Biden und die Menschenrechte : Verteidigung von Werten macht die USA attraktiv - und damit einflussreicher
Offene Kritik und realistische Politik: In seinen Abwägungen hat der neue US-Präsident den Test bisher bestanden. Ein Gastbeitrag.
Joseph S. Nye Jr. ist Professor an der Harvard University und Verfasser des Buches Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump. Copyright:Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org. Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Während seiner langer Karriere im US-Senat stimmte Joe Biden traditionell für die Unterstützung der Menschenrechte als Ziel amerikanischer Außenpolitik. Jetzt als Präsident wird sein Engagement in diesem Bereich auf die Probe gestellt.
Außenpolitik erfordert Kompromisse zwischen vielen Themen, zu denen die Sicherheit, die wirtschaftlichen Interessen und andere Werte gehören. Aber wenn es um Menschenrechte geht, werden Kompromisse oft als scheinheilig oder zynisch angesehen.
Nehmen wir die Ermordung des saudi-arabischen Journalisten und Dissidenten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat von Istanbul. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump wurde dafür kritisiert, klare Beweise für ein brutales Verbrechen zu ignorieren, um die guten Beziehungen zum saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS) zu bewahren.
Liberale kritisierten Trump für seine milde Reaktion auf den Mord an Khashoggi, er sei auf schamlose Weise sachorientiert und würde die Tatsachen leugnen. Sogar das konservative Wall Street Journal schrieb in einem Leitartikel: „Kein einziger bisheriger Präsident – noch nicht einmal ein so rücksichtsloser Pragmatiker wie Richard Nixon oder Lyndon Johnson – hätte eine öffentliche Stellungnahme wie diese schreiben können, die ohne jeglichen Anstandshinweis auf die amerikanischen Werte und Prinzipien auskommt.“
Es liegt im nationalen Interesse, Werte aufrecht zu erhalten
Trumps höchste Priorität lag darin, den Zugang zum Öl, den Absatzmarkt für militärische Ausrüstung und die regionale Stabilität zu sichern. Dabei ignorierte er aber, dass es ebenso in nationalem Interesse liegt, Werte und Prinzipien aufrecht zu erhalten, die für andere attraktiv sind.
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Indem die Amerikaner die Menschenrechte verteidigen, teilen sie der Welt mit, wer sie sind. Auf diese Weise können die USA ihren Einfluss vergrößern – und ihre Fähigkeit, ihre Ziele nicht nur durch Druck oder Geld, sondern auch über Attraktivität zu erreichen.
Um diese unterschiedlichen Interessenbereiche zu kombinieren, sind Kompromisse erforderlich, was zu Kritik an der Art führt, wie diese Kompromisse entstehen. Während des Wahlkampfs von 2020 kritisierte Biden Trump dafür, die Rolle des saudischen Kronprinzen beim Mord an Khashoggi zu ignorieren.
Als er dann Präsident wurde, ermächtigte er den Direktor der nationalen Nachrichtendienste, einen ehemals geheimen Bericht zu veröffentlichen, der MBS die Schuld für den Mord gab und sich dafür aussprach, 76 Saudis aus den Vereinigten Staaten zu verbannen und die Verwendung amerikanischer Waffen beim saudischen Krieg im Jemen einzuschränken.
Aber liberale Kritiker argumentierten, Biden hätte noch weiter gehen sollen. Sie forderten, die USA sollten den Kontakt zu MBS abbrechen und damit König Salman dazu zwingen, einen anderen Kronprinzen einzusetzen.
Viele Kenner des Königreichs glauben aber, diese Art von Regimewechsel läge jenseits der amerikanischen Möglichkeiten. Im Gegensatz zu Trump berief sich Biden auf die amerikanischen Werte, aber es wurde bezweifelt, ob er das richtige Gleichgewicht gefunden hatte.
Kritik und gleichzeitige Kooperation: Das ist keine Scheinheiligkeit
Ähnliche Fragen warf Bidens Politik gegenüber China auf. Er hat den chinesischen Präsidenten Xi Jinping dafür kritisiert, „nicht einen einzigen demokratischen Knochen“ in seinem Körper zu haben, und als sich Außenminister Antony Blinken und der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan mit ihren chinesischen Amtskollegen in Anchorage trafen, kritisierten sie Chinas Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang sowie die Unterdrückung der Demokratie und ihrer Verteidiger in Hongkong. Was Russland betrifft, bestätigte Biden eine Aussage, Präsident Wladimir Putin sei „ein Mörder“.
