Aminata Touré und Karamba Diaby im Interview: „Deutschland ist kein rassismusfreies Land“
Es gebe ein „ernsthaftes Problem“ mit Rassismus, sagen die Abgeordneten Touré und Diaby. Ein Gespräch über Diskriminierung - und Vertrauen in den Staat.
Die Grünen-Politikerin Aminata Touré ist seit 2017 Abgeordnete im Kieler Landtag. Seit August 2019 ist die Politikwissenschaftlerin Vizepräsidentin des Parlaments. Ihre Themen: Migration, Antirassismus, Frauen und Gleichstellung, Kinder und Jugend und Queerpolitik.
Der Abgeordnete Karamba Diaby vertritt die SPD seit 2013 im Deutschen Bundestag. Der 58-Jährige aus Halle ist promovierter Chemiker. Er kümmert sich für seine Fraktion um Bildungspolitik.
Beide sind jeweils die einzigen Schwarzen im Parlament. Das Interview führen wir - in Corona-Zeiten - nicht persönlich, sondern per Videokonferenz, zwischen Kiel, Halle und Berlin.
Frau Touré, Herr Diaby, ist Deutschland ein rassistisches Land?
AMINATA TOURÉ: Ich halte nichts von Konfrontation. Was bringt es zu sagen: Ihr seid alle Rassisten. Ich benenne lieber das Problem direkt: Deutschland ist kein rassismusfreies Land. Wir haben ein ernsthaftes Problem mit Rassismus, und daran müssen wir arbeiten.
KARAMBA DIABY: Deutschland ist nicht durch und durch rassistisch, aber es gibt gefährliche rassistische Tendenzen, wie in vielen anderen Ländern auch. Allerdings sollte man nicht alle Menschen hierzulande unter Generalverdacht stellen.
Warum wird in Deutschland erst nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA über Rassismus diskutiert?
TOURÉ: Leider fehlt in der Gesellschaft das Bewusstsein oder Interesse, sich jenseits von solchen krassen Ereignissen mit Rassismus auseinanderzusetzen. Ich bin seit drei Jahren Sprecherin für Antirassismus, ich rede jeden Tag darüber. Wir brauchen mehr Bereitschaft zuzuhören. Dieses Thema geht nicht nur Minderheiten etwas an.
DIABY: Viele tun sich schwer, Ausgrenzungen wegen der Herkunft oder des Aussehens als rassistisch zu bezeichnen. Stattdessen wird von Ausländerfeindlichkeit oder Fremdenfeindlichkeit gesprochen. Das sind falsche Begriffe, die das Problem verniedlichen. Wenn Aminata aufgrund ihrer Hautfarbe ausgegrenzt wird, ist sie deshalb doch keine Ausländerin und auch keine Fremde in diesem Land. Sie ist Volksvertreterin, Deutsche, wie ich auch.
Warum tun viele sich schwer, Rassismus beim Namen zu nennen?
TOURÉ: Aus Unwissenheit oder Wegsehen-Wollen. Für viele ist das ein Kapitel der deutschen Geschichte, das sie mit dem Ende des Nationalsozialismus für überwunden hielten. Sie negieren, dass Rassismus ein strukturelles Problem in Deutschland ist.
SPD-Chefin Saskia Esken sagt, die deutsche Polizei habe ein Problem mit „latentem Rassismus“. Die Innenminister haben das vehement zurückgewiesen. Wer hat Recht?
DIABY: Saskia Esken hat nicht die gesamte Polizei in Deutschland unter Generalverdacht gestellt. Mit den reflexhaften Reaktionen soll doch nur vom eigentlichen Problem abgelenkt werden. Es führt aber nichts daran vorbei, dass wir Missstände, die es auch in der Polizei gibt, benennen müssen. Die NSU-Morde, der Tod von Oury Jalloh in der Polizeizelle in Dessau vor 15 Jahren, das sind doch bittere Realitäten in diesem Land.
