Zoff in der Union: Wer im Asylstreit bei CDU und CSU welche Rolle spielt
Der Richtungsstreit um die Flüchtlingspolitik ist ein Spiel mit verteilten Rollen. Eine Galerie der Akteure in der Union – und was sie antreibt.
HORST SEEHOFER
Auf den ersten Blick ist er der zentrale Gegenspieler der Kanzlerin. Seehofer ist Parteichef, er ist Bundesinnenminister, sein Name steht über dem „Masterplan Migration“, über den alle streiten, den aber bisher praktisch niemand kennt. Außerdem hat er sich schließlich eineinhalb Jahre lang eine bittere Fehde mit Merkel geliefert.
Aber in der CDU fragen sich inzwischen selbst Leute, die inhaltlich seine Linie teilen, wie viel Beinfreiheit der 68-Jährige noch hat. Mancher stellt die Frage, ob Seehofer die Zurückweisung wirklich als Sofortmittel in seinen Plan schreiben wollte und nicht nur als letzten Ausweg für den Fall, dass die Flüchtlingszahlen sich irgendwann den vereinbarten Grenzwerten nähern würden.
Unbestreitbar jedenfalls, dass Seehofer als alternder Löwe auch im Schwarzer-Peter-Spiel steckt. Andererseits hat der erfahrene Spieler bisher den interessantesten Zug gemacht. Als Seehofer ankündigte, notfalls im Alleingang zu handeln, deuteten das die meisten als finale Zuspitzung. Aber der Minister hat sich – und damit indirekt Merkel – zugleich Zeit gekauft.
Sein Vor-Vorgänger Hans-Peter Friedrich hat diese Spielvariante zu Ende gedacht: Am Montag ermächtigt der CSU-Vorstand den Chef zum Alleingang. Dann wird der „Masterplan“ endlich mal vorgestellt. Dann wird die Zurückweisung vorbereitet – die Bundespolizei braucht ja Zeit für ein neues Kontrollregime. Und dann ist plötzlich der Monat zu Ende. Entweder bringt Merkel vom EU-Gipfel Rückübernahme-Absprachen mit Italien und anderen Ländern nach Hause – dann erklärt sich der CSU-Chef zum Vater des Erfolgs. Oder Merkel bringt nichts mit – ja, dann kann auch die Kanzlerin nicht mehr Nein sagen.
MARKUS SÖDER
ist das Produkt aus Edmund Stoiber und Horst Seehofer, und so tritt er auch auf. Söder hat in zwei Tagen in Berlin die Ministerpräsidentenkonferenz düpiert, die Zusammenarbeit zwischen Staaten in Europa für altmodisches Zeug erklärt und den Flüchtlingsstreit mit Merkel zum „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“ erklärt. Das alles nur auf schlechte Vorbilder zurückzuführen, greift allerdings zu kurz. Der Franke steht als Spitzenkandidat für die Landtagswahl massiv unter Erfolgsdruck.
Bisher deutet nichts darauf hin, dass er der CSU die absolute Mehrheit retten kann. Bisher spricht auch nichts dafür, dass die AfD in Bayern an Zulauf verliert. Aber Söder muss am 14. Oktober liefern. Denn er ist von Parteifreunden umgeben. Besonders einer wäre zu nennen. Söder hat Seehofer in einem Moment der Schwäche aus der Münchner Staatskanzlei geputscht. Seehofer vergisst Demütigungen nie. Und Söder kennt natürlich den Satz, den man in der CSU hören kann: „Nach der Wahl werden die Karten völlig neu gemischt.“
Da darf man nicht derjenige sein, der den Schwarzen Peter zieht. Nicht nur die christsoziale Tradition, sondern vor allem dieses ganz spezielle Peter-Prinzip erklärt einen Großteil der Lautstärke und Vehemenz, mit der die CSU Merkel unter Feuer nimmt: Wenn es schiefgeht bei der Wahl, will es keiner gewesen sein. Das hat einen regelrechten Wettbewerb um das härteste Auftreten in Gang gesetzt. Söder hat noch vor Kurzem die Zurückweisung bestimmter Flüchtlingsgruppen an der Grenze nur für den Fall gefordert, dass die Einrichtung von Ankerzentren nicht funktioniert. Neuerdings kann es auch ihm nicht mehr schnell genug gehen, Zentren hin oder her.
VOLKER KAUDER
Der Fraktionsvorsitzende ist in dem ganzen Spiel der ärmste Hund. Kauder hat Merkel seit Oppositionszeiten treu zur Seite gestanden, erst als Generalsekretär, seit ihrer Wahl zur Kanzlerin 2005 als Fraktionschef. Aber der treue Knappe ist qua Amt nun mal Vorsitzender der Unionsfraktion und kann sich als personifizierte Einheit der Schwesterparteien nicht einfach auf eine Seite schlagen. Der 68-Jährige will im Herbst obendrein wiedergewählt werden – auch das geht nicht ohne die bayerischen Brüder und Schwestern.
