Wahlsieg von Rot-Grün: Vor 20 Jahren wählte Deutschland Gerhard Schröder zum Kanzler
Vor zwei Jahrzehnten siegte Rot-Grün. Die Zukunft schien offen, heute herrscht Ernüchterung. Was sich aus den vergangenen 20 Jahren lernen lässt. Ein Gastkommentar.
Für die Union war es eine Katastrophe, für die SPD ein Triumph: An diesem Donnerstag vor zwanzig Jahren gewannen die Sozialdemokraten die Bundestagswahl mit 40,9 Prozent der Stimmen. Genau einen Monat später wurde Gerhard Schröder zum Bundeskanzler in einer rot-grünen Regierung gewählt. Als damals jüngster Abgeordneter zog ich für die SPD in den Bundestag ein, der zunächst in Bonn, ab 1999 dann in Berlin tagte.
Ich erinnere mich noch genau an das euphorische Gefühl, als ich mein kleines Büro im Bonner Abgeordnetenhaus „Langer Eugen“ betrat. 16 lange Jahre hatte Bundeskanzler Helmut Kohl regiert, am Ende zunehmend ideenlos und überfordert. Nun hatten wir endlich die Gelegenheit, das Land unter dem Motto „Innovation und Gerechtigkeit“ sozialdemokratisch zu erneuern. Der Zeitgeist war dabei auf unserer Seite. Fast zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs herrschte in den westlichen Industriestaaten Fortschrittsoptimismus. Demokratie und freie Marktwirtschaft hatten sich als überlegene Ordnungsmodelle durchgesetzt, vom „Ende der Geschichte“ war die Rede. Europa wuchs zusammen, wobei in den meisten EU-Mitgliedsländern Sozialdemokraten regierten (und in den USA Bill Clinton). Die Unternehmen der „New Economy“ sorgten für Kurssprünge an den Börsen. Als die drängendsten politischen Themen nannten die Deutschen 1998 die Arbeitslosigkeit, die Steuerpolitik und Rente. Das waren große Probleme, aber sie schienen lösbar. Kurzum, die Zukunft schien offen.
Zwanzig Jahre und sechs Regierungen später hat sich in Deutschland eine gewisse Zukunftsernüchterung breitgemacht. Es ist paradox: Eigentlich geht es unserem Land so gut wie nie. Die Gesellschaft ist vielfältiger und offener geworden. Die Wirtschaft ist in bester Verfassung. Der Sozialstaat steht – bei allen Mängeln – auf festem Fundament. „Cool Germany“ titelte jüngst der britische Economist; 1999 hatte das Blatt Deutschland noch als „kranken Mann Europas“ bezeichnet. Dies sind nicht zuletzt die Früchte des rot-grünen Reformprojektes von 1998 bis 2005, das eben weit mehr als die Arbeitsmarktpolitik umfasste.
Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen
Anderseits aber sind die Deutschen nervös. Viele fühlen sich in einer beschleunigten Welt gehetzt und überfordert, sie sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder und fürchten um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ein tieferer Grund dafür liegt in den zunehmenden Spaltungslinien unserer Gesellschaft – zwischen Ost und West, Oben und Unten, Stadt und Land. Dass die EU von immer mehr autokratischen Regimen umgeben ist und Donald Trump im Weißen Haus regiert, trägt zur Verunsicherung zusätzlich bei. Die AfD nutzt die gereizte Stimmung aus, während sich im Sechs-Parteien-System stabile Mehrheiten fast nur noch lagerübergreifend finden lassen. So ist die liberale Demokratie selbst gehörig unter Druck geraten.
Doch nicht alle, die den Populisten ihre Stimme geben, sind für Nationalismus und autoritäre Abschottung. Und nicht alle Nichtwähler sind desinteressiert an der Demokratie. Sondern viele Menschen trauen den demokratischen Parteien einfach nicht mehr zu, mit den aktuellen Herausforderungen fertig zu werden. Globalisierung, Migration, Klimawandel, wachsende Ungleichheit, Brexit: Die politischen Herausforderungen sind komplexer und existentieller als früher. Es reicht nicht mehr, an den Symptomen herumzudoktern. Vonnöten sind grundlegende Antworten, häufig auf globaler Ebene und immer gegen mächtige Widerstände.
Die heutige Politik steht damit vor einer doppelten Aufgabe: Sie muss Deutschland und Europa zukunftsfest machen. Und zugleich muss sie die liberale Demokratie gegen deren Gegner verteidigen. So enorm waren die Anforderungen an Parteien und Politiker selten. Um sie zu bewältigen, hilft ein Blick zurück: Was lässt sich aus den vergangenen zwanzig Jahren für die Aufgaben der Zukunft lernen?