TOURÉ: Die Polizei ist Spiegelbild der Gesellschaft. Aber wenn wir über Rassismus sprechen, sollen Institutionen frei davon sein? Seit Wochen protestieren weltweit Menschen gegen Polizeigewalt und Rassismus. Und das erste, was wir von den meisten Innenministern in diesem Land zu diesem Thema hören, sind Abwehrreflexe. Wenn sie diese Debatte nicht selbstkritisch führen, ignorieren sie nicht nur die Erfahrungen von vielen Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern tun auch der Gesellschaft keinen Gefallen.
Sie haben den Tod von Oury Jalloh angesprochen. In Sachsen-Anhalt wollte die Linke 2019 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einrichten, Ihre Parteikollegen von SPD und Grünen, die gemeinsam mit der CDU regieren, hielten das nicht für nötig. Haben Sie dafür Verständnis?
TOURÉ: Die Grünen vor Ort haben mir erklärt, dass sie im Koalitionsvertrag verabredet hatten, juristische Berater mit der Sichtung der Akten zu beauftragen. Ich finde das problematisch, weil viele Menschen nun den Eindruck haben, dass wir einer Aufklärung im Wege stehen. Diese Enttäuschung muss man ernst nehmen, weil es um die Frage von Grundrechten geht. Wenn jemand in einer Polizeistelle ums Leben gekommen ist, haben wir verdammt nochmal das Recht, zu wissen, was da passiert ist, weil es auch unser eigenes Leben tangieren könnte.
Herr Diaby, Sie selbst haben erlebt, dass Sie nur wegen Ihrer Hautfarbe von der Polizei kontrolliert wurden…
DIABY: Das war 2012. Ich bin mit einem anderen Schwarzen, den ich nicht kannte, am Bahnhof in Halle aus dem Zug gestiegen. Als wir uns zufällig zum gleichen Ausgang begaben, wurden wir von zwei Bundespolizisten kontrolliert. Zu dem Zeitpunkt lebte ich fast schon 30 Jahre in der Stadt. Das tat weh. Ich fühlte mich erniedrigt, gedemütigt. Schließlich sahen viele Pendler zu, mit denen ich jeden Tag im Zug saß. Aber ich will nicht jammern. Ich habe damals keine Anzeige erstattet, aber ich habe später von diesem Erlebnis erzählt, als ich an Polizeischulen und auf Polizeirevieren interkulturelle Trainings gab.
Was tut Ihre Partei, die SPD, denn gegen solches Racial Profilig?
DIABY: Das Bundespolizeigesetz muss geändert werden. Paragraf 22 ermöglicht anlasslose Kontrollen, das führt zu Racial Profiling. Darüber haben wir auch schon im Bundestag debattiert. Ich hoffe, dass es bald eine Mehrheit für eine Gesetzesänderung gibt.
Frau Touré, Sie sind Patin der Polizeischule in Eutin, die in der Vergangenheit auch wegen rechtsextremer Umtriebe aufgefallen ist. Ein Schüler hat mit Hakenkreuz posiert, Jugendliche wurden schikaniert. Was sagen Sie denen, wenn Sie heute die Schule besuchen?
TOURÉ: Ich war erstmal überrascht, dass die Polizeischüler und Ausbilder auf mich zugekommen sind und dann froh, dass wir das gemeinsam besprechen. Ich habe ihnen sehr offen von Fällen von Racial Profiling in Schleswig-Holstein berichtet und die Erwartung formuliert, dass es in der Ausbildung eine stärkere Sensibilisierung für Rassismus und einen professionelleren Umgang damit geben muss.
Sind Sie auf offene Ohren gestoßen?
TOURÉ: Ja. Die Schüler haben sogar angesprochen, dass es nicht nur während der Ausbildung ein solches Training geben müsse, sondern auch begleitend zum Beruf. Ich fand es gut, dass die so selbstkritisch waren. Mir geht es ja auch nicht darum, jeden Polizisten in Deutschland zum Neonazi abzustempeln. Im Gegenteil.
