Kanzleramtsminister Helge Braun im Interview: "Ein Grundeinkommen ist kein Projekt dieser Koalition"
Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) spricht im Tagesspiegel-Interview über die Stimmung in der neuen Bundesregierung, Herausforderungen der Digitalisierung und den Pflegenotstand.
- Antje Sirleschtov
- Rainer Woratschka
Herr Braun, vor Ihrer politischen Karriere waren Sie Arzt für Anästhesie und Schmerztherapie. Haben Sie ein Rezept gegen die Geburtswehen großer Koalitionen?
Der Start dieser Koalition war deutlich besser, als das momentan wahrgenommen wird. Bei den großen Themen haben wir uns schnell und gut verständigt. Dass daneben gesellschaftspolitisch über Islam, Integration oder das soziale Gefüge des Landes diskutiert wird, finde ich völlig in Ordnung. Das behindert unser Regierungshandeln nicht.
Die Bürger haben lange auf das Zustandekommen dieser Regierung gewartet. Wann wird denn endlich losregiert?
Es wird regiert. Wir stimmen uns zum Familiennachzug ab, wir sind bei der Haushaltsaufstellung für 2018 und 2019. Wir haben die Mitglieder für die einzusetzenden Kommissionen benannt. Das Regierungsgeschäft läuft in voller Fahrt.
Wir nehmen einen Gesundheitsminister wahr, der über Versäumnisse der Innenpolitik klagt. Einen Innenminister, der sich mit abendländischer Kultur befasst. Eine SPD, die der CSU vorwirft, Parolen von AfD und NPD zu übernehmen. Hat die Kanzlerin ihr Kabinett in Meseberg zur Ordnung gerufen?
Zur Arbeitsweise in einem kollegialen Arbeitsorgan wie dem Kabinett gehört der öffentliche Ordnungsruf nicht. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass wir den umfangreichsten Koalitionsvertrag abzuarbeiten haben, den es in diesem Land je gab. Konrad Adenauer hat seine erste Koalition noch per Handschlag besiegelt. Jetzt haben wir einen Vertrag von 175 Seiten. Und die vergangenen Jahre haben gezeigt: Wir müssen weit mehr bewältigen als das, was im Koalitionsvertrag steht. Ich habe mit jedem Minister gesprochen. Alle sind eifrig am Arbeiten.
Nach den miesen Wahlergebnissen haben sich Union und SPD zweierlei vorgenommen: gut zu regieren und trotzdem unterscheidbar zu sein. Wie kann das funktionieren?
Wir müssen den Menschen deutlich machen, dass wir solide Lösungen anzubieten haben. Wenn das gelingt, kann man im zweiten Schritt sagen: Als alleinregierende CDU oder SPD hätten wir dies oder jenes anders gemacht oder noch obendraufgesetzt. Das kann man tun, man muss es aber behutsam machen. Es wäre schlimm, wenn der Eindruck entstünde, dass das, was wir gemeinsam tun, keine angemessene Lösung wäre.
Teilen Sie die Einschätzung, dass die CSU und nicht die SPD für die CDU der schwierigere Partner werden könnte?
Nein. Zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU gibt es eine natürliche Nähe. Dadurch ist der Abstimmungsbedarf viel geringer als mit der SPD. Das haben wir in den Koalitionsverhandlungen gemerkt, die sehr hart waren. Die Einschätzung, dass es zwischen CDU und SPD kaum noch Unterschiede gibt, stimmt nicht. Die Frage, was eine gerechte Steuerpolitik ist, beantwortet die SPD zum Beispiel ganz anders als die Union.
Wird das Regieren in Berlin einfacher nach der Landtagswahl in Bayern?
Der Einfluss von Landtagswahlen ist nicht so groß wie oft vermutet. Es wird ja immer irgendwo gewählt. Das ist nichts, worauf man gesondert Rücksicht nehmen müsste. Das Regieren in Berlin hängt eher ab von den großen geopolitischen Entwicklungen.
Herr Braun, Sie koordinieren in der Regierung die Aufgaben der Digitalisierung. In welchen sozialen Netzwerken sind Sie persönlich aktiv?
Ich nutze seit Jahren Facebook und Twitter. Zwar nicht so intensiv wie manche jungen Leute, aber ich mache alles selber.
Haben Sie nach dem Datenskandal überlegt, Ihren Facebook-Account zu löschen?
Nein. Wir haben bereits in den Koalitionsverhandlungen sehr intensiv über das Thema persönlicher Datensouveränität gesprochen. Die Variante, sich von allen modernen Kommunikationsmöglichkeiten im Internet abzuwenden, kann ja nicht die Antwort auf die Probleme sein.
Sie würden anderen Facebook-Nutzern also auch nicht zur Kündigung raten?
Das ist eine individuelle Entscheidung. Unsere politische Aufgabe besteht darin, Regeln zu etablieren, mittels derer die Menschen ihre persönlichen Daten souverän managen können, ohne sich zu Experten entwickeln zu müssen. Das ist der Anspruch. Ehrlicherweise müssen wir aber einräumen, dass wir dazu noch kein fertiges Patentrezept haben. Da brauchen wir noch ein bisschen Input.
