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Markus Dröge, 63, ist seit 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
© Mike Wolff

Berlins Bischof Dröge zum Reformationstag: "Vielleicht ist unsere Botschaft wieder revolutionär"

Bischof Markus Dröge über die politische und gesellschaftliche Bedeutung der evangelischen Kirche und Luthers Antwort auf die AfD. Ein Interview.

Herr Bischof Dröge, was würde denn Luther heute zur AfD sagen?

Da fällt mir als erstes ein, dass die Historiker in diesem Jahr immer davor gewarnt haben, aus der Vergangenheit direkte Ableitungen für unsere gegenwärtige Botschaft zu ziehen.

Sie sind aber Bischof und kein Historiker…

Ja. Also wenn Sie wissen wollen, was wir heute in der Tradition Luthers zur AfD sagen: In der Bindung an Gott werde ich selbst befreit, um mich für meinen Nächsten einzusetzen. Martin Luther hat immer gesagt, es kommt darauf an, was Christum treibet. Und die Nächstenliebe Jesu ist nicht nur die Liebe zu meinem Nächsten, zu meiner eigenen Heimat, meiner Familie, sondern gerade auch die zu meinem fernen Nächsten, dem anderen, wie es die kulturprägende Geschichte vom barmherzigen Samariter deutlich gemacht hat. Gerade in einer globalisierten Welt müssen wird den Blick für den anderen haben. Wir können gar nicht überleben, wenn wir nicht den Blick für die Menschen in anderen Teilen der Welt haben.

War Luther nicht auch Populist?

Luther war sicherlich sehr populär und konnte durch seine Rhetorik die Herzen der Menschen bewegen. Er hat auch die neuesten Medien der damaligen Zeit sofort genutzt. Es kam ihm aber immer darauf an, die Botschaft des Evangeliums damit rüberzubringen, dass er die Menschen spitz anspricht auf ihre Sünde, auf unheilvolle Zusammenhänge, die er gesehen hat. Gleichzeitig ist er auch ein sehr seelsorgender Mensch. Er konnte genau so predigen, sich für das Gemeinwohl einsetzen. Er hat sich ja auch dafür eingesetzt, dass die Bilderstürmer nicht alles zerstören, sondern dass sorgsam mit dem Erbe umgegangen wird. Er hatte also beide Seiten: das Zuspitzende und das Bewahrende.

Beim Kirchentag saßen Sie gemeinsam mit Anette Schultner auf dem Podium, der Sprecherin der Christen in der AfD. Sie hat jetzt ihren Austritt aus der AfD erklärt – eine Genugtuung für Sie?

Diese Diskussion war sehr hart, aber auch sehr fair. Wir sind uns eigentlich in kaum einem Punkt einig gewesen. Ich habe sehr davor gewarnt, sich als Christen für die AfD einzusetzen. Nicht, weil ich jemand das Christsein abspreche, wenn er in der AfD ist. Aber ich kann mir glaubwürdiges Christsein nicht in der AfD vorstellen. Ich habe ihr auch sehr deutlich gesagt, dass ich glaube, dass sie als Feigenblatt in dieser Partei missbraucht wird. Dass sie das heute nun genauso sagt, ist sicher auch eine Frucht unserer Diskussion.

Hat die Diskussion um die AfD den Kirchentag noch politischer gemacht?

Ich hatte mir das gut überlegt, ob ich auf dem Kirchentag mit der Sprecherin der Christen in der AfD diskutiere. Es gab ja sogar einen Boykottaufruf, gar nicht hinzugehen und nicht mit der AfD zu reden. Es war aber gut, diese Diskussion auf dem Kirchentag stattfinden zu lassen. Ich denke, sie war ein Stück weit exemplarisch. Denn es ist ja ein Markenzeichen des Kirchentags, unterschiedliche Positionen zu Wort kommen zu lassen. Das Signal war: Der Kirchentag drückt sich nicht davor, auch Positionen zu diskutieren, die vielen als nicht genehm erscheinen.

Sind Sie auch sauer auf die AfD, weil sie in diesem sehr politischen Jahr der Bundestagswahl einige Aufmerksamkeit vom Reformationsjubiläum abgezogen hat?