Diese schwierige Position erklärt allerdings nicht den schweren Fehler, der ihm vorige Woche unterlief. Der Streit um die Zurückweisung kochte am Dienstag schon hoch. Vor der regulären Fraktionssitzung steckten Merkel, Seehofer und Kauder demonstrativ die Köpfe zusammen. Kauder nahm wie immer als Erster das Wort und erklärte, man müsse über die Frage hier nicht diskutieren, weil die Vorsitzenden ja noch im Gespräch seien.
Was auf diese krasse Fehleinschätzung seiner Möglichkeiten und der Stimmungslage folgte, war eine Sitzung, die für Merkel zum Desaster wurde. Ihre Unterstützer hielten sich brav zurück. Aber ihre Kritiker scherten sich nicht um Kauder, meldeten sich wie ein Block zu Wort und forderten ultimativ den Schwenk auf Seehofers Kurs.
Merkels Schlusswort konnte den verheerenden Eindruck nicht mehr wenden, dass sie in der eigenen Fraktion alleine stehe. Unter diesem Eindruck eskalierte die CSU den Konflikt weiter bis zu dem historischen Donnerstag, an dem Christsoziale und Christdemokraten in getrennten Räumen ein beispielloses Fernduell aufführten. Ein schwer gereizter Kauder ging an dem Tag jeder Kamera und jedem Mikrofon weit aus dem Weg.
AKK & Friends
Die Ehre, kurz nach Amtsantritt vom CSU-Vorsitzenden angegiftet zu werden, haben noch nicht viele CDU-Generalsekretäre erlebt. Aber Annegret Kramp-Karrenbauers offener Brief an die Mitglieder erzürnte Seehofer: Was sich die Frau anmaße, ihn und seine Leute als „Provinzfürsten aus Bayern“ hinzustellen, die die europäische Idee nicht verstanden hätten! AKK, wie sie alle nennen, reagierte gewohnt nüchtern: Sie habe der CDU-Basis nur erläutert, warum die Partei Helmut Kohls deutsche Grenzkontrollen nicht in einem dieser Alleingänge wolle, die Europa weiter spalten würden, erläuterte sie mit denkbar harmloser Miene.
Die Generalin zählt zum Kreis derer, auf die Merkel sich auch in der Sache verlassen kann. Andere haben tagelang die Luft angehalten, einige wenige sich in Richtung CSU aufgemacht, als der Streit zu eskalieren begann. Nur AKK und der junge schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther stellten sich sofort hinter die CDU-Chefin.
Inzwischen ist die Phalanx wieder weitestgehend geschlossen. Dazu trägt die Sorge bei, dass der Geschwisterstreit außer Kontrolle geraten könnte. Merkels Zeit geht, so oder so, absehbar ihrem Ende entgegen. Aber auf einen plötzlichen Kanzlersturz mit anschließenden Chaoswochen in Berlin ist niemand scharf – angefangen vom Hessen Volker Bouffier, der sich zwei Wochen nach den Bayern mit einer schwarz-grünen Regierung der Wahl stellen muss, bis zur frischgebackenen Agrarministerin Julia Klöckner. Ein Ende der Fraktionsgemeinschaft mit der CSU mag sich auch keiner ausmalen. Dann lieber Merkel stützen und zugleich für Kompromisse werben.
ANGELA MERKEL
Seit sich die Kanzlerin im Herbst 2015 dafür entschied, Deutschlands Grenzen offenzuhalten, kämpft sie gegen einen tief in der CDU verankerten Impuls an: Wir sind die Partei der inneren Sicherheit. Bis zur Kölner Silvesternacht hielt sich das auch öffentlich mit dem Impuls zum Samaritertum die Waage; danach übernahmen die Sicherheitspolitiker die Diskurshoheit, zusätzlich getrieben von der AfD und der „Bild“-Zeitung. Inzwischen räumen auch Merkel-Freunde ein, dass die eigene Partei wundgescheuert ist.
Aber der Schmerz ist dann doch nicht so groß, dass die CDU ihre Chefin fallen lässt. Am Donnerstag stellte sich der CDU-Teil der Fraktion – auch für manche Teilnehmer überraschend deutlich – hinter Merkels Bitte, ihr Zeit für eine europäische Lösung für Zurückweisungen zu geben. Manchem dämmerte spätestens nach der eindeutigen Parteinahme Wolfgang Schäubles, dass eine Kanzlerin ihren Kampf für ein partnerschaftliches Europa gleich aufgeben könnte, wenn sie selbst zu nationalen Alleingängen nach dem Muster des Ungarn Viktor Orbán und anderer Nationalisten griffe.