Was heißt das?
Eine Expertenkommission wird sich damit ein knappes Jahr lang befassen. Es gab auch die Überlegung, eine Enquetekommission im Bundestag einzurichten. Das hätte aber deutlich länger gedauert. Wir brauchen zügig ein modernes Datenrecht. Und auch Regelungen auf europäischer Ebene. Denn um solches Recht nutzen und durchsetzen zu können, ist Deutschland in vielen Fällen zu klein.
Das Internet ist weltweit. Reicht da überhaupt ein europäisches Regelwerk?
Marktwirtschaft braucht Regeln. Und im Internetsektor gibt es extrem große Player wie Google, Amazon oder Facebook, die immer mehr wichtige Plattformen und Applikationen aufkaufen. Ein nationales Wettbewerbsrecht kann dagegen gar nichts ausrichten. Wir können aber europäisch eine Menge machen. Auf weltweite Regelungen zu setzen, halte ich dagegen für sehr idealistisch. Es muss ja schnell gehen. Wenn ein kleines Unternehmen im Wettbewerb benachteiligt wird und in einem halben Jahr nicht zu seinem Recht kommt, ist es kaputt, und den Riesen hat es nicht gestört.
Wie können nationale Regierungen international agierende Internetriesen dazu bringen, in ihrem Land Steuern zu zahlen?
Das ist eine essenzielle Frage. Das deutsche Interesse bei der Unternehmens- und Umsatzbesteuerung ist bei Digitalgeschäften ein anderes als bei der Realwirtschaft. Wenn wir als Land Forschung, Entwicklung und Investitionen vorantreiben, ist der Verbleib der Steuereinnahmen für die Wertschöpfung extrem bedeutend. Hier müssen wir europaweit wieder Hoheit gewinnen.
Die Regierung will neben dem Ausbau des Glasfasernetzes auch ein digitales Bürgerportal einrichten. Werden wir vom Schreibtisch aus unseren Wohnort ändern, Pässe beantragen, Autos ummelden können?
Ja. Noch in diesem Jahr soll damit begonnen werden, alle Verwaltungsleistungen, die online möglich sind, über ein Bürgerportal bereitzustellen. Bis 2022 soll alles digital erledigt werden können.
Bisher klappt es in einer Stadt wie Berlin nicht mal, Daten von einem Amt zum andern zu übermitteln. Wie soll da ein bundesweites Bürgerportal funktionieren?
Dazu braucht es einen Portalverbund, den wir jetzt aufbauen wollen. Die Bürger benötigen für den Zugang dann nur noch ein einziges Passwort – egal ob sie eine Leistung von ihrer Stadt, ihrem Landkreis, ihrem Bundesland oder vom Bund benötigen. Sie haben damit Zugang überallhin. In der zweiten Ausbaustufe wollen wir es dann schaffen, dass die Daten sicher von Behörde zu Behörde ausgetauscht werden können.
Und das bis 2022? Im Gesundheitssystem hat es die Selbstverwaltung in 15 Jahren nicht geschafft, eine digitale Gesundheitskarte auf den Weg zu bringen.
Ich glaube, dass der neue Gesundheitsminister hier jetzt noch mal Anlauf nehmen wird. Mit Portalverbünden und Datenaustausch haben wir inzwischen Techniken, die viel weiterentwickelt sind als beim Start der Gesundheitskarte. Früher hat jeder seins gemacht, vieles war nicht kompatibel. Nun sind wir so weit, dass wir eine Sprache haben, auf der sich die unterschiedlichen Verwaltungssysteme verstehen. Das ist wichtig, denn wie bei sensiblen Gesundheitsdaten muss auch das Bürgerportal den Zugang auf unterschiedlichsten Sicherheitsniveaus ermöglichen. Es ist ja etwas anderes, ob ich online eine Sperrmüllabfuhr bestelle oder eine Steuererklärung abgebe.
Befürchten Sie nicht, dass alte oder digital weniger affine Menschen durch die neuen Techniken ausgegrenzt werden?
Der digitale Zugang ist nur ein Angebot. Ansprechpartner in den Bürgerbüros wird es weiterhin geben. Aber vielleicht ist es, wenn wir es richtig machen, auch für alte und nicht mehr so bewegliche Bürger angenehm, mehr von zu Hause erledigen zu können statt sich auf beschwerliche Wege machen zu müssen.
Deutschland ist bei der Digitalisierung schwer im Rückstand. Warum sollen wir glauben, dass das nun alles anders wird?
Zum einen haben wir mit Dorothee Bär eine Staatsministerin, die ihre volle Energie darauf verwenden kann, die digitalen Themen in der Regierung voranzubringen. Zum andern haben wir wichtige Voraussetzungen geschaffen. In zähen Verhandlungen mit den Ländern haben wir etwa eine Grundgesetzänderung erreicht, durch die der Bund nun auf eine Digitalisierung der Verwaltung hinwirken kann. Für die Digitalisierung der Schulen werden wir eine weitere Grundgesetzänderung auf den Weg bringen. Wir können dann nicht mehr nur finanzschwache, sondern alle Kommunen bei der Bildungsinfrastruktur unterstützen.
