Extremismus: Warum wir linke Gewalt milder bewerten als rechte Gewalt
Chemnitz und Hambacher Forst: Über Doppelstandards in der Wahrnehmung und Bewertung von Militanz. Ein Gastbeitrag.
Als Sachverständiger beim Verbotsprozess gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht sprach ich mich 2016 unumwunden gegen ein Verbot dieser geächteten und politisch isolierten Gernegroß-Partei aus. Dabei hatte ich ein mulmiges Gefühl: Ließe sich mein Votum im Sinne eines verkappten Verständnisses für den harten Rechtsextremismus dieser Partei interpretieren?
Die Furcht davor, politisch abgestempelt zu werden, wäre im Fall einer winzigen linksextremistischen, gesellschaftlich eher ignorierten Kraft niemals aufgekommen. Dabei ging es mir als Extremismusforscher nur um eine angemessene, nicht militante Form der streitbaren Demokratie. Bereits dieses kleine Beispiel erhellt die höchst unterschiedliche Sichtweise auf Rechts- und Linksaußen.
In Chemnitz kam es nach der Tötung eines Deutschen durch Flüchtlinge bei einem Demonstrationszug zu einem Schulterschluss zwischen Teilen der AfD und Pegida mit dem zwielichtigen Lutz Bachmann. Dieser neue Befund muss ebenso erwähnt werden wie der alte, dass bei Gegendemonstrationen nicht selten die wenig zimperliche Antifa den Ton angibt. Aber oft bleibt das unveröffentlicht.
Zurzeit blockieren politisch links eingestellte Umweltaktivisten den zwischen Köln und Aachen gelegenen Hambacher Forst, um dessen vollständige Abholzung zu verhindern, obwohl die damalige rot-grüne Landesregierung der Rodung längst zugestimmt hatte. Entscheidungen des Kölner Verwaltungsgerichtes und des Münsteraner Oberverwaltungsgerichtes stellten dies nicht infrage. In den vergangenen sechs Jahren entstanden rechtswidrig in luftiger Höhe etwa 60 Baumhäuser, in denen sich etwa 200, teilweise angekettete Aktivisten verschanzten („Welcome to Danger Zone“). Die Polizei stößt bei den langwierigen Räumungsaktionen auf erbitterten Widerstand, der sich etwa in schweren Rechtsbrüchen zum Teil Vermummter gegen die mit Fäkalien beworfenen Ordnungskräfte richtet. Einige Demonstranten, die den Besetzern Solidarität leisten wollten, durchbrachen Polizeiketten, um in den abgesperrten Forst zu gelangen. Vielfach ist vom Robin-Hood-Idealismus der Braunkohlekraftwerksgegner die Rede, etwa bei Greenpeace und bei Grünen (die ihren Landesparteitag im Oktober als Zeichen des Protestes an den Hambacher Forst verlegt haben), ohne dass der hiesige gewaltbereite Linksextremismus, der Beistand durch eine militante Szene aus Europa erfährt, dabei groß zur Sprache kommt.
T-Shirts mit RAF-Logo gehen, mit NSU-Logo sind sie - zu Recht - undenkbar
In einer Gemengelage aus Idealisierung, Banalisierung und Mythologisierung spielt(e) die „Rote Armee Fraktion“ in der Popkultur eine Rolle. Bei der Punk-Band Wizo etwa lautet der Refrain des „R.A.F.“-Songtextes so: „Rote Armee Fraktion, ihr ward ein geiler Haufen! Rote Armee Fraktion, mit euch ist was gelaufen! Rote Armee Fraktion, ich fand euch immer spitze – leider war ich noch zu klein, um bereits bei euch dabei zu sein.
Doch mein Herz schlug damals schon für die Rote Armee Fraktion.“ Dieser Song löste kaum größere öffentliche Proteste aus. Machen wir ein Gedankenexperiment: Mit Sicherheit wäre eine derartige Verherrlichung des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ durch eine Band auf dezidierte Empörung gestoßen – zu Recht. In der Popkultur geriet die Gewalt der RAF zuweilen ganz in Vergessenheit. T-Shirts mit dem RAF-Logo, einem fünfzackigen Stern samt Heckler-&-Koch-Waffe, sind zu kaufen, ohne dass dies Aufregung verursacht. T-Shirts mit dem NSU-Logo – zu Recht – nicht.
Viele Bürger begreifen die unterschiedliche Wahrnehmung der Gewalt von rechts und links in Teilen der öffentlichen Meinung nicht. Im einen Fall, so der Vorwurf, wird dramatisiert, im anderen Fall bagatellisiert. Abgesehen von der zentralen Aussage, Linke verträten humane Ziele, Rechte nicht, argumentieren Kritiker dieser Sichtweise unterschiedlich.
