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Vetreter der "Hufeisen-Theorie" geben sich Mühe, Gemeinsamkeiten zwischen Rechten in Chemnitz und Linken im Hambacher Forst zu finden.
© Collage: Reuter/Thilo Schmuelgen,Jan Woitas/ZB/dpa

Rechtsextreme Gewalt: Warum Chemnitz nicht der Hambacher Forst ist

Wieso muss jemand in Zeiten von Chemnitz und Köthen vor linksextremer Gewalt warnen? Es liegt an der schrägen Idee vom Hufeisen. Eine Replik auf Eckhard Jesse.

Auf eines kann man sich verlassen: Hetzt in Deutschland der rechte Mob, werden Menschen von Neonazis mit dem Tode bedroht, melden sich früher oder später Extremismusforscher zu Wort und mahnen, man dürfe aber auch die linksextreme Gewalt nicht vergessen. Diese werde in der Bundesrepublik nämlich unter-, die rechte hingegen überschätzt.

Einer dieser Experten heißt Eckhard Jesse. Im Tagesspiegel hat er gerade die Gewalttaten der Rechten in Chemnitz mit denen linker Umweltaktivisten im Hambacher Forst gleichgesetzt. Das ist erstens abenteuerlich und erfüllt zweitens einen Zweck.

Die Ausführungen solcher Extremismusforscher haben einen wahren Kern, der allerdings so simpel und banal ist, dass es dafür keinen Expertenrat braucht. Nämlich: Gewalttaten gehören in einem Rechtsstaat verfolgt, ganz egal, aus welcher Richtung sie kommen.

Das ist demokratischer Konsens, eine Binsenweisheit. Und jeder, der auf linksextreme Gewalt hinweisen möchte, hat dazu 365 Tage im Jahr Zeit.

Die Frage ist, warum die mahnenden Stimmen gerade dann besonders laut werden, wenn die Öffentlichkeit über rechte Gewalt erschrickt - wenn auf der Straße sichtbar wird, wie sich aggressiver völkischer Nationalismus Raum nimmt? Was sind das für Menschen, die ausgerechnet dann über linksextreme Gewalt sprechen wollen?

Die schräge Idee mit dem Hufeisen

Eckhard Jesse, Jahrgang 1948, hatte bis vor vier Jahren einen Lehrstuhl an der TU Chemnitz inne. Er glaubt an starke Gemeinsamkeiten zwischen Rechts- und Linksextremismus. Dass ihre Vertreter "einerseits weit voneinander entfernt und andererseits dicht benachbart sind, wie die Enden eines Hufeisens". Er hat sich das mit dem Hufeisen selbst ausgedacht, die wissenschaftliche Kritik daran ist vielfältig, grundlegend und massiv. Doch seine Expertise wird auch geschätzt, zum Beispiel vom Verfassungsschutz.

Zur Vorgehensweise von Experten wie Eckhard Jesse gehört es, dass sie beteuern, Links- und Rechtsextremismus nicht miteinander gleichsetzen zu wollen, um dann genau das ausgiebig zu tun. In seinem Tagesspiegel-Beitrag hat Jesse die Taten von Chemnitz in einem Satz abgehandelt, um dann mit sechs Mal so vielen Worten die der Umweltaktivisten anzuprangern.

Er beschreibt, wie sich "teilweise angekettete" Aktivisten in rechtswidrig entstandenen Baumhäusern verschanzten, wie Polizisten mit Fäkalien beworfen wurden. Und er kommt eben nicht zu dem Schluss, dass ein Vergehen schwerer wiegt als das andere. Dass Fäkalienwürfe zwar eklig und dumm sind, aber nicht mit Morddrohungen und Übergriffen gegen Andersdenkende und Journalisten vergleichbar sind. Jesse lässt alles gleichwertig nebeneinander stehen. Genau das ist Gleichsetzung.

Berichten Medien wirklich einseitig?

Experten wie Jesse werfen den Medien vor, bei linksextremer Gewalt wegzuschauen. Das ist Unsinn, und das erkennt jeder, der sich zum Beispiel die Berichterstattung des laufenden Jahres anschaut. Der Tagesspiegel etwa schreibt ausführlich über linke Steinewerfer, angezündete Autos, besetzte Häuser, den Anschlag auf eine Stromleitung, das Zeigen verbotener Symbole, die Angst vor Ausschreitungen am 1. Mai, Farbbeutelwürfe gegen eine Hauswand... Und er verharmlost die Täter - anders als Jesse behauptet - keineswegs als "Chaoten", sondern benennt sie als "linksextrem". Die Unterstellung, über linke Gewalt würde hinweggesehen, ist weltfremd. Jesse aber braucht diese These, sonst bräche sein Konstrukt zusammen.

Was seltsamerweise nie passiert: dass ein Extremismusforscher nach tagelanger Berichterstattung über linke Gewalt - etwa bei den G20-Protesten in Hamburg - ankommt und mahnt: "Wir dürfen aber die rechtsextreme Gewalt nicht vergessen!"

Was also treibt einen wie Jesse dazu, in Zeiten von Chemnitz und Köthen unbedingt über linke Gewalt sprechen zu müssen?

Eckhard Jesse ist ein Mann, der den Aufstieg der AfD nicht als Gefahr, sondern als "Zeichen einer Normalisierung" wertet. Heribert Prantl bescheinigte ihm schon vor Jahren die "Verharmlosung rechtsextremer Umtriebe".

