AfD hebt FDP-Mann ins Amt: Welche Folgen hat das Thüringer Beben für die Bundespolitik?
FDP-Politiker Kemmerich ist zum Ministerpräsidenten gewählt – mit Stimmen von CDU und AfD. In den Parteien brodelt es. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
In den Bundestagsbüros läuft der Fernseher, als um 13.05 Uhr der dritte Wahlgang in Erfurt beginnt. Ein Mann von der Linkspartei sagt am Telefon: „Ich habe ein schlechtes Gefühl.“ Die AfD werde ihrem Kandidaten nun keine Stimme mehr geben und alle dem FDP-Politiker Thomas Kemmerich zuschanzen. Er wird Recht bekommen. Im sonst so geschwätzigen Berliner Politikbetrieb herrscht an diesem 5. Februar erst einmal Sprachlosigkeit. Auf vieles war man hier vorbereitet. Aber auf so etwas irgendwie kaum.
Was heißt das für CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer?
Ausgerechnet der Ost-Beauftragte der Bundesregierung gehört zu den ersten Gratulanten. „Deine Wahl als Kandidat der Mitte zeigt noch einmal, dass die Thüringer Rot-Rot-Grün abgewählt haben“, twittert der CDU-Mann Christian Hirte an Kemmerichs Adresse. Er bleibt mit seiner Begeisterung allein.
Als einer der ersten Maßgeblichen in der CDU meldet sich Ministerpräsident Michael Kretschmer. Der Sachse nimmt keine Rücksicht mehr auf Nachbarschaft: „Die CDU in Thüringen hat nicht akzeptiert, dass sie die Wahl verloren hat & es keine Zusammenarbeit mit AFD geben kann.“
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist auf Besuch in Straßburg, als die Nachricht sie erreicht. Sie hat seit der Landtagswahl Ende Oktober wochenlang ihrem eigenwilligen Thüringer Statthalter Mike Mohring den Abgrenzungsbeschluss zur Linkspartei eingebläut. Jetzt bricht die Grenze nach rechts.
Mohring selbst versucht zwar eilends, den Eindruck des kalkulierten Tabubruchs zu zerstreuen. „Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien“, sagt der Thüringer CDU-Chef. Enthaltung habe sich aus „staatspolitischer Verantwortung“ verboten: „Wir haben uns entschieden, den Kandidaten der bürgerlichen Mitte zu unterstützen.“
Doch die Spitzen von CDU und CSU sind sich einig: nichts da mit staatspolitischer Verantwortung! Fast zeitgleich treten CSU-Chef Markus Söder in München und CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak in Berlin vor die Kameras. Söders Miene ist bitter ernst. „Es ist ein nicht akzeptabler Dammbruch“, sagt er. „Dieser Tag nützt nur der AfD.“ Was die FDP da in Erfurt getan habe, ignoriere den Wählerwillen. „Auch die CDU erleidet in hohem Maße Glaubwürdigkeitsverlust.“
Noch härter geht Ziemiak die eigenen Leute an. „Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und heute Thüringen und unser ganzes Land in Brand gesetzt“, sagt Kramp-Karrenbauers General. „Umso schlimmer“ sei, dass die CDU „in Kauf genommen“ habe, mit Nazis zu stimmen. Kramp-Karrenbauer droht von Straßburg aus mit Konsequenzen: Was in Erfurt passiert sei, sei „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“ geschehen und verstoße gegen Parteibeschlüsse.
Söder fordert Neuwahlen, Ziemiak fordert sie. Die Parteifreunde in Thüringen denken gar nicht daran. Man sehe die eigene Aufgabe darin, „Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden“. Kramp-Karrenbauer lässt das CDU-Präsidium telefonisch zusammenschalten. Die Parteispitze empfiehlt einstimmig: Neuwahl! Der offene Konflikt ist da.
Wird die SPD jetzt die große Koalition platzen lassen?
Im Willy-Brandt-Haus ist Fassungslosigkeit zu spüren. Es kommt umgehend zu einer Dringlichkeitssitzung. In Richtung der CDU-Vorsitzenden wird klargemacht, das könne so nicht stehen bleiben: „Das wird Auswirkungen haben.“ Wo es zuletzt so schien, dass das Regierungsbündnis nach der Unruhe durch die Wahl der Koalitions-Kritiker Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zu den neuen SPD-Vorsitzenden wieder in ruhigeres Fahrwasser kommt, wird dies das Verhältnis deutlich eintrüben.
Der thüringische CDU-Landeschef Mike Mohring sei wissentlich in die Falle gelaufen, einen FDP-Mann mit den Stimmen der AfD zum Regierungschef zu wählen. Wenn die CDU derart „mit Faschisten kooperiert“, hieß es in der SPD-Zentrale, sei eine Fortsetzung der großen Koalition kaum denkbar.
Esken fordert einen Koalitionsausschuss zu dem Thema. Fraktionschef Rolf Mützenich betont: „Die nächsten Tage werden zeigen, ob die Bundesvorsitzenden von CDU und FDP, Frau Kramp-Karrenbauer und Christian Lindner, noch die Kraft und den Willen aufbringen, eine fatale Entscheidung für unser Land zu korrigieren.“ Plötzlich gibt es den so lange gesuchten Anlass gerade für den linken Flügel, die ungeliebte Koalition zu kippen.