DIABY: Grundsätzlich gilt: Die Polizei muss sich stärker mit unserer vielfältigen Gesellschaft auseinandersetzen. Wir brauchen viel mehr interkulturelles Training, für die Polizei und den öffentlichen Dienst generell. In Sachsen-Anhalt beschäftigt sich gerade ein Untersuchungsausschuss mit der Frage, warum die Polizei in Halle am 9. Oktober letzten Jahres die Synagoge nicht geschützt hat, als dort der Anschlag verübt wurde. Eine Zeugin sagte aus, dass der hohe jüdische Feiertag nicht bekannt gewesen sei. Wenn das stimmt, muss sich das ändern.
Im Januar haben Unbekannte Schüsse auf Ihr Bürgerbüro in Halle abgegeben. Ist der Täter inzwischen schon gefasst?
DIABY: Leider nicht. Das Landeskriminalamt ermittelt weiter. Ich verlasse mich darauf und warte ab.
Sie beide müssen immer wieder Anzeige erstatten, wenn Sie per Post oder E-Mail rassistisch beleidigt werden. Hat das schon mal zu einer Verurteilung geführt?
TOURÉ: Am Anfang habe ich viele Hass-Botschaften gelöscht, erst letztes Jahr habe ich konsequent angefangen, diese Leute anzuzeigen. Ich bringe jetzt wirklich alles zur Polizei. Zum Glück habe ich jemanden beim Landeskriminalamt, dem ich regelmäßig berichten kann.
Mit Erfolg?
TOURÉ: Viele Anzeigen sind noch nicht zu Ende bearbeitet. Aber es ist ein gutes Gefühl, wenn man das nicht ignoriert. Man kommt in eine Position der Selbstermächtigung. Es ist auch ein wichtiges Signal an diejenigen, die glauben, sie könnten sich im Internet alles leisten.
DIABY: Aminata und ich haben als Politiker das Privileg, dass wir uns öffentlich wehren können. Hunderttausende andere haben diese Möglichkeit nicht. Deshalb mein Appell: In den sozialen Netzwerken müssen wir alle einschreiten, wenn Grenzen überschritten werden. Als Demokraten müssen wir ein Stoppschild aufstellen.
TOURÉ: Ich muss nochmal an den Punkt von vorhin anknüpfen. Ich finde es krass, dass es so schwer ist, eine kritische Diskussion über Rassismus in der Polizei zu führen. Dabei geht es doch darum, diese Institution zu stärken, weil sie im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger handeln soll. Viele Polizisten tun das ja auch. Wenn ich ein Problem habe, rufe ich auch nicht irgendeine Antifa-Gruppe an und frage, ob die mich schützen kann, sondern ich rufe die Polizei an.
Sie haben trotz allem volles Vertrauen in Polizei und Justiz?
TOURÉ: Natürlich. Sonst wäre ich nicht in die Politik gegangen. Dann wäre ich vielleicht als Outlaw im Wald unterwegs und würde irgendwelche Parolen skandieren. Ich habe Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen, ich bin dankbar, dass es sie gibt. Meine Eltern kommen aus einem Staat, in dem das nicht funktioniert hat. Umso wichtiger finde ich es, an diesen Strukturen mit zu arbeiten, sie zu immunisieren gegen Rechts und Rassismus.
DIABY: In Halle hat mich der Polizeipräsident nach den Morddrohungen persönlich angerufen. Die Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden ist hervorragend, das kann ich nur lobend erwähnen. Wenn Beamte so arbeiten, schafft das Vertrauen. Deshalb kann ich auch die Aufregung über das Antidiskriminierungsgesetz in Berlin, das gerade verabschiedet wurde, nicht verstehen.
Das Gesetz erleichtert es, gegen Diskriminierung durch Behörden vorzugehen. Mehrere Innenminister haben gedroht, ihre Beamten nicht mehr zu Polizeieinsätzen nach Berlin zu schicken. Sie sagen, es werde zu falschen Anschuldigungen kommen.
DIABY: Das ist total daneben, da kann ich nur den Kopf schütteln. Wir sollten das nüchtern betrachten: Das Gesetz ist dazu da, Opfer von Diskriminierungen zu schützen. Wenn ein Polizist seine Arbeit korrekt macht, muss er keine Angst haben, dass er willkürlich als Täter hingestellt wird. Wir leben in einem ordentlichen Rechtsstaat.
