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Sanitäter im französischen Bordeaux bringen einen Corona-Patienten ins Krankenhaus.
© imago images/Hans Lucas

Gesundheitssystem, Wirtschaft, Finanzwelt: Was sich nach der Coronavirus-Pandemie ändern könnte

Die Coronavirus-Krise zwingt Gesellschaft und Politik auf nie dagewesene Weise, neue Antworten zu geben. Versuch einer ersten Bilanz.

Es ist ein großer Satz, aber er hat viel für sich. „Die Erfahrung, dass das Undenkbare denkbar geworden ist – das wird unser Leben ändern“, hat der Historiker Andreas Rödder dieser Tage gesagt. Und tatsächlich hat die Coronavirus-Pandemie die Menschen in eine Situation gebracht, in der viele bisherigen Erfahrungen und Sicherheiten nicht mehr gelten.

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Manche meinen, die Krise wecke positive Kräfte, ein neues Gemeinschaftsdenken entstehe. Andere warnen: Wenn es hart auf hart komme, siege der Egoismus. Fest steht: Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind gefordert wie nie zuvor. Erste Trends zeichnen sich ab. Was sich auf verschiedenen Feldern verändern könnte, versucht diese Bilanz zu skizzieren – ohne Anspruch auf Endgültigkeit oder Vollständigkeit.

Verhältnis zu Staat und Sozialstaat
Vor der Krise sprachen vor allem linke Parteien und Parteien der linken Mitte (Linkspartei, SPD, Grüne) davon, dass der Staat die Pflicht zur öffentlichen Daseinsvorsorge habe und im Zeitalter des Neoliberalismus in vielen Bereichen kaputtgespart worden sei. Unter dem Schock der Krise hat sich diese Einsicht bis weit in die bürgerliche Mitte hinein verbreitet.

Nun wird öffentlich breit debattiert, dass systemrelevante Berufe aus dem Care-Bereich miserabel bezahlt und wenig wertgeschätzt werden. Die These, wonach Leben und Sterben nicht allein von Sparprogrammen bestimmt werden dürfen, ist auf brutale Weise aktuell geworden. Dies dürfte auch nach dem Ende der Krise als Handlungsanleitung wichtig bleiben, wobei die konkreten Konsequenzen noch offen sind.

Joschka Fischer sagt voraus, dass wir einen „Vorsorgestaat“ aufbauen müssen, der viel Geld kostet, aber mehr Sicherheit garantieren kann. Beim Blick ins Ausland erscheint vielen Deutsche nun ihren Sozialstaat noch wichtiger als zuvor - vor allem im Vergleich zu den USA, wo die Millionen von Arbeitslosen nur wenig Unterstützung erhalten.

Folgen für die Wirtschaft
Covid-19 dürfte die Wirtschaft sehr viel stärker nachhaltig verändern als die Finanzkrise 2008. Denn zwei Dinge sind diesmal anders: Zum einen trifft die Coronavirus-Krise nahezu alle Länder der Welt. Zum anderen bekommen nun Unternehmen aller Branchen Probleme. Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt bereits vor der schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit der Großen Depression.

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Zwar gehen die meisten Ökonomen davon aus, dass es 2021 Nachholeffekte gibt - ausgleichen aber kann das die Einbußen nicht. In Deutschland hängt nun viel davon ab, ob es der Regierung mit Kurzarbeit, Förderkrediten und Soforthilfe gelingt, eine große Insolvenzwelle zu verhindern. Denn verschwinden zahlreiche Einzelhändler oder Mittelständler vom Markt, wäre das verheerend für ein Land, das durch seine Mittelschicht geprägt ist.

Dazu kommt, dass die aktuelle Krise mehr denn je vor Augen führt, wie abhängig Unternehmen weltweit voneinander sind. Zwar wird die Coronavirus-Krise die Globalisierung nicht komplett zurückdrehen. Unternehmen dürften sich nun aber sehr viel stärker bemühen, mehr von Zulieferern aus ihrer Nähe zu beziehen, als die Teile um die halbe Welt zu verschiffen. Zumal sich dieser Trend schon zuvor abgezeichnet hat – im Zuge des Handelsstreits, als China, die USA und die EU Zölle auf verschiedenste Waren angehoben haben. Für eine Exportnation wie Deutschland aber ist das mindestens eine enorme Herausforderung.