Trotzdem bleibt Merkel Getriebene. Zwei Wochen sind wenig, um eine Lösung zu finden, deren Charme sich selbst die CSU nicht verschließen könnte. Dass sie, wie manche Christsoziale finden, die Drohungen aus Bayern in Brüssel als Druckmittel für eine Einigung einsetzen könnte, ist eine recht verwegene Hoffnung. Die Gefahr erscheint größer, dass andere die Chefin des vermeintlich allmächtigen Deutschland ganz gerne auch mal zappeln lassen würden. Scheitert sie, steht daheim sofort wieder die Machtfrage im Raum: Sich der CSU am Ende fügen – oder einen ganz großen Knall in Kauf nehmen?
JENS SPAHN UND ANDERE
Immer wenn Merkel in Schwierigkeiten steckt, taucht Jens Spahn im Bild auf. Letzte Woche gab es ein Foto mit Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz in einer Berliner Bar und am Freitag ein Trio im Bundestag: Spahn, Dobrindt und der FDP-Chef Christian Lindner saßen so demonstrativ in einer Hinterbank beisammen, dass nur noch das Schild „Bitte Foto – jetzt!“ fehlte. Die Drei haben sich in den Jamaika-Runden gefunden und arbeiten seither an ihrer Zukunft nach Merkel.
Am Donnerstag versuchte Spahn die Zukunft aktiv zu beschleunigen. Als Merkel das CDU-Präsidium telefonisch über ihr gescheitertes Gespräch mit Seehofer unterrichtete, forderte der Gesundheitsminister, über das weitere Vorgehen müsse die Fraktion entscheiden. In der Sitzung des CDU-Teils, in der sich Merkel breite Unterstützung für ihren europäischen Ansatz zur Grenzsicherung und einen Verhandlungsaufschub holte, verlangte er, die CSU-Abgeordneten zu einer gemeinsamen Sitzung hinzuzuholen.
Kauder, diesmal auf der Hut, ließ abstimmen. Der Antrag wurde abgelehnt. Er zielte allzu offensichtlich darauf ab, einen Showdown in der Fraktion zu erzwingen und die gut 50 Wortmeldungen pro Merkel durch die geballte Masse der 46 CSU-Parlamentarier zu neutralisieren, die sich im Fraktionsvorstandszimmer direkt nebenan mit Seehofer, Söder und Dobrindt in einen regelrechten Rausch der eigenen Stärke geredet hatten. Spahn und seine Freunde glauben, dass die große Mehrheit der Fraktion in der Flüchtlingsfrage innerlich auf CSU-Kurs sei. Spahn glaubt, dass Merkel längst nicht mehr alternativlos ist. Beides kann sogar stimmen. Nur ist für die CDU ein Jens Spahn auch nicht alternativlos.
ALEXANDER DOBRINDT
Wo die CSU den starken Max macht, ist der 48-jährige Oberbayer nicht weit. Maut, „Obergrenze“, jetzt „Zurückweisung“ – hinter all den Schlagworten lugt ein Dobrindt hervor. Schon als Generalsekretär verfolgte er eine Strategie der Besetzung rechter Räume, die er als CSU-Landesgruppenchef jetzt frei von jeder Einbindung weiter vorantreibt.
Der studierte Soziologe erprobt da eine Theorie: Wenn die CSU in den zentralen Debattenthemen, vor allem der Flüchtlingsfrage, sich als ultimative Law-and-Order-Partei präsentiert, wird die AfD überflüssig. Bisher folgen die Wähler der Theorie zwar nicht. Aber um ihrem Schöpfer eine solide Ausgangsposition im Kampf um den Parteivorsitz zu sichern, der irgendwann nach der Landtagswahl ansteht, reicht sein Agieren allemal.
Der Chef der CSU-Abgeordneten war denn auch treibende Kraft dabei, den Konflikt zuzuspitzen. Er hat als Erster die Forderung erhoben, alle Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, die schon in einem anderen EU-Land registriert sind. Er hat den Schwesternstreit am Donnerstag zur „historischen Situation“ erklärt und Druck aufgebaut, als müsse jetzt und hier eine Entscheidung erzwungen werden: „Wir haben der CDU mitgeteilt, dass wir jetzt Handlungsnotwendigkeit sehen.“ Der Mann, sagen selbst Parteifreunde, würde Merkel stürzen, wenn er sich davon auch nur einen kleinen Vorteil für die Bayern-Wahl verspricht.
Er war es dann allerdings auch, den Seehofer („Er ist unser Speaker“) vorschickte, um einzuräumen, dass es am Donnerstag mit dem Umsturz nichts wurde. Auf einmal fielen Worte wie „gemeinsame Haltung und Handlung“. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.