Frau Touré, Sie haben vor dem Kieler Landtag von Diskriminierungserfahrungen berichtet, auch davon, dass Sie einmal eine Wohnung nicht bekommen haben, weil der Vermieter keine Schwarzen haben wollten. Sie sagten aber auch, dass Sie ungern nach persönlichen Erlebnissen gefragt werden. Warum nicht?
TOURÉ: Weil das Situationen waren, in denen ich krasse Entmenschlichung, Demütigungen und Verletzungen erlebt habe. Das immer wieder zur Schau zu stellen, ist kein Moment der Stärke. Ich will auch nicht, dass Leute mich mitleidig angucken. Außerdem individualisieren diese Geschichten das Problem. Es geht aber um kollektive Erfahrungen, um Strukturen, ein System. Wir People of Color denken uns das nicht aus, wir erleben seit unserer Kindheit Diskriminierungen.
In der Politik finden wir heute nur wenige Menschen mit Migrationsgeschichte, das gleiche gilt für Zeitungsredaktionen. Auch jetzt sitzen Ihnen eine weiße Journalistin und ein weißer Journalist gegenüber. Was macht das mit der politischen Debatte, was bedeutet das für die Meinungsbildung im Land?
TOURÉ: Wir haben ein grundsätzliches Problem mit der Repräsentanz in Deutschland. Im Bundestag beträgt der Frauenanteil 30 Prozent, nur acht Prozent können eine Migrationsgeschichte aufweisen. Zu viele Menschen in Deutschland werden nicht vertreten. Deren Perspektive fehlt in der politischen Debatte. Es ist wie in einem Freundeskreis aus Akademikern, die am Küchentisch über das Ausbildungssystem sprechen, aber keiner hat selbst eine betriebliche Berufsausbildung durchlaufen und weiß, wie das ist.
Auch bei den Grünen mangelt es an Vielfalt. Wie viel Rassismus erleben Sie in den eigenen Reihen?
TOURÉ: Ich finde es leichter, die Frage zu beantworten, wo ich noch keinen Rassismus erlebt habe. Vielleicht, wenn ich mit meiner Mutter und meinen Schwestern in einem geschlossen Raum bin. Es ist auch nicht überraschend, dass in einem mehrheitlich weißen Land jede Partei mehrheitlich weiß ist. Es geht um eine angemessene Repräsentation. Wir müssen daran arbeiten, damit wir als Partei so viele verschiedene Menschen wie möglich vertreten können. Es geht hier um mehr als eine Diversity-Kampagne, es geht um das Wesen der Demokratie.
Herr Diaby, manche Sozialdemokraten sagen, die SPD solle sich um die Arbeitsplätze in der Autoindustrie kümmern, anstatt „Identitätspolitik“ für Minderheiten wie Schwarze zu machen. Was sagen Sie denen?
DIABY: Ich kenne niemanden, der so etwas sagt. Für mich gilt: Wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wenn eine Gruppe ausgegrenzt wird, müssen wir die Stimme erheben. Da macht es keinen Unterschied, ob es sich um viele Betroffene handelt oder um eine Minderheit.
Es gibt verschiedene Begriffe: Schwarz, afrodeutsch, People of Color. Können Sie verstehen, dass das weiße Deutsche verwirrt?
TOURÉ: Wenn Minderheiten eins lernen, dann ist es: immer Verständnis für die Mehrheit aufzubringen. Das ist unser Schicksal. Ich glaube aber an die Lernfähigkeit der Menschen. Ich erwarte, dass alle, die unsicher sind, welche Begriffe sie verwenden sollten, googeln, sich informieren. Das Wort „afrodeutsch“ aus den 80er Jahren habe ich selbst aus Büchern von Schwarzen Autorinnen für mich entdeckt. Genau so wie wir Schwarz mit großem „S“ schreiben, weil es nicht nur um eine Hautfarbe geht, sondern um eine soziale und politische Kategorie. Warum lesen wir das Buch „Farbe bekennen“, in dem diese Begriffe und die Geschichte dahinter erklärt werden, nicht in der Schule?
Gibt es Rassismus gegen Weiße?