Wir sind jetzt erst dabei, das Jubiläum zu analysieren. Zum einen haben wir eine immense Aufmerksamkeit bekommen vom Publikumsinteresse, aus der Politik und in den Medien. Gemeinden haben mit dem Thema Reformation Veranstaltungen durchgeführt, in der sogenannten Provinz haben Ausstellungen großes Interesse gefunden. Gerade auch in Brandenburg, also im Osten, wo Menschen immer eine gewisse Scheu haben, sich mit kirchlichen Themen zu beschäftigen, erlaubte dies sich mit der Geschichte der Reformation und ihren Folgen aus einer gewissen Distanz mit kirchlichen Themen zu befassen. Ich denke auch, wir haben gezeigt, dass unser Glaube in die Öffentlichkeit gehört. Gegen die Tendenz, den Glauben privatisieren zu wollen. Ob die AfD uns dennoch die Schau gestohlen hat, weil wir sonst noch mehr Aufmerksamkeit bekommen hätten, glaube ich nicht. Es gab ja auch konkrete gesellschaftliche Erwartungen an uns.

Welche denn?

In der Entschließung des Bundestags von 2011 steht, dass die Bundesrepublik sich mit engagiert bei den Feierlichkeiten, weil die Gesellschaft wie sie heute ist, die freiheitliche Demokratie, die Betonung des Gewisses des Einzelnen, nicht zu verstehen ist, wenn man nicht auch die Geschichte der Reformation bedenkt. Und der Bundestag erhoffte sich von diesem Jahr eine lebendige Diskussion über die Fortführung der Demokratie. Damals hatte man noch keine Ahnung, dass 2017 erstmals eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag gewählt wird. Wir haben dadurch nochmal sehr stark gemerkt, dass wir als evangelischen Kirche einstehen müssen für unsere freiheitliche Demokratie, für Menschenrechte, für Menschenwürde.

"Zu uns kommen alle Menschen, nicht nur die Gläubigen"

Ist die Kirche politisch genug?

Wir haben in diesem Jahr auch gelernt, dass wir unseren Gestaltungswillen stark machen können und müssen. Dass also alle Tendenzen, von innen und von außen, Glaube zu privatisieren, nicht unsere Botschaft sein kann, wenn wir der Reformation treu bleiben wollen. Die Reformation hat immer gesellschaftlichen Gestaltungswillen gehabt. Es ging sofort ums Bildungssystem, um Gerechtigkeit, sofort um die Diakonie für die Schwächsten. Wenn heute Menschen an mich herantreten, gerade aus dem rechtspopulistischen Lager und sagen, die Kirche soll sich ums Seelenheil kümmern und nicht ständig in die Politik hineinreden, dann haben wir uns dagegen deutlich zu verwahren. Jeder Theologe, jede Theologin hat sich im Ordinationsgelübde dazu verpflichtet, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Ich möchte gar nicht bewerten, ob wir das zu viel oder zu wenig tun, ich möchte vielmehr nach vorne schauen. Wir treten auf jeden Fall dafür ein, dass die Kirche politisch bleibt.

Muss das von unten kommen und ist es der Vorteil der evangelischen Kirche, dass sie nicht so hierarchisch ist wie die katholische?

Das ist auch in einer hierarchischen Organisation möglich. Schon seit langer Zeit sind auch die katholischen Laien eine politisch aktive Gruppe. Unser Vorteil ist natürlich, dass das Priestertum aller Glaubenden mit zu unserem Wesenskern gehört. Aber das heißt ja noch nicht, dass alle Gläubigen in unserer Kirche auch ihre politische Verantwortung sehen. Da müssen wir immer wieder deutlich machen, dass evangelischer Glauben etwas für das Herz ist, für das Gewissen, aber eben auch, um dem Gemeinwohl zu dienen.

Wie viel Distanz braucht die Kirche vom Staat?

Die Kirche muss sich ihre Freiheit bewahren. Und ich bin dankbar, dass wir ein Gesellschaftssystem haben mit einem Religionsrecht in dem es sinngemäß heißt: Der Staat braucht Religionsgemeinschaften und unterstützt sie, ohne sie inhaltlich zu beeinflussen. Das entspricht unserem Selbstverständnis. Wir müssen, wie es in der Barmer Theologischen Erklärung heißt, die freie Gnade Gottes an alles Volk ausrichten. Wir haben keine Staatskirche. Wir haben Distanz. Aber das, was wir gemeinsam machen, wird in Freiheit ausgehandelt.

Sind die Kirchen näher an den Sorgen der Menschen als die Politik, schon allein wegen Caritas und Diakonie?