Wer wissen will, wie Jesse tickt, sollte sich seinen Aufsatz "Philosemitismus, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus" durchlesen, er ist bereits 30 Jahre alt. Darin fordert Jesse, "die selbstquälerische Form der Vergangenheitsbewältigung" der Deutschen müsse endlich ein Ende finden.

Er mokiert sich über alle, die die Singularität des Nationalsozialismus als gegeben sehen. "Die (Gretchen-)Frage nach der Singularität lässt sich nur wissenschaftlich entscheiden und nach Vornahme eines Vergleichs: In welchem Verhältnis steht etwa die Judenvernichtung zu Stalins Massenmord an den sieben Millionen Ukrainern?"

Ein antisemitischer Klassiker

Der Aufsatz zeigt, wie sich die Gefahr von rechts systematisch kleinschreiben lässt. Jesse behauptet etwa, in der Bundesrepublik sei Rechtsextremismus "mehr Phantom als Realität", Andersdenkenden unterstellt er Hysterie. Dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden wirft Jesse vor, "mit schrillen Worten vor ,neofaschistischen' Umtrieben zu warnen".

Er fordert, nicht auf herbeifantasierten Antisemitismus hereinzufallen: "Jüdische Organisationen brauchen Antisemitismus in einer gewissen Größenordnung, um für ihre Anliegen Gehör zu finden." Sogar der antisemitische Klassiker, wonach die Juden selbst schuld sind am Judenhass, fehlt bei ihm nicht. Jesse schreibt: "Auf Dauer dürfte Judenfeindlichkeit nicht zuletzt gerade wegen mancher Verhaltensweisen von Repräsentanten des Judentums an Bedeutung gewinnen."

In seinem Aufsatz nimmt er einen Bürgermeister in Schutz, der gesagt hatte, zum Ausgleich seines Gemeindehaushalts "müsste man schon einige reiche Juden erschlagen". Laut Jesse war der Spruch lediglich „unvernünftig“. Trotz seiner Entgleisungen hat Eckhard Jesse Karriere gemacht. Und wird auch heute noch von Medien als Experte angefragt, um Chemnitzer Neonazis mit den Baumhausbewohnern des Hambacher Forsts zu vergleichen.

Wichtige Erkenntnisse, die Jesse auslässt

Die Gleichsetzung von Chemnitz mit dem Hambacher Forst ist eine unerträgliche Verharmlosung. Und wird ausschließlich von Leuten betrieben, die nicht vor Ort waren. Falls es wirklich Forschern bedürfte, um in diesen Zeiten rechte und linke Gewalt zu vergleichen, dann würde man sich wenigstens eine ehrliche Einordnung wünschen.

Dann müsste zum Beispiel erwähnt werden, dass die Proteste der Umweltaktivisten nicht ansatzweise an die Ausschreitungen in Wackersdorf oder Brokdorf heranreichen, und erkennen, dass der Rechtsstaat damit fertig wird. Andererseits würde ein seriöser Forscher herausarbeiten, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie eine Situation gab, in der Vertreter einer Parlamentspartei, die jetzt bei 18 Prozent steht, auf der Straße offen mit Neonazis paktieren und den Umsturz fordern – konkret: die Bundesrepublik abschaffen wollen. So eine Erkenntnis ist von Jesse nicht zu erwarten.

Eckhard Jesse hat ein paar Jünger, die seine Thesen konsequent weiterdenken. Lothar Fritze zum Beispiel, der bei Jesse habilitiert hat. Er griff den gescheiterten Hitler-Attentäter Georg Elser massiv an und bezweifelte die moralische Berechtigung für dessen Attentatsversuch, da dessen Vorgehensweise „nicht zu rechtfertigen” sei, zudem habe Elser vermutlich seine „politische Beurteilungskompetenz“ überschritten: „Konnte aber ein Durchschnittsbürger nach dem Münchener Abkommen im Herbst 1938 […] begründet mutmaßen, dass ein Krieg, für den Hitler verantwortlich sein wird, ,unvermeidlich‘ sei?“

Auch an Hitlers Kriegsgegnern arbeitete sich Lothar Fritze ab: „Der unbedingte britische Widerstandswille und die alliierte Unbeugsamkeit im Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation haben nicht nur Abermillionen Menschenleben gerettet (wer aber weiß letztlich, ob dies tatsächlich der Fall war), sondern zunächst einmal (und zwar definitiv) Abermillionen Leben gekostet.“ Fritze bezweifelte, dass Auschwitz ohne „bestimmte Entscheidungen der Kriegsgegner“ überhaupt stattgefunden hätte. Hierbei trügen die Alliierten zwar keine Mitschuld, aber eine „immense Verantwortung“, weil sie „eine mögliche Radikalisierung des zu allem entschlossenen Feindes“ hätten mitbedenken müssen.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Wirkung von Jesses Schaffen in Sachsen. Die dortige CDU hat sich jahrzehntelang auf die Hufeisen-Theorie und speziell auf Eckhard Jesse verlassen, Jesse fungierte zum Beispiel als Berater der Fraktion. Mit dem Ergebnis, dass breite Bündnisse gegen Rechts in Sachsen nie zustande kamen.

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Sebastian Leber

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