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Freunde der Regenbogen-Kultur: Die Sozialdemokraten Klaus Wowereit und Martin Schulz feiern im Juni die Ehe für alle.
© Michael Kappeler/dpa

Professor für Neueste Geschichte: "Als Historiker kann ich nur sagen, es kommt nichts zurück"

Der Mainzer Professor Andreas Rödder erklärt, was die Postmoderne mit dem Siechtum der SPD zu tun hat und spricht im Interview über Widerstand gegen die Willkommenskultur.

Herr Professor Rödder, Sigmar Gabriel hat kürzlich geklagt, die SPD verliere so viele Wähler, weil sie zu sehr auf postmoderne Themen setze. Ist die Postmoderne ein politisches Phänomen?

Definitiv. Entstanden ist die Postmoderne in universitären Seminaren in Paris und im kalifornischen Berkeley in den 80er Jahren. Was auf den akademischen Höhenkämmen debattiert wurde, sickerte dann in die Breite westlicher Gesellschaften durch. CDU-Generalsekretär Peter Tauber hat vor einigen Jahren gesagt, in seiner Partei gebe es zu viele weiße, alte Männer. Mit diesem Jargon hätte er auch in einem Seminar der feministischen Theoretikerin Judith Butler in Berkeley Erfolg haben können …

Was ist die Hauptthese der Postmoderne?

Die hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard formuliert: Die „große Erzählung“, so sagte er, habe ihre Überzeugungskraft und ihre Verbindlichkeit verloren. Gemeint sind die großen Ordnungsentwürfe der klassischen Moderne seit dem 19. Jahrhundert, nämlich das Fortschrittsdenken der Aufklärung oder Hegels Vorstellung, dass die Weltgeschichte auf ein bestimmtes Ziel zulaufe. Gemeint sind ebenso die Geschlechterordnung der bürgerlichen Moderne mit der Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau oder die Vorstellung der Nationen als natürlicher Institutionen. Es betrifft die Geschichte, es betrifft die Vorstellung vom Westen. Die Postmoderne hat große und wirkungsmächtige Denkgebäude erschüttert.

Die These Gabriels lautet: Die Wähler rechtspopulistischer Parteien sind keine Anti-Modernisierer, sondern enttäuscht von der Postmoderne, die Zusammenhänge auflöst. Trifft er damit einen Punkt?

Gabriel trifft nicht den einzigen, aber er trifft einen wichtigen Punkt. Was die Postmoderne bewirkt hat, nannte der Historiker Zygmunt Bauman einmal die „Zerschlagung der Gewissheit“. Nun stellt sich aber die Frage: Was gilt, wenn das Alte nicht mehr gilt? Gabriel hat genau auf diese grundlegenden Orientierungsprobleme aufmerksam gemacht.

Was tritt an die Stelle des überwundenen Alten?

Das ist die entscheidende Frage. In den 80er Jahren haben viele die Auflösung der Gewissheit als Befreiung empfunden. Lyotard stellte die These auf, die Postmoderne habe nicht nur die Ganzheit zugunsten von Pluralisierung überwunden, sondern auch die Sehnsucht nach Ganzheit überwunden. Das war sein entscheidender Irrtum.

Warum?

Man könnte frei nach Sepp Herberger sagen: Nach der Dekonstruktion ist vor der Konstruktion. Aus der Auflösung der Ordnungsvorstellung der Moderne ist nämlich ein neuer Hunger nach Ganzheit entstanden. Diesen Hunger stillt eine neue Kultur, die ich als Kultur des Regenbogens bezeichne. Dabei geht es um Ziele wie Anti-Diskriminierung, Diversität, Inklusion und Gleichstellung.

Gabriel argumentiert, viele Menschen würden das Versprechen der Vielfalt nicht als Bereicherung empfinden. Sie hätten den Eindruck, ihre eigenen Bedürfnisse würden durch die Aufmerksamkeit der Politik für die neuen Themen missachtet. Ist das so?

Es gibt ein schlagendes Beispiel für die Richtigkeit dieser These – nämlich die Flüchtlingskrise und die Willkommenskultur nach dem Herbst 2015 in Deutschland. In der öffentlichen Debatte dominierte die Kultur des Regenbogens, der ungesteuerte Zuzug wurde als moralisch unabweisbar und gesellschaftlich bereichernd gefeiert. Gleichzeitig gaben die Wortführer dieser Kultur einen engen Rahmen des Sagbaren vor: Wer sich – egal mit welcher Begründung – gegenüber einem ungeregelten Zuzug skeptisch zeigte, wurde schnell als Fremdenfeind ausgegrenzt. Das hatte Züge einer repressiven Toleranz. In der Breite der Gesellschaft stieß die Willkommenskultur dagegen keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Vielmehr hat sie ganz erhebliche Gegenbewegungen provoziert, die mit dem Erstarken der AfD unser politisches System verändert haben. Denn Menschen, denen man bestimmte Denk- oder Sprachweisen vorgeben will, fordern ihre Freiheit oft umso vehementer ein.

Eine Folge der Postmoderne ist die Genderdebatte. „Gender Mainstreaming“ ist Ziel internationaler Abkommen. Sie sind einer der wenigen renommierten Gesellschaftswissenschaftler, der diese Entwicklung kritisch sieht. Was stört Sie daran?