Wir haben den großen Vorteil, in der Fläche präsent zu sein. Auch in den strukturschwachen Gebieten haben wir ein großes Netz von Gemeinden, von Pfarrstellen und können zusätzlich durch die Diakonie, wie Sie gerade sagen, das Ohr bei den Menschen mit ihren Problemen haben. Denn zu uns kommen alle Menschen, nicht nur die Gläubigen. Deshalb sagen wir ja auch, wir haben eine Art anwaltlichen Auftrag. Wir müssen öffentlich machen, was wir an Not sehen. Übrigens ist auch das zutiefst reformatorisch. Luther hat seine 95 Thesen deshalb geschrieben, weil er in der Beichte die Not der Menschen mitbekommen hat, die mit der damaligen Art von Ablass-Theologie nicht befreit, sondern bedrückt wurden.

Bischof Dröge in seinem Amtssitz beim Interview.
Bischof Dröge in seinem Amtssitz beim Interview.
© Mike Wolff

Das Jubiläumsjahr war ja auch ein ökumenisches. Wäre es da nicht sinnvoll, wenn Caritas und Diakonie in dünner besiedelten Gegenden zusammenarbeiten?

Die Nähe, die wir in diesem Jahr gewonnen haben durch das gemeinsame Feiern des Christusfests, hat dazu geführt, dass wir mehr miteinander machen wollen. In strukturschwachen Gebieten, wie zum Beispiel in Brandenburg, müssen wir noch sehr viel mehr miteinander absprechen. Wo ist die Caritas präsent, wo ist die Diakonie präsent, wo sind andere freie Träger präsent? Ich denke, dass heute alle, die dem Gemeinwohl dienen wollen in einer Region, mehr aufeinander zugehen müssen. Ein Beispiel dafür ist der Religionsunterricht. Wir haben mit dem Erzbistum Berlin vereinbart: Da wo kein evangelischer Religionslehrer ist, kann der katholische Lehrer die evangelischen Schüler unterrichten und umgekehrt. Wir haben einen Lehrplan entwickelt, in dem der jeweils andere keine Angst haben muss, dass seine Inhalte zu kurz kommen. Ein evangelischer Lehrer wird auch etwas zu Marienfrömmigkeit weitergeben können und ein katholischer über die Reformation.

Wäre das auch unter einem Vorgängerpapst von Franziskus möglich gewesen?

Der jetzige Papst trägt mit seiner Offenheit den Problemen der Welt gegenüber sehr dazu bei, dass die Atmosphäre sich verbessert hat. Er hat im vergangenen Jahr, als er 17 neue Kardinäle ernannt hat, vor dem Geist der Entzweiung gewarnt. Er hat gesagt, dass es immer mehr Feindschaft und Polarisierungen gibt und dass wir als Kirche den Auftrag haben, für Gemeinschaft und Versöhnung einzutreten.

Muss evangelische Kirche im Sinne Luthers auch revolutionär sein?

Luther war revolutionär durch das Wort. Dadurch, dass er zu fokussieren wusste, hat er Dinge in Bewegung gebracht. Er war ja nicht revolutionär in dem Sinne, dass er auf die Straße gegangen ist. Im Gegenteil, die Bauernaufstände hat er sehr kritisiert. Revolution durch das Wort lässt sich nicht kalkulieren. Als er die 95 Thesen geschrieben hat, hat er in keiner Weise absehen können, welche Wirkung sie entfalten. Wir leben ja gerade in einer Zeit, in der Entzweiung durchaus zum Zeitgeist gehört. Schauen Sie sich an, wie viele Gruppierungen gerade das Eigene suchen und gegen das Fremde abwehren wollen: Ob das der Brexit ist, ob das die Katalanen sind, die sich von der größeren Gemeinschaft abgrenzen wollen, ob das der Rechtspopulismus ist. Unsere Botschaft ist die: Wenn es um das Eigene geht, geht es immer auch um die Verantwortung für das Andere. Und diese Botschaft ist vielleicht inzwischen revolutionär. Vielleicht ist auch die Botschaft wieder revolutionär, dass wir für die Menschenwürde jedes Menschen eintreten und nicht nur für die, die uns nahe sind. Vielleicht wird das in nächster Zeit ja eine Botschaft mit Sprengkraft werden.

Ist das Eigene den Menschen verloren gegangen, wie wir auch in der Diskussion um den Heimatbegriff erleben?