TOURÉ: Nein. Weiße Menschen machen vielleicht auch mal die Erfahrung, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe Vorurteile erleben. Weiße erzählen mir oft: Ich war in Afrika im Urlaub, da hat mir auch jemand ungefragt in mein blondes Haar gefasst. Das ist kein Rassismus, du bist im Urlaub und stichst zufällig heraus. Wir aber leben in diesem Land und werden trotzdem nicht als Teil der deutschen Gesellschaft behandelt. Die rassistische Tradition weltweit, 400 Jahre Versklavung, Ausbeutung, kulturelle Beraubung und systematische Benachteiligung sind nun mal etwas völlig anderes als eine einmalige Urlaubserfahrung.
DIABY: Jeder Mensch kommt in Situationen, in denen er sich ungerecht behandelt fühlt. Für mich ist es nicht so wichtig, wie man das nennt. Entscheidend ist, dass die Gesellschaft in diesen Fällen etwas dagegen tut. Egal ob es Schwarze trifft oder Menschen mit türkischen Wurzeln.
Was können Weiße tun, um für weniger Rassismus im Land zu sorgen?
DIABY: Man darf Rassismus nicht kleinreden, negieren oder wegschauen. Es ist unheimlich wichtig, sich bei einem rassistischen Vorfall mit dem Betroffenen zu solidarisieren. Wenn jemand rassistisch beleidigt wird und dann den Eindruck hat, dass sich niemand dafür interessiert, macht das alles noch schlimmer.
TOURÉ: Jeder sollte einschreiten, wenn bei Familienfesten oder Vereinsfeiern ein rassistischer Spruch fällt. Egal ob nur Weiße anwesend sind oder eine Person, die von Rassismus betroffen ist.
Frau Touré, Sie wollen den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz streichen. Was würde sich dadurch verbessern?
TOURÉ: Der Begriff dient einzig und allein dazu, Menschen zu unterteilen. Dabei gibt es keine menschlichen Rassen, das ist eine Erfindung aus der Kolonialzeit. Mir ist wichtig, den Begriff „Rasse“ mit rassistischer Zuschreibung zu ersetzen. Der Begriff „Rasse“ ist genau die Ursache des Problems, weil er falsche Tatsachen vortäuscht - nämlich, dass es mehrere und nicht eine menschliche Rasse gibt.
DIABY: Das Land Sachsen-Anhalt hat den Begriff vor kurzem aus der Verfassung gestrichen. Ich hoffe, dass andere Bundesländer und auch der Bund bald nachziehen. Das Wort müsste im Grundgesetz durch das Konstrukt rassistische Benachteiligung ersetzt werden. Das heißt: „Niemand darf rassistisch oder wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Sie haben die Kolonialzeit angesprochen. In den USA und Großbritannien werden im Rahmen von „Black Lives Matter“ gerade Statuen von Kolonialisten oder Sklavenhändlern vom Sockel gestoßen. Endlich?
TOURÉ: Wir müssen viel mehr über die Kolonialgeschichte reden. In vielen deutschen Städten gibt es postkoloniale Straßenrundgänge, bei denen Menschen viel über die historischen Überreste aus jener Zeit lernen können. Und wenn Kolonialgeschichte und Sklaverei ausführlicher im Geschichtsunterreicht vorkämen, wäre viel mehr Menschen klar, dass das N-Wort ein rassistischer Begriff ist, der aus dieser Zeit stammt. Dann hört vielleicht auch endlich die Verwirrung auf, welche Bezeichnungen für Schwarze man verwenden sollte und welche nicht.
DIABY: Kolonialismus muss zeitgemäß behandelt werden. Dazu gehört auch, dass in den Schulbüchern Schwarze Menschen nicht so entwürdigend dargestellt werden, wie es bis heute oft der Fall ist.
Frau Touré, Sie und Ihre Eltern waren früher immer wieder von Abschiebung bedroht. Nun sind die Grünen in Schleswig-Holstein in einer Jamaika-Koalition, die ein Abschiebegefängnis baut und abgelehnte Bewerber nach Afghanistan abschiebt. Wie machen sie das mit sich selbst aus?