Angesichts zunehmender Alterung wird der Pflegenotstand in Deutschland zum immer drängenderen Problem für die Betroffenen. Ist das Thema Chefsache?
Der Pflege ist eines der zentralen Themen im Koalitionsvertrag, und natürlich kümmert sich das Kanzleramt darum. Die Probleme zu lösen ist aber eine der Aufgaben des Gesundheitsministers. Konkret heißt das zuerst, die angekündigten 8000 Stellen für die Pflege zu schaffen.
Gibt es überhaupt so viele Pflegekräfte?
Natürlich ist es nicht leicht, diese Stellen auf einen Schlag zu besetzen. Aber wir sehen den akuten Bedarf und wollen deshalb die Möglichkeit schaffen, um rasch helfen zu können. Darüber hinaus ist unser Ziel, Strukturen zu verändern. Etwa die Voraussetzungen für die Ausbildung der Menschen zu verbessern und ihnen in Zukunft eine Vergütung zahlen, statt Schulgeld von ihnen zu verlangen. Die Einführung der Pflegegrade war wichtig, gerade um die ambulanten Leistungen bei der Demenz zu verbessern.
Die Sorge vieler Menschen vor sozialem Absturz hat einen Namen: Hartz IV. Ist es an der Zeit, diesen Teil der Agenda 2010 von Kanzler Gerhard Schröder zu verändern oder gar abzuschaffen und durch ein Grundeinkommen zu ersetzen?
Ein Grundeinkommen, wie es auch immer aussieht, ist kein Projekt dieser Koalition. Wir haben eine ganz andere Denkrichtung, nämlich die Vollbeschäftigung. Und natürlich werden wir uns intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie wir Langzeitarbeitslosen, die sehr schwer im ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln sind, Angebote machen können. Unser Plan ist, öffentlich geförderte Beschäftigung zu ermöglichen. Aber auch mit Qualifizierung und Weiterbildung muss es gelingen, Betroffenen zu Jobs zu verhelfen. Uns geht es nicht darum, den Verbleib in der Arbeitslosigkeit anders zu organisieren. Wir wollen die Menschen ertüchtigen, aus dem System herauszukommen.
Bis zum Sommer will die Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik den Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge, etwa aus Syrien, gesetzlich neu regeln. Nach welchen Kriterien werden hier lebende Flüchtlinge Familienmitglieder nachholen dürfen?
Darüber spricht die Regierung gerade intern.
Sie meinen die Prüfung des Gesetzentwurfs von Innenminister Horst Seehofer (CSU), den insbesondere die SPD heftig kritisiert, weil darin steht, dass Flüchtlinge, die von Grundsicherung leben, außen vor bleiben?
Dieser Gesetzentwurf ist in der internen Abstimmung der Bundesregierung, damit stehen die Kriterien noch nicht fest. Am letztendlichen Modell, für wen und unter welchen Bedingungen der Familiennachzug gewährt wird, arbeiten wir. Wenn wir in der Regierung darüber einig sind, werden wir Länder und Verbände anhören und den Entwurf veröffentlichen.
Die Sorge der SPD, dass der Innenminister den Familiennachzug vom Geldbeutel abhängig macht, ist unbegründet?
Es ist das gute Recht eines jeden Ministers, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der seinen Vorstellungen entspricht. Ein Gesetzentwurf wird allerdings von der Bundesregierung nur dann verabschiedet, wenn im Kabinett Einigkeit darüber herrscht. Deshalb werden wir über alle möglichen Kriterien des Familiennachzugs offen sprechen.
Sollte das Gesetz zum 1. August in Kraft treten, werden laut Koalitionsvertrag monatlich 1000 Menschen nachziehen können. Wer entscheidet darüber, welche Personen als Erstes zum Zuge kommen? Und wird es einen Vorrang für Minderjährige geben, die ihre Eltern nachholen möchten?
Auch zu dieser Frage gibt es ganz unterschiedliche Modelle, die wir miteinander besprechen und zum Schluss gemeinsam festlegen. Und ein Chef des Kanzleramtes, der von allen Kabinettsmitgliedern erwartet, dass sie interne Gespräche nicht in der Öffentlichkeit führen, wird mit gutem Beispiel vorangehen.
Helge Braun studierte Humanmedizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uniklinik Gießen und Marburg im Bereich Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie. Seine Doktorarbeit schrieb der 45-Jährige über Herzrasen während Operationen. Der Hesse ist seit 1990 Mitglied der CDU und wurde das erste Mal im Jahr 2002 in den Bundestag gewählt. Nachdem er bei der Wahl 2005 den erneuten Einzug ins Parlament verpasst hatte, gewann er vier Jahre später wieder das Direktmandat in Gießen und ist seitdem wieder Abgeordneter des Deutschen Bundestags.