Was ich aus Gesprächen höre ist, dass Menschen tief verunsichert sind wegen der Auswirkungen der Globalisierung auf das eigene Leben. Sie haben den Eindruck, dass ihnen das, was ihnen in der Heimat lieb ist,vielleicht verloren gehen könnte. Dass die geliebte eigene Kultur durch Ankommende verwässert werden könnte. Sie haben Sorgen, dass die eigenen Kinder keine Zukunft haben, in der sie sich auch zuhause fühlen können. Das führt in eine Wagenburgmentalität. Das halte ich aber für einen Holzweg. Wir werden nur in Frieden leben können, wenn wir den anderen auch im Blick haben. Die Kunst besteht darin, das Eigene zu bewahren, aber gleichzeitig offen zu bleiben. Manchen Menschen scheinen die Spannkraft verloren zu haben, daran zu glauben, dass das gut gehen wird.
Wie sieht das innerhalb der Kirchen aus?

Die katholische und die evangelische Kirche haben gezeigt, dass sie die universalen ethischen Werte der Menschenwürde und der Menschenrechte verinnerlicht haben. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen führt zur gleichen Würde aller. Und sie haben zeigen können, dass sie sehr sensibel sind, wenn diese Werte in Frage gestellt werden. Natürlich gibt es auch in unseren Gemeinden Menschen, die ängstlich sind und die eben aus dieser Angst heraus verführbar. Aber ich baue darauf, dass wir den Raum haben, diese Ängste ernst zu nehmen und abzubauen.

Welche Botschaft der Reformation kommt eigentlich besonders bei den Menschen an?

Wir sind befreit durch Gott zu einem selbstverantwortlichen Leben, wir sind befreit, unser eigenes Gewissen stark zu machen. Und wir sind dadurch gleichzeitig befreit, dem anderen zu dienen und das heißt, dem Gemeinwohl. Überall, wo ich diese Botschaft im Jubiläumsjahr bei Veranstaltungen vermittelt habe, auch in einem völlig säkularen Umfeld, habe ich hinterher äußerst positive Reaktionen bekommen. Menschen haben mir gesagt: Das ist das, was wir heute brauchen: Befreiung von der Angst vor der Zukunft.

Soll Kirche einfach Spannungen aufnehmen, um wirkmächtig zu sein, oder muss sie von sich an voran schreiten und Ziele setzen?

Wir müssen beides schaffen. Das Beispiel in meiner Kirche ist immer unsere Position zur Braunkohle in der Lausitz. Wir haben auf der einen Seite sehr klar gesagt: Wir wollen den Einstieg in den Ausstieg, so früh wie möglich, weil die Braunkohle nicht umweltverträglich ist. Auf der anderen Seite sind wir in der Lausitz gefragt als Moderatoren, die die unterschiedlichen Meinungen zusammenführen. Wir haben einen Kirchentag in der Lausitz durchgeführt zu diesem Thema. Da konnte jeder zu Wort kommen, wir haben aber trotzdem eine eigene Position. Das ist manchmal nicht einfach. Manche Leute fordern von uns eine bestimmte Position ein, weil wir sonst nicht klar wären. Andere sagen, wir hätten als Kirche doch einen Versöhnungsauftrag, wir würden uns selber schaden, wenn wir uns positionell festlegen. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat gerade ein neues Papier herausgebracht: „Konsens und Konflikt“. Darin macht sie deutlich, dass in einer sich wandelnden Gesellschaft, in der plötzlich wieder rechtspopulistische Positionen in den Diskurs eindringen, der bisherige gesellschaftliche Wertekonsens aufgebrochen wird. Da dürfen wir uns als Kirche nicht moralisch entsetzt zurückziehen. Wir müssen wieder konfliktreicher inhaltlich kämpfen und diskutieren.

Die Kirche am Beginn des Reformationsjubiläums und jetzt – wenn Sie vergleichen, sehen Sie da Entwicklungen, neue Fragen, die aufgekommen sind, Antworten?

