Kirchentag in Wittenberg: Fest im Glauben
120000 Protestanten feiern den Abschlussgottesdienst in Wittenberg und spüren Verantwortung: Ausgerechnet sie, die Religiösen und die Jungen, müssen in Zeiten wie diesen die Realisten sein.
Um kurz nach zwei, als die meisten schon schlafen, reicht Phillipp noch mal die Packung mit dem Butterspritzgebäck herum. Es ist kalt geworden und still, vom Elbufer hört man die Frösche quaken. Phillipp sagt: Beim letzten Mal hat es sich anders angefühlt. Vor zwei Jahren in Stuttgart, da haben er und seine Freunde sich noch aufgeregt, dass sich ein Präsidiumsmitglied des Kirchentags kritisch über das Kirchenasyl geäußert hatte. Das Mitglied war Bundesinnenminister Thomas de Maizière, und Phillipp dachte, der Typ sei ja wohl der letzte Fascho. „Jetzt bin ich mir nicht mehr ganz sicher“, sagt er. „Oder anders: Es gibt jetzt Menschen, die ich dringender als Fascho bezeichnen möchte.“
Die Wiese, auf der am Sonntagmittag der Abschlussgottesdienst des 36. Evangelischen Kirchentags stattfinden soll, ist in der Samstagnacht noch größtenteils leer. Ein paar Tausend sind aus Berlin angereist, haben sich auf dem Gelände verteilt, übernachten auf Isomatten in ihren Schlafsäcken. Phillipp Böttcher liegt mit seiner Gruppe auf halber Höhe zwischen dem riesigen weißen Kreuz und der Großbildleinwand. „Da, eine Sternschnuppe. Glaub ich zumindest.“
Böttcher ist 21, aber weil es bereits sein viertes Mal ist, nennt er sich „Kirchentagsveteran“. Was den Zauber dieser Veranstaltung ausmacht, kann er nicht sagen, nur einige Zutaten aufzählen: Klassenfahrtgefühl, Leute kennenlernen. Rumspinnen, Holzperlenketten in den Farben des Regenbogens. Aufbruchsstimmung und Leichtigkeit. Letztere fehle ihm diesmal. „Es kommt mir vor, als müssten wir jetzt die Vernünftigen sein.“ Also diejenigen, die in der Gesellschaft um Ausgleich und Aufklärung bemüht sind. Die realistisch sind und rational argumentieren. Das ist eine ungewohnte Rolle für eine Gruppe, die sich doch gerade über das Glauben, eben das Nichtwissen definiert.
Phillipp Böttcher sagt, es liege wohl an den Ereignissen, die kurz nach dem Stuttgarter Kirchentag begannen: erst die Flüchtlingskrise und dann der Rechtsruck, AfD und Pegida. Viele hier unterstützen seit 2015 ehrenamtlich Geflüchtete, die meisten sind das, was Hetzer und deren Nachbeter „Gutmenschen“ nennen.
Kann der Kirchentag ihnen helfen, standhaft zu sein? Kann er gar Antworten geben auf die Frage, wie viel Konfrontation nötig und wie viel inhaltliche Auseinandersetzung möglich ist?
Für alle, die schon am Vorabend des Abschlussgottesdienstes nach Wittenberg gereist sind, beginnt der Sonntag um halb fünf am Morgen. Eine Gruppe junger Kirchenmusiker hat auf einem kleinen Podest Instrumente aufgebaut, weckt die Schlafenden mit zaghaften Klavier- und Glockenspielklängen, erst ganz leise, dann unmerklich lauter. Manche setzen sich auf, viele andere schlummern weiter. Bis einer von der Technik „Sonnenaufgang!“ über die Wiese brüllt.
Die Polizei ist sehr präsent, insgesamt 3000 Beamte sind an diesem Wochenende in Wittenberg unterwegs. Der Sprengstoffhund läuft noch einmal die Stuhlreihen ab. Er wird fündig, doch es ist nur die Duftprobe, die sein Herrchen versteckt hat, für das Erfolgserlebnis des Tieres. Vor den Eingängen bilden sich ab acht lange Schlangen. Sämtliche Rucksäcke müssen durchsucht werden. Auch alle Taschen und Koffer, in denen die Mitglieder der Posaunenchöre ihre Instrumente verstaut haben. 6000 sind es, das dauert.
