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Die Ereignisse im Hambacher Forst wurden von Journalisten anders bewertet, als jene in Chemnitz.
© Oliver Berg/dpa

Berichte über den Hambacher Forst und Chemnitz: Die Aufgabe der Medien ist Information, nicht Erziehung

Ein Haltungsjournalismus, der Rechtsextremismus anprangert und Linksextremismus verharmlost, ist eine Gefahr für die Demokratie. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Hanns Joachim Friedrichs fehlt – der Journalist, der die ARD-„Tagesthemen“ prägte. Sein Berufsverständnis beschrieb er so: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“

Was würde er dazu sagen, wie sein Berufsstand heute mit Chemnitz und dem Hambacher Forst, mit den Folgen der Migration und der privaten Flüchtlingsrettung im Mittelmeer umgeht? Viele Journalisten scheinen ihre Aufgabe so zu verstehen, als ginge es darum, Haltung zu zeigen, nicht nur im Kommentar, sondern bereits in der Nachricht. Dabei lautet der Auftrag der Medien Information, nicht Erziehung.

Linke Gewalt trifft auf Nachsicht

Wo hat es mehr Rechtsbrüche und Verwundete gegeben, in Chemnitz oder im Hambacher Forst? Der Ton in vielen Medien ist umgekehrt. Chemnitz wird als verabscheungswürdige braune Stadt vorgeführt. Trotz der erschreckenden Gewalt gegen Polizisten im Hambacher Forst scheint in vielen Berichten eine unjournalistische Sympathie mit den Aktivisten durch. Die Proteste, wird betont, seien friedlich oder weitgehend friedlich verlaufen. Wäre die Überschrift „Friedliche Proteste in Chemnitz“ ebenso denkbar?

Nach dem tödlichen Unfall eines Fotojournalisten im Hambacher Forst ist der mediale Reflex nicht: Sind die illegalen Baumhäuser nicht wirklich eine Gefahr für Leib und Leben und sollten die Aktivisten ihren Widerstand aufgeben, um weitere Unfälle zu vermeiden? Sondern: Aus Betroffenheit müsse man die Räumung beenden.

Zweierlei Maß bei der Bewertung von Rechts und Links

Der Extremismusforscher Eckhard Jesse hat gestern auf dieser Seite vor Doppelstandards bei der Bewertung des linken und rechten Extremismus gewarnt. Und: Hat die Branche in den zwei Wochen seit Chemnitz eine breite selbstkritische Debatte geführt, ob es handwerklich richtig war, die These von Menschenjagden in Chemnitz zu verbreiten, die sich auf ein aus dem linken Spektrum ("Antifa Zeckenbiss") lanciertes Video stützte?

Und was bedeutet der Umgang mit Mariam Lau für das Selbstverständnis des deutschen Journalismus – der Zeit-Kollegin, die in einem Pro & Contra auf die bedenklichen Folgen der privaten Flüchtlingsrettung im Mittelmeer hingewiesen hatte und dafür angefeindet wurde?

Die Nachricht [hängt] auch immer vom Empfänger ab. Selbst eine neutrale Frage wie "Was ist das Grüne in meiner Suppe?" wird von manchen Menschen als "Er denkt, ich kann nicht kochen." aufgefasst.

schreibt NutzerIn MrDoe

Hat Haltungsjournalismus die AfD geschwächt?

Abgesehen von handwerklichen Regeln ist auch nach der Wirkung eines Haltungsjournalismus zu fragen. Hat die Praxis, die AfD und ihre Wähler als Neonazis zu porträtieren, diese Partei stärker oder schwächer gemacht?

Im Ausland sind die Gefahren zu besichtigen, wenn Medien in den Augen ihrer Nutzer den Ruf verlieren, dass sie berichten, was ist. Die USA haben einen Präsidenten, der Journalisten „Feinde des Volkes“ nennt. Donald Trump sagt oft die Unwahrheit – und kommt zum Entsetzen der traditionellen Medien ungestraft davon, weil viele Bürger der Behauptung glauben, die Medien verfolgten eigene politische Agenden und seien nicht der unbestechlichen Darstellung der Fakten verpflichtet.

Trumps Vorgänger Barack Obama und George W. Bush haben gewiss auch nicht immer die Wahrheit gesagt. Sie wollten ihre Version verbreiten. Es wäre ihnen aber peinlich gewesen, bei einer offenkundigen Lüge ertappt zu werden. Sie hätten sich korrigiert.

Trumps USA als warnendes Beispiel

Das gilt heute nicht mehr, weil ein großer Teil der Medien sich als Teil eines politischen Lagers versteht. Die einen verteidigen Trump, egal was er sagt. Die anderen greifen ihn an. Was „wahr“ ist und was „Lüge“, ist nicht mehr eine Frage des „Fact Checking“, sondern Meinungssache.

Diese bedrohliche Entwicklung hat vor gut zwei Jahrzehnten mit dem Vorwurf begonnen, die „Mainstream“-Medien sympathisierten mit der Linken. Entscheidend war, dass ein Gutteil der Bürger diesen Vorwurf als berechtigt empfand. Rechtspopulisten gründeten den Sender „Fox News“ und gaben ihm die Aura, er diene der informationellen Selbstverteidigung. Heute ist die US-Gesellschaft nicht nur politisch gespalten, sondern auch in der Mediennutzung. Demokratischer Dialog ist unendlich schwer, weil die Lager ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Realität haben sowie davon, was die relevanten Themen und die dazugehörenden Fakten sind.

Nachrichten können schon deshalb nicht ohne Wertungen auskommen, weil bereits in der Auswahl eine Bewertung liegt. [...] Das Problem ist nicht die vermeintliche Vermengung von Nachrichten und Kommentar sondern die schiere Menge an verfügbarer Information.

schreibt NutzerIn Lische

Das Vertrauen der Nutzer in die Unabhängigkeit entscheidet

In Polen kann es sich die rechtspopulistische PiS-Regierung erlauben, die öffentlichen Sender unter ihre politische Kontrolle zu bringen. Denn auch dort glaubt ein großer Teil der Gesellschaft dem Vorwurf, die Medien hätten zuvor eine Vorliebe für links gezeigt.

Der beste Weg, solche Entwicklungen in Deutschland zu vermeiden, ist, sich auf die Handwerksregeln zu besinnen und auf Hanns Joachim Friedrichs. Die entscheidende Währung ist das Vertrauen der Nutzer in die Unparteilichkeit der Journalisten. Haltungsjournalismus ist gefährlich.

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