Wir haben den Mut gehabt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Mein Beispiel ist immer der Marktplatz von Wittenberg. In Wittenberg leben 15 Prozent evangelische Christen. Trotzdem hat sich die Landeskirche getraut, regelmäßig auf diesem Marktplatz Andacht zu halten. Am Anfang sind fünf Leute gekommen. Zum Schluss waren es manchmal 150 bis 200. Diesen Mut hätte man wahrscheinlich nicht gehabt, wenn es nicht den Anlass des Reformationsjubiläums gegeben hätte. Unser Thema „Kirche in der Reform“ haben wir beim Kirchentag auf dem Alexander Platz „open air“ verhandelt, nicht in einem Kongressraum. Wir haben unsere Botschaft in der Öffentlichkeit positioniert und haben die Scheu verloren, dass da Menschen sind, die damit eigentlich nichts anfangen können. In der Auswertung unseres Podiums auf dem Alexanderplatz zur Kirchenreform schreiben die Mitarbeiter, ihnen sei aufgefallen, dass sie keine christliche Tradition voraussetzen konnten. Manchmal erschreckenderweise auch nichts mehr an demokratischer Tradition. Gerade dies hat uns aber nicht ängstlich gemacht. Von diesem Mut wünsche ich mir, dass wir ihn weitertragen, dass wir eine Kirche mit Mission sind…

…also ein Jahr der Stärkung des kirchlichen Selbstbewusstseins…?

…ja, in dem Bewusstsein, im kirchlichen Auftrag in die Öffentlichkeit zu gehen, Gesellschaft mit zu gestalten und sich nicht abschrecken zu lassen davon, dass manche das gar nicht gerne sehen. Dann bekommen wir auch positive Rückmeldungen von Menschen, die selbst keine Christen sind, und dann sagen: Es ist gut, dass es euch gibt.

"Wir predigen nicht Luther oder die Reformation, sondern das Evangelium"

Haben Sie in diesem Jahr noch einmal eine andere Facette an Luther kennen gelernt?

Ja. Für mich war noch einmal besonders wichtig die Auseinandersetzung mit Luthers Verhältnis zu den Juden, das äußerst problematisch war. Eine Ausstellung in diesem Jahr hat das noch einmal aufgearbeitet. Die Evangelische Kirche hat schonungslos Luthers Judenfeindschaft als sein Grundproblem benannt. Man kann eben nicht einfach sagen: Zum Schluss hat der alte Mann einen Fehler gemacht. Nein. Luther ist da mit einer Verbissenheit tätig gewesen, die einfach grundsätzlich in Frage zu stellen ist. Eine solche differenzierte Sicht auf den Reformator hat für mich etwas befreiendes, denn wir können unterscheiden zwischen dem, was wir von Luther übernehmen können und dem, was wir keinesfalls übernehmen können. Deshalb bin ich auch so dankbar, dass wir kein Lutherfest gefeiert haben, sondern die Reformation.

Luther ist als Religionsstifter kein Prophet, sondern eine streitbare Persönlichkeit. Bedeutet das für seine Kirche: Nicht den ganzen Luther nehmen…?

Luther ist nicht als Religionsstifter zu bezeichnen. Er wollte nichts anderes als die Kirche zu reformieren. Dass dies nicht gelungen ist, lag nicht nur an der reformatorischen Bewegung. In diesem Jubiläumsjahr fand ich es epochemachend, dass wir auch von der Seite der katholischen Kirche gehört haben, dass sich die katholische Kirche der damaligen Zeit auch nicht genug geöffnet hat. Nein, Martin Luther ist kein Religionsstifter, sondern bis heute eine Person, die etwas für die gesamte Christenheit zu sagen hat, aber natürlich auch von der gesamten Christenheit kritisch rezipiert werden muss.

Was heißt das für Sie und andere, die sich auf ihn berufen, dass er so eine gespaltene Persönlichkeit war?

Von einer „gespaltene Persönlichkeit“ würde ich nicht sprechen. Er hat sehr unterschiedliche Seiten gehabt. Er war von seiner Persönlichkeitsstruktur her auch sehr polemisch, er neigte zu Wutausbrüchen, das muss man alles mit einbeziehen. Aber es ist doch richtig, ihn auch historisch so zu bewerten. Er ist doch nicht der Gegenstand unserer Verkündigung. Wir predigen weder die Reformation noch predigen wir Martin Luther, sondern wir predigen das Evangelium von Jesus Christus, und Luther hat uns geholfen, bestimmte Aspekte dieser befreienden Botschaft wieder neu wahr zu nehmen.

In diesem Jahr ist der Reformationstag überall Feiertag, aber diese Feiertage sind bedroht. Wäre es ein gemeinsames Anliegen von Christen, Juden und Muslimen, sich für diese Feiertagskultur wieder mehr einzusetzen?