Konsequenzen für den Arbeitsmarkt
Schon in der Wirtschaftskrise 2008/2009 hat das Kurzarbeitergeld in Deutschland hunderttausende Jobs gerettet. Auch für diese Krise erwarten Arbeitsmarktexperten, dass das wieder der Fall sein wird. Instrumente wie die Kurzarbeit könnten in Zukunft auch dann benötigt werden, wenn in Zeiten des Strukturwandels ganze Branchen von Umwälzungen betroffen sind.

Wenn bestimmte Berufe wegfallen oder Tätigkeiten sich ändern, könnte allerdings Weiterbildung eine wichtigere Rolle als heute spielen. Auch deshalb wirbt Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dafür, Zeiten von Kurzarbeit künftig mit Weiterbildung zu kombinieren.

Die Krise zeigt aber auch, dass das soziale Sicherungsnetz noch nicht für alle reicht. Niedriglöhner können die mit der Kurzarbeit verbundenen finanziellen Einbußen nur schwer wegstecken. Für manche Kreativberufe ist es nach wie vor schwer, Arbeitslosengeld-Ansprüche zu erwerben, sie drohen in Hartz IV abzurutschen.

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Und viele Selbstständige bekommen die Folgen der Krise viel unmittelbarer zu spüren als angestellte Arbeitnehmer. Betroffen sind vor allem die „Solo-Selbstständigen“, die oft nicht über ausreichende finanzielle Rücklagen verfügen. Bei Letzteren sind sich Union und SPD einig, dass sie eine Vorsorgepflicht fürs Alter einführen wollen, um Altersarmut zu verhindern. Bei anderen Vorschlägen dürften CDU und CSU schon skeptischer sein.

Belastung der Finanzwelt
Wie gravierend die Rezession in diesem Jahr sein wird, wie tief die Einbrüche in den einzelnen Staaten sein werden, das kann noch niemand seriös vorhersagen. Aber eines lässt sich schon jetzt sicher feststellen: Die Welt wird deutlich höher verschuldet sein als zuvor. Die Staaten, aber auch viele Unternehmen und noch mehr kleine Geschäftsleute, die von Produktionsausfällen und den Lockdowns getroffen werden, müssen Kredite aufnehmen.

Vor allem die Staatsschulden könnten ein Problem werden: Die Ratingagentur S&P rechnete im Februar schon allein wegen der damaligen Konjunkturerwartungen mit einem Anstieg von fünf Prozent auf 53 Billionen Dollar. 60 Prozent davon entfallen allein auf die USA und Japan, weitere 17 Prozent auf China, Italien, Brasilien und Frankreich.

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Nun aber werden die Staatsschulden nochmals deutlich wachsen. Damit ist auch klar, dass die Notenbanken - von der Fed über die EZB bis hin zur Bank of Japan - die Leitzinsen nach Möglichkeit weiter sehr tief halten werden, um die Zinslasten nicht erdrückend werden zu lassen. So wird die Niedrigzinsphase, die mit der Finanzkrise 2008 begann, nun durch die Corona-Krise bis auf Weiteres verlängert.

Gesundheitssystem im Fokus
Eine Entdeckung der vergangenen Wochen war, dass schlecht bezahlte Berufsgruppen enorm wichtig sein können - und man tunlichst verhindern sollte, davon zu wenige zu haben. Dazu gehören zuvorderst Pflegekräfte. Dass sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter brauchen, ist seit langem bekannt. Nach der Krise muss es endlich was werden mit flächendeckenden Tarifverträgen und höherem Mindestlohn.

