Ist das Grundgesetz rassistisch?: Warum der Begriff „Rasse“ im Grundgesetz bleiben sollte
Die Grünen fordern, den Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz zu streichen. Das wäre fatal, meinen zwei Rechtswissenschaftler - und schlagen eine Alternative vor.
Dr. Cengiz Barskanmaz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Recht und Anthropologie am Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle. Dr. Nahed Samour ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Rechtsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin. Dies ist die bearbeitete Fassung eines Beitrags, der zuerst auf verfassungsblog.de erschienen ist.
Die Forderung, Rasse aus dem Grundgesetz zu streichen, schadet dem Antidiskriminierungsrecht und ist rechtsdogmatisch angreifbar. Die Forderung geht von einem für die Rechtswissenschaft ungewöhnlich eng interpretierten Begriff aus. Tatsächlich handelt es sich um einen international und interdisziplinär etablierten Rechtsbegriff, der zudem Überschneidungen mit zahlreichen anderen Formen der Diskriminierung zu fassen vermag, also auch intersektional ist. Erst durch einen solchen Begriff wird Rassismus, also Diskriminierung aufgrund der Rasse, benennbar und adressierbar. Der Rechtsbegriff Rasse ist ein notwendiges Instrument, um Rassismus (einschließlich Antisemitismus) antidiskriminierungsrechtlich angehen zu können.
Die Debatte, den Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz zu streichen, verkennt, wie vielfältig der Begriff verwendet wird
Die nun im Zuge der Anti-Rassismus-Demonstrationen erneut aufkeimende Forderung nach der Streichung des Rassebegriffs ist nicht neu. So haben europäische Staaten und einige Forschende im Jahr 2001 von der UN-Antirassismus-Konvention gefordert, den Begriff Rasse zu streichen, da dieser eine stillschweigende Anerkennung der Existenz von Rassen bedeute. Sowohl die Mehrheit der Vertragsstaaten als auch der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung wiesen diese Idee allerdings entschieden zurück: Eine Auslöschung des Begriffs negiere historische und gegenwärtige Ungleichheiten und berge die Gefahr der Verharmlosung.
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Diese Herangehensweise reiht sich in die Critical Race Theory ein, die gerade eine Antwort auf die weiße Rechtswissenschaft ist. Die weiße Rechtswissenschaft, so der Vorwurf, berücksichtige Rasse nicht oder nicht gebührend und gehe von einem „abstrakten Individuum“, konkret aber von einem weißen, männlichen, christlichen und heteronormativem Rechtssubjekt aus. Schwarze Rechtswissenschaftler*innen fordern Rasse als eine zentrale Analysekategorie ein.
Das Grundgesetz ist antirassistisch angelegt. Es reicht nicht, nur auf den Wortlaut zu schauen
Die gegenwärtige deutsche Debatte verkennt in mehrfacher Hinsicht die Vielschichtigkeit und Bedeutung des Begriffs.
Erstens in Bezug auf seine Funktion und Geschichte im Grundgesetz selbst. Die Behauptung, das Grundgesetz gehe mit dem Begriff der Rasse von der Existenz menschlicher Rassen aus, verkennt, dass nicht Rasse, sondern das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse den Ausgangspunkt bildet. Die aktuelle Forderung den Begriff zu streichen setzt den Unrechtsbegriff Rasse der Nürnberger Rassengesetze dem Verfassungsbegriff gleich. Ein solches Verständnis hält jedoch einer historischen, semantischen und vor allem teleologischen, also zielgerichteten, Auslegung im Lichte der deutschen Vergangenheitsbewältigung nicht Stand.
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Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse ist eine Ausformung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde und gehört damit zum Wesensgehalt des Grundgesetzes, das ja gerade als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus ausgerichtet ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde verbietet es, die Existenz von menschlichen Rassen in das Grundgesetz reinzulesen. Es gilt vielmehr, das Grundgesetz als ein antirassistisches Dokument zu lesen. Rassismus lässt sich nicht durch die Löschung der historischen Spuren des Nazi-Unrechts im Grundgesetz aus der Welt schaffen.