Grundsätzlich haben alle, die die Feiertagskultur stärken wollen, ein gemeinsames Anliegen. Wir dürfen die Gesellschaft nicht nur von ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit her interpretieren. Feiertage sind Symbole dafür, dass es auch um kulturelle Inhalte, dass es um den Menschen geht. Gewerkschaften, Kirchen, Sportvereine sind darauf angewiesen, dass es einen Tag gibt, an dem Menschen auch ehrenamtlich tätig sein können. Es muss einen Tag geben, an dem alle frei haben, sonst kann man auch kein Familienleben mehr gestalten. Und nach den guten Resonanzen auf dieses Reformationsjubiläumsjahr wäre es gut und angemessen, wenn der Reformationstag dauerhaft ein Feiertag wäre. Das ist ein Tag, den die ganze Gesellschaft feiern kann, nicht nur die Christen.

In dem Wort Feiertag steckt Feiern ja schon drin. Wollen die Menschen von der Kirche eigentlich eine neue Haptik? Gerade junge Menschen wollen ja Erfahrbarkeit in der Kirche, Gemeinschaft, Sinnlichkeit, Rituale, sie wollen weg von der Bilderstürmerei…

Vor dem Abschlussgottesdienst in Wittenberg gab es eine Nacht, in der Jugendliche gemeinsam auf dem Feld übernachtet haben, wo eine Taizé-Nacht gefeiert wurde mit vielen Lichtern… am Morgen sah man die Silhouette von Wittenberg, das alles waren sinnliche Erlebnisse. Dafür sind gerade junge Menschen sehr ansprechbar, und das widerspricht auch nicht der Kirche des Wortes. Das Bilderverbot richtet sich ja nur gegen Versuche, Gott dinglich zu machen.

Sie haben gesagt, Luther sei, was die Medien angeht, absolut auf der Höhe der Zeit gewesen. Wir haben jetzt mit Instagram ein Medium, das sehr aufs Bild konzentriert ist, was bedeutet das für die Kirche und die Macht des Wortes, an der Luther so sehr gelegen hat?

Das Wort gehört zum Bild dazu, weil das Wort es mir ermöglicht, das Bild zu interpretieren. Wir haben inzwischen einen Umgang mit Moral, der sich durch Bilder bestimmen lässt. Das Bild eines toten Jungen am Strand weckt plötzlich ein moralisches Empfinden, dass das nicht sein darf. Ein Bild hat eine unglaubliche Suggestivmacht. Aber morgen spricht mich ein anderes Bild an. In meiner Auseinandersetzung mit der Ethik der Bilder habe ich gelernt: Wir müssen auch die Freiheit haben, ein Stück hinter das Bild zurück zu treten und es zu reflektieren und dann zu überlegen, wie viel ich von dieser Suggestion an mich heranlasse und was ich auch abwehren muss. Insofern denke ich, dass wir als evangelische Kirche weiter eine große Bedeutung haben als Kirche des Wortes, die auf diese kritische Distanz zum Bild immer drängen muss.

Was bleibt von der Kirche? Bekommen wir eine Kirche der zwei Geschwindigkeiten – mit einem hochengagierten Kern, der das Salz der Erde ist, und einem breiten Rand herum, den Weihnachtsgottesdienstchristen?

Die Kirche hat schon immer aus denen bestanden, die sich sehr engagieren, und aus denen, die in konzentrischen Kreisen mehr oder weniger Distanz zur Kirche haben. Wichtig ist ja letztlich, dass wir mit unserer Botschaft und mit unserer Ethik weiter präsent sind. Was wir als Kirche gestalten, kann immer nur exemplarisch sein. Insofern wird es gerade in den ostdeutschen Ländern immer sehr viele Menschen geben, die sich nicht unmittelbar zur Kirche halten, die aber froh sind, dass es Kirche gibt und dass sie in irgendeiner Weise sich einbringen können. Sei es, dass sie helfen, die Kirche im Dorf zu restaurieren, obwohl sie keine Kirchenmitglieder sind, weil sie an dieser kulturellen Tradition hängen. Sei es, dass sie sich sozial engagieren. Also: Nicht zwei Geschwindigkeiten, sondern unterschiedliche Distanz und Nähe, aber vereint darin, sich für die Menschlichkeit dieser Gesellschaft einzusetzen.

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