Merkel erstickt kontroverse Diskussionen
Für mich lautet eine zentrale Erkenntnis: Politik hat sehr wohl Gestaltungsmacht. Es wirkt ja oft so, als würden politische Entscheidungen in Trippelschritten getroffen. Doch blickt man zurück, liegt da häufig eine lange Strecke. Von 1998 bis 2018 hat die SPD 16 Jahre regiert. Wir haben uns nie weggeduckt wie andere, sondern angepackt wo immer erforderlich. Erst das Land, dann die Partei! In dieser Zeit haben wir unter anderem den Haushalt saniert und den Aufbau Ost finanziert, den Atomausstieg beschlossen und den Föderalismus reformiert, den Sozialstaat modernisiert und die Familienpolitik vom Kopf auf die Füße gestellt, die EU erweitert und erneuert und Deutschlands Einfluss in der Welt gestärkt. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen.
Solcherlei Erfolge sind nur möglich, wenn die Parteien und ihre Vertreter auf der Höhe der Zeit sind. Sie müssen neue Problemlagen erkennen und analysieren – und wenn nötig die eigenen politischen Ansätze entsprechend verändern. Zum Beispiel waren die Agenda-Reformen ab 2003 aus meiner Sicht eine notwendige Anpassung sozialdemokratischer Politik an veränderte Verhältnisse, nämlich an einen dysfunktionalen Sozialstaat bei hoher Arbeitslosigkeit. Auch Gerhard Schröders Nein zum Irak-Krieg war eine zeitgemäße Entscheidung. Damals haben wir uns von Amerika emanzipiert. Das hilft uns bis heute.
Die Voraussetzung dafür, dass die Politik auf der Höhe der Zeit sein kann, ist das gesellschaftliche Selbstgespräch. Leider hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Amtszeit seit 2005 viel dafür getan, kontroverse Diskussionen im Keim zu ersticken. Sie hat die Union in die Mitte geführt und die Unterschiede zwischen den beiden Volksparteien eingeebnet. Weitreichende Entscheidungen wie die Abschaffung der Wehrpflicht oder den Atomausstieg traf sie durch die kalte Küche. Damit hat sie die Politikverdrossenheit befördert. Jetzt sollten alle demokratischen Parteien mittun, unsere Diskussionskultur neu zu beleben. Demokratie braucht konstruktiven Streit.
Und auch das habe ich gelernt: Wer gestaltet, macht automatisch Fehler. Die Politik neigt dazu, diese zu negieren oder hinter Sprachkostümen zu verstecken. Warum eigentlich? Die Menschen sehnen sich nach Wahrhaftigkeit und Souveränität. Fehler einzugestehen ist souverän. Nur ein Beispiel: Ich finde, wir sind bei der Agenda 2010 an einigen Stellen über das Ziel hinausgeschossen. Die Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose waren zu hart und wir hätten parallel den Mindestlohn einführen müssen. Außerdem sind wir nicht genug gegen die Privilegien geschützter Berufsgruppen vorgegangen. Es ist gut, dass viele Fehler mittlerweile korrigiert wurden.
Auf einer allgemeineren Ebene war es ein Irrtum, phasenweise ein relativ unkritisches Verhältnis zum globalen Kapitalismus an den Tag zu legen. Unsere Hoffnung: Der wachsende Wohlstand würde schlussendlich auch zu den unteren Einkommensschichten durchsickern. Wie die Reallohnentwicklung zeigt, war das ein Trugschluss. Eine Großaufgabe der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert wird es sein, die Schattenseiten des Kapitalismus zu bändigen, etwa indem wir dafür sorgen, dass Technologiefirmen endlich genügend Steuern zahlen.
Intensiver um Europa kümmern
Das führt mich zum letzten Punkt, der Europäischen Union. Ganz ehrlich: Als junger Abgeordneter habe ich die politische Wirkungskraft der europäischen Institutionen unterschätzt. Dabei hat sich die EU in den vergangenen 20 Jahren immer wieder als segensreich erwiesen, etwa wenn es um globale Handelsfragen oder die Folgen der Finanzkrise ging. Auch in Zukunft werden sich viele Herausforderungen nur im Rahmen der EU lösen lassen. Allerdings hat sich ebenfalls herausgestellt, dass die EU an vielen Ecken reformbedürftig ist – von der europäischen Verteidigungspolitik bis zu den Asymmetrien in der Währungsunion. Zudem sind die Bürger immer weniger bereit, die Brüsseler Hinterzimmerpolitik zu akzeptieren. Sie fordern zu Recht mehr Transparenz.
Deshalb sollten wir uns noch intensiver um die europäische Ebene kümmern. Wir brauchen soziale Mindeststandards, die gerechte Besteuerung von Unternehmen, eine gemeinsame Flüchtlings- und Migrationspolitik und eine gestärkte Eurozone. Außerdem ist nur die Europäische Union in der Lage, Großkonzerne wie Facebook oder Google notfalls zu zerschlagen, wenn sie Wettbewerb und Innovationen behindern. Um das Leben der Menschen auch in den kommenden zwanzig Jahren besser zu machen, ist der Schulterschluss in Europa gefragt.
Carsten Schneider zog mit der Wahl vor 20 Jahren als jüngster Abgeordneter für die Sozialdemokraten in den Bundestag. Heute ist er Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.
Carsten Schneider