„Afghanistan droht ein Exodus“: Was der Nato-Abzug bewirkt
Unter dem Druck der USA zieht die Nato ihre Truppen aus Afghanistan ab, ohne dass die Zukunft des Landes gesichert ist. Experten warnen vor schlimmen Folgen.
Dem deutschen Außenminister kann die US-Entscheidung zum baldigen Abzug aus Afghanistan nicht gefallen. Doch kein Wort der Kritik kam Heiko Maas über die Lippen, als er am Mittwochabend in der ARD die Lage erklärte. Gerade hatten die Nato-Partner beschlossen, den USA zu folgen und ihre Truppen auch aus Afghanistan abzuziehen.
Beim Werben um die Verlängerung des Afghanistan-Mandats für die deutschen Soldaten durch den Bundestag hatten Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ihre Meinung noch deutlich gesagt. Die Voraussetzungen für einen „vollständigen, verantwortungsvollen Abzug“ der Nato seien momentan „noch nicht gegeben“, erklärten sie vor Kurzem. Ein schneller Abzug gefährde nicht nur die „Stabilität Afghanistans und der Region, sondern auch die hart errungenen Fortschritte“, warnten sie. Die Truppenreduktion müsse deshalb von Fortschritten im Friedensprozess abhängig gemacht werden.
Am Donnerstagabend aber teilte das Verteidigungsministerium mit: „Verläuft alles nach Plan, werden bereits Mitte August alle deutschen Kräfte Afghanistan verlassen.“ So heißt es im Tagesbefehl der Ministerin und des Generalinspekteurs Eberhard Zorn.
Nur ein Wunder, sagt der Experte, kann noch Positives bewirken
Weil die Nato mitziehen muss, erwarten unabhängige Experten schlimme Folgen. „Etwas Gutes für Afghanistan entsteht aus dieser Entscheidung nicht“, sagte der Kodirektor des Afghanistan Analyst Networks, Thomas Ruttig, dem Tagesspiegel und schränkte zugleich ein: „Es sei denn, es trete das Wunder ein, dass sich nach dem vollzogenen Abzug die Taliban und alle anderen afghanischen Kräfte ernsthaft zu Gesprächen zusammensetzen und endlich den Krieg beenden.“ Die Taliban operierten aber aus „einer derartigen Position der Stärke“, dass sich gegen ihren Willen auch grundlegende Rechte und Freiheiten kaum sichern ließen.
Auch die Hilfsorganisation Caritas International kritisierte die Entscheidung. „Aus humanitärer Sicht ist dieser überhastete Abzug eine Katastrophe“, sagte ihr Leiter Oliver Müller. Es drohten Instabilität, eskalierende Gewalt und Entwicklungsrückschritte. „Alles, was in Afghanistan in den vergangenen Jahren erreicht wurde, ist sehr fragil.“ Zusätzlich zeichne sich wegen geringer Schneefälle im Winter Dürre ab. Zu erwarten sei, dass noch mehr Afghanen das Land verlassen wollten. Ohne Bildung, Arbeit, medizinische Versorgung und ausreichend Zugang zu Lebensmitteln und sauberem Wasser drohte dem Land „ein Exodus“.
Zu den US-Motiven meinte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der Abzug habe auch mit dem Eindruck der „Vergeblichkeit“ der Anstrengungen in Afghanistan zu tun, mit dem Eindruck, dass auch nach zwanzig Jahren das gewaltige Engagement der USA und der Nato nicht ausgereicht hätten, die gewünschten Ergebnisse hervorzubringen – ein befriedetes Land, in dem afghanische Sicherheitskräfte selbständig für Sicherheit sorgen. Wichtiger sei aber eine Art „Innenwende“ der amerikanischen Politik, die immer weniger bereit sei, sich an großen Stabilisierungsoperationen in den anderen Ländern zu beteiligen.
Stattdessen gebe sie der Frage Priorität, welchen Nutzen die US-Außenpolitik den amerikanischen Bürgern bringe. „Diesen Überlegungen sind die Folgen des Abzugs für Afghanistan untergeordnet“, sagte der Sicherheitsexperte.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
An den großen Entscheidungen der USA bezüglich Afghanistans sei die Nato als Institution und seien die Nato-Truppensteller nicht beteiligt gewesen. Die Folge nach Kaims Auffassung: „Damit bleibt der deutschen Politik nichts anderes übrig, einmal mehr den USA in ihrer Afghanistan-Politik zu folgen.“
Ist Solidarität mit den USA wichtiger als die Lage in Afghanistan?