Erinnert wird daran, dass die Partei als einzige Fraktion gegen Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hat – es ist einer der wichtigsten historischen Bezugspunkte der Sozialdemokraten, der Fraktionssaal im Bundestag ist nach dem damaligen Fraktionschef Otto Wels benannt, der damals in seiner berühmten Rede sagte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Daher ist man hier besonders sensibel, die SPD sieht in jeglichem Schulterschluss mit der AfD einen Schritt hin zu einer Gefährdung der Demokratie.
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Walter-Borjans nennt die Wahl Kemmerichs mit Hilfe von CDU- und AfD-Stimmen einen „unverzeihlichen Dammbruch“. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sieht einen „Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Die FDP lasse sich von der AfD, „die mit Höcke einen waschechten Faschisten in den eigenen Reihen hat, an die Macht wählen“. Und die CDU spielt das gefährliche Spiel einfach mit.
Welche Bedeutung hat der Erfolg von Erfurt für die AfD?
Schon kurz nach der Verkündung des Auszählungsergebnisses frohlocken die Spitzenvertreter der Rechten. „Der erste Mosaikstein der politischen Wende in Deutschland: Sieg der bürgerlichen Mehrheit“, twittert Parteichef Jörg Meuthen. Fraktionschefin Alice Weidel verkündet: „An der AfD führt kein Weg vorbei.“ Und Co-Parteichef Tino Chrupalla erklärt: „Wir Konservativen stehen zusammen, wenn es um den Erhalt demokratischer Verhältnisse geht.“
„Konservativ“, „bürgerlich“ – das sind Attribute, mit denen sich die AfD gern schmücken würde. Der Thüringer Landeschef Björn Höcke gab sich in den vergangenen Monaten staatstragend. Dabei ist sein Landesverband einer der radikalsten innerhalb der AfD. Und Höcke führt mit dem „Flügel“ eine innerparteiliche Strömung an, deren Angehörige der Verfassungsschutz zum rechtsextremen Spektrum zählt.
Bereits kurz nach der Landtagswahl unterbreitete Höcke dem Wahlverlierer Mike Mohring von der CDU ein Tolerierungsangebot. Später erneuerte Höcke das Angebot zur Zusammenarbeit an Mohring und Kemmerich. Und Anfang der Woche stellte die AfD dann den parteilosen Bürgermeister Christoph Kindervater als Ministerpräsidenten-Kandidaten auf. Es war stets ein Lockruf an CDU und FDP: Es gäbe eine Mehrheit jenseits von Rot-Rot-Grün.
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Am Ende war der Kandidat Kindervater im dritten Wahlgang nur noch Staffage – da er parteilos ist, wurde auch kein eigener AfDler beschädigt. Die AfD konnte für Kemmerich die Rolle des Königsmachers übernehmen. „Ja, wir haben heute vielleicht auch mal die taktische Karte gespielt“, erklärt Höcke später in einer Videobotschaft. Was die AfD angestrebt hat, ist eingetreten: Sie ist Teil geworden einer Mehrheit jenseits von „Rot-Rot-Grün“. Es ist ein Schritt in die Normalisierung. Trotz drohender Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Trotz des Credos aller Parteien, dass es mit der AfD keine Zusammenarbeit geben kann.
Die AfD wird das in den kommenden Monaten versuchen, für sich zu nutzen. Bereits beim letzten Parteitag hatte die AfD-Spitze die Marschrichtung vorgegeben: weniger drastische Sprache verwenden, die „bürgerliche Mitte“ ansprechen, Regierungsbeteiligung vorbereiten.
Macht die FDP-Spitze das Thüringer Spiel mit?
Christian Lindner lässt keine Fragen zu. Der FDP-Chef weiß, in der eigenen Truppe kracht es. Bundestagsvize Wolfgang Kubicki hatte Kemmerich noch zum „großartigen Tag“ gratuliert. Doch Lindners eigener NRW-Landesverband widerspricht. Kein Liberaler dürfe sich von der AfD wählen lassen, erklärt Landeschef Joachim Stamp - Kemmerich hätte die Wahl nicht annehmen dürfen. Lindner versucht einen Spagat. Die FDP stehe für Freiheit, Weltoffenheit und strikte Abgrenzung zur AfD, „so lange ich die Freien Demokraten führen darf.“
Andererseits: Dass Kemmerich als „Kandidat der Mitte“ von der AfD unterstützt wurde – das sei doch „überraschend“ gewesen. Jetzt sollten alle „Parteien der Mitte“ versuchen, zusammen gemeinsame Projekte zu verwirklichen. Wenn Union, SPD und Grüne das allerdings verweigern sollten – dann wären Neuwahlen „aus meiner Sicht auch nötig“. Im übrigen handele der Landesverband in eigener Verantwortung.
Doch da widerspricht ausgerechnet sein eigener Mann in Erfurt. Er habe täglich mit Lindner telefoniert, das Vorgehen sei genau abgesprochen gewesen, plaudert Kemmerich abends im MDR-Interview. Und was Neuwahlen angehe: Nein, das sei „keine Alternative“, sagt der plötzliche Ministerpräsident.