Gastbeitrag bei russischer Nachrichtenagentur: „Ria Novosti“ ruft zur Vernichtung der Ukraine auf
Der Autor des Gastbeitrags spricht der Ukraine die Daseinsberechtigung ab. Er fordert, alle Menschen zu töten, die das Land verteidigen.
Die staatliche russische Nachrichtenagentur „Ria Novosti“ hat einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem der Autor Timofei Sergeitsev unter dem Stichwort der „Entnazifizierung“ zur Vernichtung der Ukraine als Staat aufruft. Darüber hinaus fordert er, solche zehntausenden Menschen zu bestrafen und zu töten, die sich an der Verteidigung der Ukraine während des Kriegs beteiligen.
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Auch Wladimir Putin begründet die Invasion der Ukraine mit "Entnazifizierung" und nennt die Regierung in Kiew ein "Naziregime", das russischsprachige Menschen unterdrücke und das gestürzt werden müsse. Der Artikel liegt also auf Regierungslinie. Worin er klarer als bisherige offizielle Aussagen der Putin-Regierung ist, sind die Folgen und konkreten Maßnahmen, die diese "Entnazifizierung" erfordert.
Der Artikel (hier im Original und hier in der englischen Übersetzung) trägt den Titel „Was mit der Ukraine passieren muss“. In dem Artikel heißt es unter anderem in Bezug auf die Ukraine (nein, es geht nicht um Nazi-Deutschland):
„Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes - höchstwahrscheinlich die Mehrheit - von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese „das Volk ist gut - die Regierung ist schlecht“ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Maßnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.“
Und weiter: „Neben den oben genannten (Anm.: die Streitkräfte) ist jedoch auch ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, schuldig. Sie haben die Naziregierung unterstützt und geduldet. Die gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem erträgt, der so vorsichtig und umsichtig wie möglich gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird.
Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression (Unterdrückung) der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung.“
Und weiter: „Die Entnazifizierung kann nur vom Sieger durchgeführt werden, was (1) seine absolute Kontrolle über den Entnazifizierungsprozess und (2) die Macht, diese Kontrolle zu gewährleisten, voraussetzt. In dieser Hinsicht kann ein entnazifiziertes Land nicht souverän sein... Der Name „Ukraine“ kann offensichtlich nicht als Titel eines vollständig entnazifizierten Staatsgebildes in einem vom Naziregime befreiten Gebiet beibehalten werden.“
Der Artikel wurde (Stand Montagmittag) mehr als 300.000 mal angeklickt. Ria Novosti publizierte kürzlich wohl versehentlich einen Artikel, der den russischen Sieg feierte und wahrscheinlich eine der Ziele Russlands in der Ukraine offenbarte.
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Der Autor Sergeitsev unterstützt offenbar die liberal-konservative russische Partei „Bürgerplattform“. Im Jahr 2017 ist er zumindest auf einem Kongress der Partei in Moskau zu sehen.
Gründer der Partei ist der Oligarch Michail Prochorow, einer der reichsten Menschen Russlands. Nachdem er 2011 bei den Präsidentschaftswahlen noch gegen Wladimir Putin angetreten war, zählt er einer Liste der USA zufolge mittlerweile zu den Vertrauten Putins.
Sergeitsev wird in Medienberichten sowohl Schriftsteller als auch Filmproduzent genannt. Er soll an dem Drama „The Empty Home“ aus dem Jahr 2012 als Produzent mitgewirkt haben.
BBC-Reporter Francis Scarr nennt die Rhetorik des Gastbeitrags via Twitter selbst nach den gewohnten Standards der kremlnahen Medien „entsetzlich“. CNN-Reporter Neil Hauer sieht in dem Beitrag von Ria Novosti „eine vollumfängliche Genozid-Rhetorik“ in russischen Staatsmedien.
Hauer vergleicht das Massaker von Butscha mit dem Massaker von Grosny während des Tschetschenienkrieges 2000. Der Unterschied liege darin, dass die russische Armee Zivilisten töte, obwohl die Menschen in Butscha „ihre Verwandten sein könnten“, schreibt Hauer.