britischen Lesart über den Generaloberst folgen: Sie USA haben keinerlei Sanktionen gegen den „Schlächter von Mariupol“ verhängt.
Die Mizinzew-Episode macht damit deutlich, wie schwer es ist, die Verantwortlichen für den tausendfachen Mord an Zivilisten auszumachen. Gesichert bekannt sind die russischen Einheiten, die in den Gebieten Dienst tun. In Butscha waren es zwei Einheiten der Luftlandetruppen (die 76. und 98. Division) und eine berüchtigte tschetschenische Einheit der Nationalgarde. Ob das weiterführt? Fraglich.