Aber als die Zeit kam, Staatsführer zu einem US-Klimagipfel einzuladen, standen auch Xi und Putin auf der Liste (obwohl die saudische Einladung an König Salman ging und nicht an seinen Sohn). War dies Scheinheiligkeit oder vielmehr der Ausdruck der realistischen Einschätzung, dass der Klimawandel eine so große Bedrohung ist, dass er ohne die Beteiligung der Regierungen dieser Länder nicht bewältigt werden kann?
China beispielsweise ist heute der weltweit größte Emittent von Treibhausgasen, und Saudi-Arabien sitzt auf dem weltgrößten Vorrat von Kohlenwasserstoffen. Ohne diese Länder an Bord kann es keine Lösung für unser Klimaproblem geben.
Wollen wir mit ökologischer Verflechtung umgehen, müssen wir lernen, nicht nur Macht über andere auszuüben, sondern auch mit anderen zusammen. Das bedeutet, bei Themen wie dem Klimawandel oder der Pandemie mit China zusammenzuarbeiten, auch wenn wir die Lage der Menschenrechte im Land kritisieren.
Wie messe ich, ob Politiker den Umständen entsprechend die beste moralische Entscheidung treffen?
Wie können wir dann entscheiden, ob unsere Politiker den jeweiligen Umständen entsprechend die besten moralischen Entscheidungen treffen? Wie ich in meinem Buch Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump argumentiere, können wir sie zunächst anhand einer „dreidimensionalen Ethik“ hinsichtlich ihrer Intentionen, ihrer Mittel und der Folgen ihrer Entscheidungen beurteilen.
Außerdem können wir sie an drei außenpolitischen Grundideen messen: Realismus, Liberalismus und Kosmopolitarismus, und zwar in dieser Reihenfolge.
Menschenrechte stehen nicht im Gegensatz zu nationalen Interessen
Die Menschenrechte dürfen nicht so betrachtet werden, als stünden sie im Gegensatz zu den nationalen Interessen der USA, weil Werte in Wirklichkeit Teil der amerikanischen Interessen sind. Wir sollten mit Realismus beginnen, aber nicht dort aufhören.
Falls möglich, sollten wir unsere Werte so durchsetzen, dass sie mit größter Wahrscheinlichkeit einen positiven Effekt haben. Gleichzeitig werden wir, wenn wir den Realismus nicht an erste Stelle setzen, bald wieder feststellen, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist.
Auf internationaler Ebene haben die US-Präsidenten über die Jahre hinweg nie das gleiche Ausmaß an Gerechtigkeit angestrebt wie in ihrem Land selbst. In der Atlantik-Charta von 1941 (einem der Gründungsdokumente der freiheitlichen internationalen Ordnung) erklärten US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill ihre Hingabe an das Ziel, Mangel und Angst zu besiegen.
Aber Roosevelt hat nicht versucht, seinen innenpolitischen New Deal auf die internationale Ebene zu übertragen. Sogar der anerkannte liberale Philosoph John Rawls glaubte, seine Gerechtigkeitstheorie könne nur auf die innerstaatliche Gesellschaft angewendet werden.
Gleichzeitig argumentierte Rawls, freiheitliche Gesellschaften hätten die grenzüberschreitende Pflicht, sich gegenseitig zu helfen und die Institutionen zu respektieren, die sich für grundlegende Menschenrechte einsetzen. Allerdings müssten sie es den Menschen in einer vielfältigen Welt auch ermöglichen, über ihre eigenen Angelegenheiten so weit wie möglich selbst zu bestimmen.
Also sollten wir fragen, ob die Ziele eines Politikers Werte umfassen, die im In- und Ausland attraktiv sind – aber gleichzeitig auch, ob diese Werte klug ins richtige Verhältnis gesetzt und auch Risiken berücksichtigt werden, damit eine erfolgreiche Umsetzung möglich wird.
Dies bedeutet, dass wir Politiker nicht nur nach Charakter oder Absicht beurteilen sollten, sondern auch danach, ob sie bei der Durchsetzung von Werten intelligent abwägen können. Bis jetzt hat Biden diesen Test bestanden.
Joseph S. Nye Jr.