Nato beendet Militäreinsatz: Abzug der Soldaten aus Afghanistan – was jetzt noch zu retten ist
Die Chancen für eine Demokratie in Afghanistan sind nicht mehr groß. Aber die Nato muss jetzt ein Mindestmaß an Garantien sichern. Ein Kommentar.
Manche haben es schon immer gewusst. „Wenn Gott eine Nation bestrafen will, dann lässt er sie in Afghanistan einmarschieren“, heißt ein Sprichwort. Tatsächlich ist die Liste der Länder lang, die in der Region zwischen Iran, Turkmenistan und Pakistan gescheitert sind. Im 19. Jahrhundert erlitt England vernichtende Niederlagen. Die Sowjetunion, die 1979 einmarschiert war, musste sich wenige Jahre später geschlagen zurückziehen.
Jetzt gehört mit den USA und ihren Nato-Verbündeten auch die stärkste Militärmacht der Welt zu den Gescheiterten. Präsident Joe Biden hat dem Versuch ein Ende gesetzt, dem Land durch eine militärische Intervention Stabilität und Demokratie zu sichern. Die Amerikaner waren nicht mehr willens, den längsten Krieg ihrer Geschichte weiterzuführen.
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Die symbolisch aufgeladene Entscheidung, die Soldaten bis zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September abzuziehen, mag dem US-Präsidenten daheim Vorteile verschaffen. Die Kosten des Krieges waren zuletzt höher als der Nutzen. Und er will alle Kräfte auf den Wettbewerb mit China und anderen autokratischen Mächten konzentrieren.
Aber Bidens Plan zum raschen Rückzug war mit den Verbündeten nicht abgestimmt, und er hat einen hohen Preis. Schon das Abkommen Donald Trumps mit den Taliban, nachdem die Truppen bis Mai abziehen sollten, gab den Islamisten viele Trümpfe in die Hand. In vielen Provinzen sind sie auf dem Vormarsch. Nach ihrem Motto „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“ minderte das feste Datum den Anreiz, für eine Beteiligung an der Macht Zugeständnisse zu machen. Die Verschiebung bis Anfang September ändert daran wenig.
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Die Bundesregierung hatte bis zuletzt dafür geworben, den Abzug von Fortschritten bei den Verhandlungen zwischen den Taliban und der Delegation der afghanischen Republik (mit der Regierung in Kabul verhandeln Taliban nicht) abhängig zu machen. Damit sollte der Druck hochgehalten werden. Aber der Multilateralist Joe Biden entschied allein.
Die USA schlugen die Chance aus, Afghanistan zu verändern
Dürfen sich damit alle bestätigen fühlen, die schon immer vor dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gewarnt haben? Zwei Gründe sprechen dagegen: Eine deutsche Verweigerung hätte damals den Zusammenhalt des Westens gesprengt, denn die Nato hatte erstmals den Bündnisfall ausgerufen.
Und als Gerhard Schröder den USA „uneingeschränkte Solidarität“ versicherte und im Dezember 2001 erstmals deutsche Soldaten nach Afghanistan schickte, war die Situation offen. „Nation building“ für Afghanistan schlugen die US-Verbündeten vor, doch George W. Bush griff den Irak an und bescherte der Welt damit zwei „never ending wars".
Die Chancen sind nicht mehr groß, in Afghanistan eine Demokratie aufzubauen. Aber die internationale Gemeinschaft hält Hebel in der Hand, um ein Mindestmaß an Garantien wie etwa Frauenrechte, zu sichern: Die Taliban wollen regieren, sie wollen ein Ende der Sanktionen und diplomatische Anerkennung. Einen Großteil der afghanischen Staatsausgaben bringen andere Länder auf.
Wer mit den Hebeln Wirkung erzielen will, muss sich international eng abstimmen. In 20 Jahren Einsatz haben Afghanen, haben amerikanische und deutsche Soldaten ihr Leben verloren oder wurden verwundet. Das sollte Grund sein, die Anstrengungen jetzt zu steigern.