Der Experte erinnerte daran, dass das deutsche Afghanistan-Engagement „von Beginn an vor allem Ausdruck der Solidarität mit den USA“ nach den Anschlägen von „Nine eleven“ gewesen sei. Für die deutsche Afghanistan-Politik gelte deshalb: „Landesspezifische Motive haben immer nur eine nachgeordnete Rolle gespielt.“
Anders als Kaim glaubt Professor Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, der Abzug sei "keinesfalls der amerikanischen Innenpolitik geschuldet". Seine Begründung: Nirgendwo in den USA gebe es Demonstrationen gegen den „Krieg“ in Afghanistan so wie seinerzeit gegen den Vietnamkrieg. Vielmehr vollziehe die Biden-Administration aus nachvollziehbaren strategischen Überlegungen heraus die bereits unter Obama begonnene Abkehr von der Politik der Regierung des Präsidenten George W. Bush.
Dieser sei ebenso wie viele Politiker und Politikerinnen in Deutschland der Überzeugung gewesen, man könne die Wurzeln des Terrorismus ausrotten, indem man in kritischen Staaten wie Afghanistan und dem Irak eine neue, demokratische Staatlichkeit aufbaue und dort viel Geld investiere. Krauses Fazit: "Diese Versuche sind grandios gescheitert, weil, anders als zu Zeiten des Marshallplans in Europa, die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen für einen politischen Paradigmenwechsel nicht gegeben waren."
Verhalten sich afghanische Politiker "korrupt und kleptokratisch"?
Die USA haben laut Krause in den zivilen und politischen Aufbau Afghanistans umgerechnet ähnlich viel investiert wie in den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Effekt sei bescheiden, weil die religiös-fundamentalistischen Taliban "lieber bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, als in einer modernen, laizistischen Welt zu leben". Zudem hätten sich die meisten kooperationsbereiten afghanischen Politiker "in einem Maße korrupt und kleptokratisch verhalten, welches wir uns hier kaum vorstellen können".
Ganze Familienclans hätten sich "bis zum Abwinken an westlichen Hilfsgeldern bereichert und bewohnen jetzt schicke Villen in London, New York, Florida, Dubai oder an der Cote d’Azur". Afghanistan sei "ein hoffnungsloser Fall". Der Politikwissenschaftler weiter: "Mir tun nur diejenigen in Afghanistan leid, die in anständiger und konstruktiver Weise sich darum bemüht haben, in diesem Land eine moderne Gesellschaft und eine funktionierende Demokratie aufzubauen." Zu diesen zähle auch Präsident Ashraf Ghani, der sich aber gegen die von seinem Vorgänger geschaffenen korrupten Machtstrukturen nie habe durchsetzen können.
Der Kieler Sicherheitsfachmann und Vertreter der "realpolitischen Schule"" in der Politikwissenschaft ist auch nicht der Meinung, eine Kopplung des Abzugs an Fortschritte bei den innerafghanischen Friedensverhandlungen hätte die Chancen erhöht, einen laizistischen Staat und Grundrechtsgarantien in Afghanistan zu erhalten. "Diese Art von Konditionalisierung wird doch schon lange erfolglos versucht", meinte er. Die USA hätten ihr militärisches Hauptengagement bereits 2014 beendet und seither vergebens gehofft, dass sich eine funktionierende Staatlichkeit in Afghanistan etabliert und Gespräche auf gleicher Augenhöhe zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban möglich würden. Doch: "All diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt."
Heute gehe es den USA nur noch darum, die Taliban dazu zu bewegen, den Abzug nicht zu stören. „Weltliche Garantien“ könne man mit den Taliban ohnehin nicht verhandeln, so Krause: "Das ist völlig illusorisch." Er könne zwar die Enttäuschung der deutschen Politik verstehen, müsse sich aber fragen: "Auf welchem Informationsstand befindet sich die Bundesregierung, insbesondere der Außenminister?" Jeder, der die US Diskussion zu Afghanistan seit 2014 verfolgt habe, müsse zu dem Ergebnis kommen, dass sowohl bei Demokraten wie Republikanern der Unmut über das Engagement gewachsen war und deshalb "irgendwann ein radikaler Schnitt zu erwarten war".
US-Außenminister Antony Blinken beriet am Donnerstag bei einem Überraschungsbesuch in Kabul mit dem afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani über den bevorstehenden Rückzug. Er wolle mit seiner Visite die anhaltende Unterstützung der USA für die Regierung und die Menschen in Afghanistan hervorheben, sagte Blinken.