Linke Gewalttäter gelten als Chaoten, was ihren politischen Anspruch unterschlägt
Die eine Strategie läuft darauf hinaus, linke Gewalttäter als „kriminelle Idioten“ (Ralf Stegner, SPD) abzustempeln, so mit Blick auf die Ausschreitungen beim G-20-Gipfel 2017 in Hamburg. Der Hinweis auf „Chaoten“ unterschlägt oder bestreitet gar das politische Engagement. „Links“ setzt Stegner mit Freiheit und Gerechtigkeit gleich, „rechts“ mit Ressentiments gegen Minderheiten. Dies stimmt zwar nicht, erklärt aber das oft anzutreffende Missverhältnis in der Perzeption. Es trifft deshalb nicht zu, weil rechte Demokraten ebenso wie linke Demokraten die politische Willensbildung bestimmen. Hehre Ziele rechtfertigen niemals inhumane Methoden, gegen welche Minderheiten auch immer.
Welche Attacken am Ende schlimmer oder zersetzender sind, ist eine müßige Frage. Beides muss bekämpft werden, gerade auch in einem freiheitlichen System.
schreibt NutzerIn Gophi
Die andere Variante lautet: Gewalt, moralisch legitimiert, sei nur verständliche Gegengewalt gegen die strukturelle Gewalt des Staates oder gegen die konkrete der Polizei. Es mache einen riesigen Unterschied aus, ob ein wehrloser „Fremder“ attackiert wird, ein Schwacher, oder ein bewaffneter Polizist, ein Starker. Im ersten Fall sei dies feige, im zweiten Fall mutig.
Aber: Das Leben eines jeden Menschen ist gleich viel wert. Und: Ist ein „Fremder“ immer schwach, ein Polizist immer stark? Wenn eine strafrechtlich relevante Verschiedenheit besteht, dann die zwischen einer „vorsätzlichen“ und einer „fahrlässigen“ Tat, unabhängig von der Ethnie des Opfers.
Unterschiede zwischen links(extrem) und rechts(extrem) sind jedoch nicht in dem Sinne zu deuten, linke Ausschreitungen seien weniger schlimm als rechte. Auf beiden Seiten existiert weicher und harter Extremismus. Die Gewalt des NSU ist negativer zu bewerten als antifaschistische Randale bei einer Demonstration, die Gewalt der RAF negativer als rechtsextremistische Volksverhetzung. Die vergleichende Extremismusforschung setzt also nicht gleich, sondern differenziert.
Doppelstandards sind unangemessen, unfair und unglaubwürdig
Gewiss, der monströse Nationalsozialismus, von innen gestützt und von außen gestürzt, war im Gegensatz zum DDR-Kommunismus, lange von außen gestützt und schließlich von innen gestürzt, ein Zivilisationsbruch und von innen gestützt, aber dies rechtfertigt nicht, bei politischen Bewegungen unterschiedliche Maßstäbe anzulegen. Allerdings kann zum Zeitpunkt A die eine extremistische Variante gefährlicher sein und zum Zeitpunkt B die andere, sei es für den Staat, sei es für den Bürger. Dieser Befund leistet keiner doppelbödigen Sichtweise Vorschub. Schindluder wird mit dem ubiquitär verwendeten Totschlagbegriff „Neonazi“ betrieben, verharmlost er doch den historischen Nationalsozialismus. Ehemaligen NPDlern, deren Partei in der Tat neonationalsozialistische Züge aufweist, ist die Aufnahme in die AfD versperrt.
Doppelstandards sind unangemessen, unfair und unglaubwürdig, zudem oft kontraproduktiv, denn auf diese Weise geraten auch wahre Befunde in den Dunstkreis des Übertriebenen. Allerdings ist die „cui bono“-Perspektive eher zweitrangig, denn sie bedeutet ja, „Beifall von der falschen Seite“ zu scheuen. Argumente müssen zur Sprache kommen, ohne Rücksicht darauf, ob sie dieser oder jener Seite nützen.
Das staatliche Gewaltmonopol ist eine Errungenschaft des Rechtsstaats. Dieser Minimalkonsens darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Jeder sollte im Fall von Vermummung oder Gewalt anderer einer Demonstration den Rücken kehren. Eine selektive Perspektive verbietet sich. Wir brauchen einen antiextremistischen Konsens, keinen antifaschistischen – und eine Berichterstattung, die dem Rechnung trägt.
- Der Autor ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft in Chemnitz und seit 1989 (Mit-)Herausgeber des „Jahrbuches Extremismus & Demokratie“.
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Eckhard Jesse