Grundsätzlich hat die Postmoderne völlig Recht: Die Nation ist genau so wenig eine naturgegebene Kategorie wie die bürgerliche Geschlechterordnung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Beides sind kulturelle Konstrukte, beides sind auch Ordnungen von Macht. Jetzt aber kommt mein Einwand. Die Postmoderne sagt, dass alle Ordnungen diskursiv erzeugte Machtkonstrukte sind. Wenn das so ist, dann geht es auch bei den Forderungen nach Anti-Diskriminierung, Diversität und Gleichstellung um Macht.

Wo begegnet Ihnen Macht in der Gender-Debatte?

Denken Sie an die geschlechtergerechte Schreibweise mit großem Binnen-I für ProfessorInnen und ManagerInnen. Haben Sie jemals die geschlechtergerechte Schreibweise für MörderInnen und MenschenhändlerInnen gelesen? Über die Gender-Studies sind neue diskursive Ordnungen von aggressiver Männlichkeit und guter Weiblichkeit aufgekommen. Zugleich ist eine neue Hierarchie von ausgleichsbedürftigen Benachteiligungen entstanden. Der ehemalige Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger, seinerzeit selbst ein Förderer von Gender Mainstreaming, hat es so formuliert: An der Spitze stehen Frauen, am Ende stehen Behinderte.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Die Frauenquote für Aufsichtsräte von börsennotierten Unternehmen führt dazu, dass eine kinderlose Unternehmertochter aus München-Bogenhausen den Vorzug vor einem dreifachen Familienvater mit Migrationshintergrund und Behinderung aus Berlin-Neukölln erhält. Der Soziologe Talcott Parsons hat schon in den 50er Jahren die Einsicht formuliert, dass jede Inklusion neue Exklusionen nach sich zieht. Leider verweigern sich viele AktivistInnen von Gender Mainstreaming oder der „Queer Theory“ dieser Einsicht, sondern erheben einen unreflektierten, verbindlichen Geltungsanspruch für ihren eigenen Ordnungsentwurf. Mit dieser moralischen Aufladung und Ideologisierung entzieht sich die Kultur des Regenbogens der Debatte – und löst die Gegenbewegung aus, auf die Gabriel hinweist.

Begrüßen Sie, dass Menschen heute ihre sexuelle Orientierung frei leben dürfen und sich der Staat nicht mehr am dualen Geschlechtermodell von Mann und Frau orientiert, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat?

Absolut. Ich würde immer sagen, dass die Kultur des Regenbogens ganz erhebliche Emanzipationsgewinne mit sich gebracht hat. Wer die Ideologisierung und moralische Aufladung der Debatte kritisiert, sollte diese Fortschritte nicht geringschätzen.

Gabriel scheint ja eine Rückkehr zu den Versprechungen der Moderne vorzuschweben. Ist das überhaupt möglich?

Als Historiker kann ich nur sagen, es kommt nichts zurück. Die zentrale These der Postmoderne, dass nämlich die großen Ordnungsentwürfe der klassischen Moderne ihre Verbindlichkeit verloren haben, halte ich für eine nicht mehr umkehrbare Einsicht. Das hat zwei Konsequenzen. Erstens: Auf diese Einsicht folgen nicht herrschaftsfreie Diskurse, sondern neue vermachtete Ordnungskonflikte. Und zweitens: Ordnungsvorstellungen müssen immer wieder neu begründet werden.

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Bekannt wurde er mit dem Buch "21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart".
Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Bekannt wurde er mit dem Buch "21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart".
© Bert Bostelmann

Wie kann man vermachtete Ordnungskonflikte aufbrechen?

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat in seinem neuen Buch einen schönen Begriff vorgeschlagen: robuste Zivilität. Das heißt, wir sollten uns um eine sehr offene politische Debatte bemühen, die die Grenzen dort zieht, wo Grundwerte und Menschenrechte infrage gestellt werden oder völkisches Denken zutage tritt. Innerhalb dieser Grenzen sollten wir aber eine von gegenseitigem Respekt geprägte Auseinandersetzung führen, in der das Unliebsame nicht von vornherein als moralisch minderwertig ausgegrenzt wird. Eine breitere, eine lebendigere Debatte als die, die wir in Deutschland in den vergangenen Jahren geführt haben, könnte auch gegen die rechtspopulistische Herausforderung helfen.

Als bekennender Konservativer sind Sie selbst skeptisch gegenüber den großen Erzählungen und Versprechungen, denen ja auch die Sozialdemokraten mit ihrem Fortschrittsbegriff anhängen. Sind nach dem Ende der „großen Erzählung“ noch große politische Entwürfe möglich?

Ich bin ein postmoderner Konservativer. Das heißt, ich sehe keine naturgegebene Ordnung und bin auch skeptisch gegenüber der Rede von den "ewigen Werten". Es wäre aber ein böser Irrtum, wenn man deshalb zu dem Schluss käme, dass gar nichts mehr gilt. Die Nachgeschichte der Postmoderne hat ja gerade gezeigt, dass es Sehnsucht nach Sinn gibt. Welcher Sinn sich durchsetzt, das muss gut begründet und in einer demokratischen Öffentlichkeit ausgehandelt werden. Das gilt auch für die großen politischen Ideen: Was Sozialdemokratie, was Christdemokratie, was Liberalismus oder auch was grünes Denken im 21. Jahrhundert eigentlich heißt, muss neu begründet werden. Gabriel hat völlig richtig erkannt, dass davon das Überleben aller politischen Parteien abhängt. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele dafür, dass eine Partei schneller verschwindet, als die Zeitgenossen sich das vorstellen können.

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