Bei der Herstellung von Arznei und medizinischem Gerät haben wir uns, auch das zeigt die Krise, aus Kostengründen in gefährliche Abhängigkeit von Billiglohnländern wie China und Indien begeben. Für Schutzausrüstung braucht es nicht nur eigene Produktionsstätten, sondern auch verlässliche Vorratshaltung. Bei Arzneimitteln muss die Wirkstoffproduktion auf mehr Länder verteilt und teilweise auch nach Europa zurückverlagert werden.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
© Annegret Hilse/Reuters

Die knallharten Fallpauschalen, mit denen Krankenhäuser kaputtgespart wurden, sind ebenfalls nachzujustieren. Zu viele Betten und OP-Säle für Eventualitäten bereitzuhalten, käme aber nicht nur teuer, es könnte auch zu gefährlicher Überversorgung verlocken. Und der eingeschlagene Weg zu Mindest-Leistungsmengen und stärkerer Klinik-Spezialisierung sollte ebenfalls nicht gestoppt werden, denn hier geht es um Patientensicherheit.

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Als vorteilhaft hat sich unser ambulantes Versorgungsnetz erwiesen, 85 Prozent der Covid-19-Patienten wurden in Arztpraxen behandelt. Dieses Teamwork mit Kliniken gilt es zu stärken. Zudem muss der öffentliche Gesundheitsschutz ausgebaut werden, die Gesundheitsämter brauchen mehr Personal und bessere Ausstattung.

Hintergrund zum Coronavirus:

Bei der Digitalisierung ist Gesundheitsminister Jens Spahn auf dem richtigen Weg, Telemedizin ist überaus wertvoll im Schutz vor ansteckenden Krankheiten. Und schließlich gilt es, sich auch ehrlich zu machen bei der häuslichen Pflege. Es kann nicht sein, dass ein derart reiches Land angewiesen ist auf Hundertausende osteuropäischer Hilfskräfte, die oft nicht mal registriert sind, in Krisen womöglich nicht ins Land dürfen und damit die Versorgung zusammenbrechen lassen.

Lehren für die Außen- und Europapolitik
Die erste Reaktion auf die Krise war in Europa und auch in Deutschland ein nationaler Impuls, was die EU deutlich schwächte, wenn nicht an den Rand des Kollabierens brachte: Abschottung, Versorgung der eigenen Bevölkerung mit medizinischer Ausrüstung und Hilfsmitteln zu Lasten der schon früh getroffenen Italiener und Spanier.

Die EU-Kommission versuchte, Handlungsfähigkeit zu zeigen. Angesichts der weltweiten Herausforderung müsst der Multilateralismus eigentlich eine Sternstunde erleben, also die Überzeugung, dass nur die Zusammenarbeit der Staaten und Kompromisse gemeinsame Probleme lösen können.

Tatsächlich könnte der wegen des Vormarschs der Populisten im Westen und in einzelnen EU-Staaten ohnehin massiv unter Druck stehende Multilateralismus aber noch weiter geschwächt werden. Die USA als Führungsmacht scheidet weitgehend aus.

Blick auf die Entwicklungspolitik
Die im Vergleich zu den Industriestaaten noch weit größere Schutzlosigkeit des globalen Südens gegenüber dem Virus erfährt im Moment nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Auch in den Medien dominiert die Frage nach dem Schutz der eigenen Bürger. Dabei erwartet Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) Millionen von Toten in Entwicklungs- und Schwellenländern, wenn die Welt nun nicht handelt. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Dimension der Herausforderung erkannt und versprach, die Anstrengungen zum Ausbau miserabler Gesundheitsversorgung in armen Ländern zu steigern.

Ob dies für andere Industriestaaten, insbesondere für die USA, gilt ist offen. Bliebe nur eine kleine Gruppe von Hilfsbereiten, die nun Förderprogramme aufstocken und internationale Anstrengungen koordinieren, könnten die auf der Welt wenig ausrichten. Barack Obama hatte 2015 in der Ebola-Krise die Führung übernommen, die Krankheit als Gefahr auch für sein Land erkannt und andere Staaten dazu gebracht, seine Anstrengungen dagegen zu unterstützen. Sein Nachfolger Donald Trump wird dies kaum tun. Dann aber besteht die Gefahr, dass das Virus aus armen Ländern in die reichen Staaten reimportiert wird.

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