TOURÉ: Nach Afghanistan werden aus Schleswig-Holstein Straftäter abgeschoben, andere nicht – was ich aus humanitären Gründen für falsch halte. Diese Beschlüsse zu Afghanistan werden übrigens bei intransparenten Innenministerkonferenzen gefasst, bei denen kein Grüner sitzt. Ich lehne Abschiebehaft aus Überzeugung ab. Wir Grüne sind dagegen, dass es solche Einrichtungen überhaupt gibt und haben das auch auf einem Landesparteitag beschlossen. Und glauben Sie mir: Ich habe wie bekloppt dafür gekämpft, dass wir in unserem Land wenigstens bessere Standards in der Abschiebehaft bekommen, wenn wir diese Knäste schon nicht schließen können. Und jetzt muss ausgerechnet ich mich für die Politik der großen Koalition rechtfertigen! Die Verantwortung trage ich nicht alleine.
Macht es das besser?
TOURÉ: Die Bundeskanzlerin, die Innenminister und alle, die unbedingt an der Abschiebehaft festhalten wollen und nicht bereit sind, das Aufenthaltsgesetz zu ändern, tragen die Hauptverantwortung. Dass in Schleswig-Holstein so ein Gefängnis gebaut wird, liegt an der Vorgabe des Bundes, mehr Plätze für Abschiebehäftlinge bereit zu stellen. Ich bin dagegen. Aber in der Politik kann man nicht alles zu 100 Prozent durchsetzen, auch keine 100-prozentig antirassistischen Gesetze. Politik heißt manchmal auch, das Schlimmste zu verhindern. Das kann man zwar auf kein Wahlplakat kleben. Aber so ist es.
DIABY: Ich würde mir wünschen, dass meine lieben Bundestagskollegen von den Grünen sich das mal anhören, was du gerade sagst, Aminata. Genau für diese Art von Pragmatismus werden wir Sozialdemokraten im Bundestag von euch Grünen immer wieder heftig attackiert.
TOURÉ: Die heftigsten Vorwürfe für meine Position erhalte ich auch aus der SPD. Wir müssen diese Konflikte als linke Parteien auch austragen. Aber wir sollten uns schon fragen, ob es klug ist, uns ständig gegenseitig anzugreifen – oder ob wir die Attacken nicht eher gemeinsam gegen die CDU richten sollten, die immer weitere Verschärfungen des Asylrechts fordert.
Herr Diaby, im Jahr 2015, nach dem „Flüchtlingssommer“, hat Ihre Partei in der großen Koalition das Asylrecht maßgeblich verschärft. Sie haben dagegen gestimmt. Verzweifeln Sie manchmal an Ihren Sozialdemokraten?
DIABY: Es gibt immer den Punkt, an dem man sich fragen muss, ob man eine Entscheidung mit seinem Gewissen vereinbaren kann. In diesem Fall konnte ich das nicht. Für meine Kolleginnen und Kollegen war es aber nie ein Problem, dass ich von der Fraktionsdisziplin abgewichen bin.
Nach rassistischen Vorfällen läuft die Debatte in Deutschland oft gleich. Es gibt zunächst Empörung, dann ebbt die Diskussion ab, es ändert sich wenig. Glauben Sie, dass das nach dem Tod von George Floyd anders sein wird?
DIABY: Ich setzte meine Hoffnung darauf, dass die vielen schwarzen Vereine und Initiativen, die seit Jahren gute Arbeit leisten, jetzt mehr Gehör finden in der Politik. Die Bundesregierung hat einen Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus eingesetzt, der muss nun auch den Kampf gegen Diskriminierung voranbringen.
TOURÉ: Trotz der weltweiten Pandemie gehen in so vielen Ländern Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Das zeigt, wie viel Frust, Wut und Enttäuschung sich bei Schwarzen Menschen auf der ganzen Welt angestaut hat. Neben den USA waren die Demos in Deutschland übrigens weltweit die größten. Ich bin sicher: Viel mehr Menschen als früher haben begriffen, wie tödlich Rassismus ist. Ich hoffe sehr, dass sich nun auch etwas ändert.
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