Alle wichtigen internationalen Verträgen und Abkommen zum Schutz der Menschenrechte verwenden den Begriff "Rasse"
Die Forderung nach der Streichung von Rasse verkennt außerdem, dass das Diskriminierungsverbot der Rasse im Völker- und Unionsrecht allgegenwärtig ist: die UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Menschenrechtspakte (Zivil- und Sozialpakt), die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation über Arbeits- und Sozialstandards und weitere UN-Vorschriften kennen den Begriff. Auf der europäischen Ebene findet er sich unter anderem im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in der Grundrechtecharta und in der EU-Rasserichtlinie – um nur einige von vielen internationalen Abkommen und Verträgen zu nennen.
Mit dem internationalen Rechtsbegriff der Rasse verknüpft ist außerdem eine lange Auslegungs- und Rechtsprechungsgeschichte, die an Anschluss und Wirksamkeit verlieren würde, käme der Begriff im Grundgesetz nicht mehr vor. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine wirksame Anti-Rassismus-Rechtsprechung entwickelt. Es hat etwa die mittelbare Diskriminierung, die Beweislasterleichterung und auch eine Arbeitsdefinition von Rasse und ethnische Herkunft herausgearbeitet. Diese Entscheidungen sind durch deutsche Gerichte zu berücksichtigen (auch, wenn darauf in der deutschen Rechtsprechung tatsächlich noch zu selten Bezug genommen wird).
Würde man den Begriff aus dem deutschen Grundgesetz streichen, würden internationale Bezüge entfallen
Auch dem Europäischen Gerichtshof ist es gelungen, im Antidiskriminierungsrecht eigene Akzente zu setzen. Er hat etwa im Fall Feryn klargestellt, dass auch ohne konkrete Betroffene die öffentliche Aussage eines Arbeitgebers, er „werde keine Marokkaner einstellen“, eine rassische Diskriminierung darstellt. Das kann die Antwort auf strukturelle Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sein. Außerdem hat der Gerichtshof eine weite Auslegung der Europäischen Rasserichtlinie bekräftigt.
Der Begriff der Rasse ist drittens nicht nur ein Rechtsbegriff, sondern spielt als Konzept den Sozialwissenschaften eine große Rolle – ein Konzept, auf das wiederum eine interdisziplinär informierte Rechtswissenschaft zurückgreift.
Die Sozialwissenschaften wenden den Begriff "Rasse" gegen den Rassismus
In den Sozialwissenschaften gilt Rasse als ein zentrales analytisches Konzept, das als eine soziale, also wertende Konstruktion verstanden wird. Wichtig ist hier auch, dass das Antidiskriminierungsrecht die Diskriminierungsmerkmale Geschlecht, Rasse, Religion und Abstammung nicht als objektive Merkmale konzipiert, sondern immer als soziale Konstrukte, die Ungleichheiten begründen. Wenn einem Schwarzen Mann der Zugang zur Disko verweigert wird, geht der Türsteher nicht davon aus, dass er biologisch der „schwarzen Rasse“ angehört, sondern dass Schwarzer Männlichkeit, wie im Falle von George Floyd, gefährliche, negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Das ist gemeint, wenn von Rasse und Geschlecht als soziale Konstrukte gesprochen wird, die zudem mit einander verschränkt sind. Rasse wird also als eine notwendige Kategorie herangezogen, um Diskriminierung zu messen, beispielsweise beim Racial Profiling.
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In einem Teil der hiesigen Rassismusforschung hingegen wird Rasse allzu oft mit Rassismus verwischt und zudem nicht als ein globales Konzept verstanden. Die Bezugnahme auf Rasse ist allerdings längst nicht a priori als rassistisch einzustufen. Ein Beispiel: Wenn sich eine Person oder die Bewegung „BlackLivesMatter“ als Schwarz bezeichnet, ist dies eine rassische (racial) Selbstidentifizierung, jedenfalls keine rassistische Bezeichnung. Ebenso ist Weiß nicht a priori als eine rassistische Kennzeichnung aufzufassen (anders im Falle des Ku Klux Klan). Die Bezeichnung weiß gilt in der Rassismusforschung als eine Benennungspraxis, die weiße Privilegien, Immunität und damit historisch gewachsene Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen soll.
