100 Tage GroKo: "Was wir erleben, ist ein 'Schlimmer so'"
FDP-Chef Christian Lindner kritisiert nach 100 Tagen großer Koalition eine Politik des Stillstands. Auch andere Oppositionsparteien ziehen eine negative Bilanz.
FDP-Partei- und Fraktionschef Christian Lindner sieht in der bisherigen Bilanz der großen Koalition nach hundert Tagen einen "Offenbarungseid". Die FDP habe ein "Weiter so" und "vier ambitionsfreie Jahre" des erneuten Regierungsbündnisses aus Union und SPD erwartet, sagte Lindner am Donnerstag in Berlin. "Was wir erleben, ist aber ein 'Schlimmer so'."
In der CDU sei ganz offensichtlich ein Erneuerungsprozess verpasst worden, während die CSU wegen der anstehenden Landtagswahl in Bayern im Oktober "bis aufs Blut" mit der Schwesterpartei streite, fügte der FDP-Vorsitzende hinzu. Und die SPD sei derzeit "nicht der Rede wert", da sie keine eigenen Akzente setze: „Für die Opposition sind das schwierige Zeiten, denn die Regierung selbst ist sich Opposition genug.“
Politisch attestierte Lindner der großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Politik des Stillstands: Große Vorhaben gebe es nicht. Der FDP-Vorsitzende warf Union und SPD Fehler in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, auf europäischer Ebene und bei der Digitalisierung vor. Lindner verlangte zudem eine finanzielle Entlastung der Bürger.
Der FDP-Chef kritisierte unter dem Eindruck des heftigen Streits in der Union um die Flüchtlingspolitik den Zustand der großen Koalition. Es werde mit einer Schärfe und Härte gestritten, mit der die FDP als Oppositionspartei gar nicht mithalten wolle.
"Wir haben durchaus Kritik an der Bundeskanzlerin", betonte Lindner. "Aber die Art und Weise, wie auch innerhalb ihrer eigenen Partei und Koalition persönlich über sie gesprochen wird, und sie geradezu zu einer Hassfigur gemacht wird, das erschreckt uns sehr."
Schlechtes Zeugnis für die GroKo
Kritik gab es auch aus den anderen Parteien und der Wirtschaft. Für Grünen-Parteichef Robert Habeck ist die "GroKo" nach hundert Tagen bereits am Ende. Mit so einer "miserablen Performance" habe wohl niemand gerechnet, sagte Habeck im ZDF bezogen auf den Krach um die Flüchtlingspolitik. Besserung sei nicht in Sicht: "Die CSU wird nicht aufhören zu zündeln, bis die bayerische Landtagswahl vorbei ist." Dies sei alles zum Schaden der Demokratie.
Aus Sicht von Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch haben Union und SPD "einen Stotterstart mit Ansage" hingelegt. "Viel Gekeife und Gezeter - aber inhaltlich fast nichts bewegt." Gekommen seien von der großen Koalition allein die Erhöhung von Diäten und der Parteienfinanzierung, ergänzt durch "rechtes Wahlkampfgetöse" der CSU. "Die Bürgerinnen und Bürger haben mehr verdient."
Verbraucherschützer loben Musterfeststellungsklage
Aus Sicht von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel sind die ersten hundert Tage der Koalition "hundert schwarze Tage für Deutschland". Sie verwies unter anderem auf die Flüchtlingspolitik und die Missstände beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im Innern und die angespannten Beziehungen zu den USA und Russland im Äußeren. Weidel warf Union und SPD zudem einen "verschärften Krieg" gegen die deutsche Autoindustrie vor, der den deutschen Wohlstands gefährde.
Der Verband der Jungen Unternehmer warf der "GroKo" vor, die falschen Prioritäten zu setzen: "Während andere Länder die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen verbessern, verkleinert die GroKo die Spielräume für Arbeitgeber, erhöht die Stromkosten, plündert die Rentenkasse und vernachlässigt die Zukunftsthemen." Zudem komme die Digitalisierung nicht voran, es fehle ein Einwanderungsgesetz für Fachkräfte, auch Steuerentlastungen für Unternehmen solle es nicht geben.
Der Verbraucherzentrale Bundesverband lobte die beschlossene Musterfeststellungsklage im "Handelsblatt" als "Meilenstein für den Verbraucherschutz", auch das geplante staatliche Tierwohllabel sei positiv. Kritisch sieht Verbandschef Klaus Müller jedoch, dass sich der Dieselskandal ausgeweitet habe. Die Organisation Foodwatch vermisst wirksame Initiativen bei den Themen Übergewicht und Zucker sowie beim Tierschutz.
Wähler unzufrieden
Mehr als zwei Drittel der Deutschen sind unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur bewerteten nur 21 Prozent das Bündnis aus Union und SPD positiv. 36 Prozent sind dagegen unzufrieden und 33 Prozent sogar sehr unzufrieden mit der Regierungsarbeit.
Selbst von den Wählern der Regierungsparteien bewertet eine Mehrheit die große Koalition negativ. Im Unionslager sind es 54 Prozent. Die Wähler der SPD sind mit 74 Prozent sogar überdurchschnittlich unzufrieden.
Allerdings sagen nur 30 Prozent, dass es aus heutiger Sicht besser gewesen wäre, wenn ein Jamaika-Bündnis aus Union, Grünen und FDP zustande gekommen wäre. 42 Prozent meinen dagegen, dass es eine solche Koalition auch nicht besser gemacht hätte. 28 Prozent machen zu dieser Frage keine Angaben. (AFP, dpa)
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