„Solche Kontrollen gab es sonst nie“, sagt Tobias Weichelt, „aber vollstes Verständnis.“ Weichelt ist Mitglied im Posaunenchor Reichenberg, Erkennungszeichen: rotes Shirt mit der Aufschrift „Haste Töne, haste Hoffnung“. Die Sache mit den Posaunenchören zählt zu den charmanten Traditionen des Kirchentags. Ende des 19. Jahrhunderts, sagt Weichelt, wurden Posaunen von der Kirche als Mittel eingesetzt, um junge Leute von der Straße zu holen, damit sie nichts Dummes anstellen. So wie heute Breakdance und Hip-Hop. An diesem Tag wollen die 6000 „Bleib bei mir, Herr“ und „Ich bin bei Euch alle Tage“ spielen. Aber eigentlich freuen sie sich vor allem, dass am Ende „Über den Wolken“ kommt.
Übers Gelände verteilt stehen 200 Tische. Dort soll später das Abendmahl gereicht werden. Für Allergiker gibt es glutenfreie Oblaten. An Verkaufsständen werden Kirchentagsmalbücher, -picknickdecken und -basecaps angeboten. Martin Luther als Playmobilfigur kostet vier Euro, das Paar Luthersocken mit dem Aufdruck „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ das Doppelte. Hinter der gewaltigen Bühne blicken die Besucher auf die Silhouette Wittenbergs. Auf die Schlosskirche, wo Luther seine Thesen angeschlagen haben soll, auf die Stadtkirche, in der er mindesten 1000 Mal auf der Kanzel stand. Und auf Baumwipfel.
Als der Gottesdienst mittags beginnt, haben es 120 000 Menschen zur Elbwiese geschafft. Der Platz hätte für mehr gereicht. Viele Christen aus Asien, Afrika und Lateinamerika sind gekommen. Auch ein Pfarrer aus Pennsylvania, er lässt keinen deutschen Kirchentag aus. Die Europäer sind ja nur noch eine kleine Minderheit unter den weltweit 800 Millionen Protestanten. Diese evangelische Internationale soll das ganze Reformationsjubiläum tragen, ein bisschen hat sie sich auf dem Kirchentag gezeigt. Doch der große Festgottesdienst am Sonntagmittag mutet auch sehr deutsch an. Die 6000 Blasinstrumente haben ihren Anteil daran, die Chöre singen „Großer Gott, wir loben Dich“, Streicher unterlegen die Lesung aus dem biblischen Hohelied der Liebe mit Mendelssohn Bartholdy. Nur ab und zu lockert ein Gospel die Stimmung auf.
Doch dann tritt im weißen Talar Erzbischof Thabo Makgoba aus Südafrika ans Rednerpult. In Deutschland ist er wenig bekannt, in seiner Heimat ist er eine große Nummer. Er wurde 1960 geboren und erlebte die Apartheid. In Südafrika prangert Makgoba Korruption und Vetternwirtschaft an, scheut nicht den Streit mit Präsident Jacob Zuma und legt sich auch mit seiner eigenen Kirche an, zum Beispiel beim Kampf für mehr Rechte für homosexuelle Paare. Nun hält er in Wittenberg die Festpredigt.
Für Makgoba ist Luther nicht Geschichte, sondern lebendiges Vorbild. Der Mann sei einer der „wahren Väter der demokratischen Freiheit“, ruft er mit tiefer Stimme dem Kirchentagsvolk zu, er sei ein „Architekt des sozialen Gewissens“.
Auch Hagar, jene berühmte Sklavin aus der Bibel, sei dem Kirchenreformierer unmittelbar „in die DNA übergegangen“. Hagar, eine Magd, wird von ihrem Dienstherrn Abraham geschwängert. Schließlich muss sie in die Wüste fliehen. Diese Sklavin, die in der Wüste erkennt, „Du Gott, Du siehst mich“, lieferte dem Kirchentag das Motto – und in Südafrika sähen viele in dieser „sexuell und ökonomisch ausgebeuteten“ Frau eine Schwester, sagt Makgoba. Die aus der größten Not ins Gottvertrauen gerettete Sklavin sei ein Zeichen der Hoffnung, „ganz so wie der syrische Flüchtling, der in Deutschland aufgenommen wurde“.
Die Flüchtlinge, da sind sie wieder. Sie haben diesen Kirchentag mitgeprägt, so wie sie die Gedanken des jungen Phillipp Böttcher prägen. Ihr Schicksal wurde zigfach beschworen, es gab Gottesdienste für sie und mit ihnen und am Freitag eine Schweigeminute, die an die Tausenden im Mittelmeer Ertrunkenen erinnerte.