Rasse gibt es nicht, aber sie wirkt
Die moderne, weiße Wissenschaft hat die Kategorie Rasse erschaffen und zu einer globalen Kategorie gemacht. Es bedurfte einige Jahrhunderte und Völkermorde, um zu erkennen, dass es Rassen nicht gibt. Doch noch immer haben wir es mit Auswirkungen der Kategorie Rasse zu tun. Rasse ist in der Welt, unser aller Sozialisierung, die Wahrnehmung dieser Welt, ist rassialisiert. Rasse gibt es nicht, aber sie wirkt. Und um dies sichtbar zu machen, greifen emanzipatorische Bewegungen Rasse auf, daher auch: BlackLivesMatter.
Die Forderung nach der Streichung übersieht außerdem die Erkenntnisse der Intersektionalitäts- und Geschlechterforschung, die unter anderem von der Schwarzen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé W. Crenshaw, geprägt wurden. Demnach muss Diskriminierung wegen bestimmter Kategorien nicht eindimensional, sondern intersektional, also mehrschichtig, sich überschneidend gedacht werden. Eine Diskriminierung wegen der Rasse und/oder der ethnischen Herkunft ist oftmals mit den Kategorien Geschlecht, Religion, Klasse etc. verschränkt.
Wie man den Wortlaut des Grundgesetzes sinnvoll ändern könnte
Was wäre ein Ausweg aus der Debatte?
Ein überlegenswerter Ausweg könnte dieser sein: Der Artikel 3 Absatz 3 GG könnte dem Wortlaut der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta angeglichen werden. Diese bedienen sich nämlich nicht einer personengebundenen, sondern einer objektiven Formel. Im Grundgesetz heißt es : „Niemand darf wegen ... seiner Rasse benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Dieser Wortlaut könnte durch „eine Diskriminierung wegen der Rasse ist verboten“ ersetzt werden. Keineswegs wirksam erscheint uns die Alternative, Rasse durch ethnische Herkunft zu ersetzen. Dies ist eine Verharmlosung von Rassismus. Wer gegen Rasse ist, muss auch gegen „Hautfarbe“ sein, denn auch das wäre biologistisch. Die Alternative „rassistisch“ würde die Logik des Antidiskriminierungsrechts durchlöchern, das eben mit Merkmalen arbeiten muss.
Die Debatte hat in Deutschland gerade erst begonnen. Jetzt bitte keine Symbolpolitik
Die Diskussion in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft über heutige Formen von Rassismus und das Diskriminierungsmerkmal der Rasse hat in Deutschland gerade erst begonnen – und schon soll der Kernbegriff gestrichen werden. Wer nun aber fordert, den vielschichtigen Begriff einfach zu streichen oder sprachlich zu polieren, droht, lediglich Symbolpolitik voranzutreiben, dem Antidiskriminierungsrecht zu schaden und weder internationale, intersektionale noch Schwarze Rechtswissenschaft ernst zu nehmen.
Das Konzept der Rasse hat eine Umdeutung erfahren hat und muss nicht ausschließlich rassistisch sein. Diese affirmativen Umdeutungen muss das Recht aushalten können. Und gerade weil die Wirkung des Konzepts der Rasse – ebenso wie Geschlecht und Alter – gesellschaftlich weiterhin spürbar und allgegenwärtig ist, kann es sich das Recht nicht leisten, die soziale und analytische Relevanz dieses Begriffs zu ignorieren. Zudem verspricht die Forderung nach der Streichung des Rassebegriffs eine Signalwirkung und Steuerung des Rechts, die sich noch dazu empirisch nicht belegen lässt.
Es wirkte grotesk, wenn wir den US-amerikanischen Kolleg*innen nach der Ermordung von George Floyd berichten würden, dass unsere Lektion daraus die Löschung des Diskriminierungsmerkmals der Rasse ist. Wir brauchen keinen symbolischen Aktionismus, sondern eine Versachlichung der Debatte, um so strukturelle Diskriminierung bekämpfen zu können.
Cengiz Barskanmaz, Nahed Samour
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