Viele Kirchentagschristen setzen sich ein für die Bedürftigen dieser Welt, sie helfen in Suppenküchen und Kleiderkammern. Auf dem „Markt der Möglichkeiten“ unter dem Berliner Funkturm konnte man sie besuchen, die vielen christlichen Organisationen, Initiativen und Projekte. Oft geht das Engagement einher mit moralischem Überschuss – und nicht selten mit Besserwisserei und Taubheit für Gegenargumente. Das ist fast schon naturgemäß, denn Kirchentage sind auch Orte der Selbstvergewisserung. Anderswo würde man Filterblase dazu sagen.
Alle zwei Jahre tanken die Gläubigen das Gefühl, nicht alleine zu kämpfen, sondern gemeinsam. Es geht um Selbstwahrnehmung, aber auch um die Sicht der anderen. Es geht um die Frage, wer die Evangelischen heute sind, wofür sie einstehen und was ihre Rolle in der Zukunft ist. Es war ein Kirchentag der Identitätssuche in einer Zeit der – quasi allumfassenden – gesellschaftlichen und politischen Suche nach sich selbst.
Barack Obama erinnerte die Christen am Donnerstag vor dem Brandenburger Tor aber auch an eine andere Seite des Glaubens: an den Zweifel und den Selbstzweifel. Er stärkte der Bundeskanzlerin den Rücken, als sie ausgebuht wurde, weil Deutschland Flüchtlinge nach Afghanistan abschiebt. Denn mit Moral alleine lasse sich keine Politik machen.
Am Tag darauf forderte Thomas de Maizière – jener Mann, den Phillipp Böttcher vor zwei Jahren für zumindest gefühllos gehalten hat –, die Kirchentagsfreunde zu mehr Toleranz und Auseinandersetzung auf. Sachlicher Streit sei nichts Böses, im Gegenteil: „Toleranz braucht das Wissen um den Streit.“ Er selbst scheute allerdings die Auseinandersetzung mit dem Großscheich der Al-Azhar-Universität in Kairo. Dafür ging es auf anderen Podien mit Vertretern des Islam, mit Kirchenkritikern und mit einer Vertreterin der AfD zur Sache.
Der Berlin-Wittenberger Kirchentag versuchte mehr als die Christentreffen in den vergangenen Jahren, auf Andersdenkende und Andersglaubende zuzugehen und auch kontrovers zu diskutieren, zaghaft noch, aber immerhin. Vielen zumindest auf der Leitungsebene ist klar: Der Kirchentag muss sich öffnen und die Kontroverse wagen, wenn er in der zunehmend pluralen und gespaltenen Gesellschaft ernst genommen werden will.
Dieser Kirchentag, das ist aber auch zivilisierter Ausnahmezustand. Über Glauben sprechen, ohne sich festlegen zu müssen. Der Kurzurlaub und die Selbstvergewisserung mit Festivalflair. Ein bisschen wie „Rock am Ring“, nur ohne laute Musik und dass niemand die Toilettenhäuschen umschmeißen will.
Die Feiern auf der Elbwiese haben Samstagabend mit einem Gottesdienst der Taizé-Bruderschaft begonnen. Die ist überkonfessionell, und ihr deutscher Vorsteher Bruder Alois nutzt den Abend für ein deutliches Plädoyer. Die gespaltenen christlichen Konfessionen müssten endlich aufeinander zugehen. Nicht, um anderen Religionen überlegen zu sein. Sondern, um Sauerteig zu sein. Um aufzugehen. Ein Zeichen für die Möglichkeit noch viel weitergehender Annäherungen – für die Hoffnung, dass sich alle Völker und Religionen versöhnen. „Müssten sich die Konfessionen nicht unter ein gemeinsames Dach begeben?“, fragt Bruder Alois. „Und zwar sofort und ohne, dass alle theologischen Fragen geklärt sind.“ Den Applaus hört man bis rüber zum Kaffeezelt.
Dann verweist Bruder Alois auf ein Gebet, das Papst Franziskus im vorigen Jahr gesprochen hat. Franziskus sagte: „Heiliger Geist, hilf uns, die Gaben anzuerkennen, die die Reformation der Kirche gebracht hat.“ Diese Worte kommen einer Sensation gleich, sagt Alois. Und er äußert einen Wunsch: Mag die evangelische Kirche im Dezember, zum Ende des Reformationsjahres, nicht darauf antworten und ihrerseits Gaben anerkennen, die die katholische Kirche dem Christentum beschert habe?
Draußen vor dem Gelände steht ein Imbiss. Der Betreiber macht gerade sein Geschäft des Jahres. Es gibt Radler und Bockwurst. Ein älterer Mann stänkert: Eigentlich habe der ganze Kirchentag nach Wittenberg gehört. Die in Berlin verstünden doch nichts von Luther. Das seien gar keine richtigen Christen. Jetzt mal ehrlich.