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Der am 9. September 2000 mutmaßlich vom NSU ermordete Enver Simsek mit seiner Ehefrau.
© Archiv/Tsp/Ufuk Ucta

Nebenklage-Anwältin im NSU-Prozess: "Vertrauensverlust in den Rechtsstaat wird immer größer"

Die Anwältin Seda Basay-Yildiz warnt davor, die Verunsicherung von Migranten zu bagatellisieren. Ombudsfrau John fordert endlich eine Fehlerkultur der Sicherheitsbehörden.

Kurz bevor der NSU-Prozess auf die Zielgerade kommt, ein Urteil wird in den kommenden Monaten erwartet, hat die Nebenklage-Anwältin Seda Basay-Yildiz davor gewarnt, die „große Verunsicherung“ in der migrantischen Bevölkerung in Deutschland zu bagatellisieren. „Gerade in Zeiten, wo Rechte in deutsche Parlamente eingezogen sind, die vor dem Untergang der deutschen Nation warnen und wo Deutschtümelei immer mehr Menschen begeistert, sind Menschen mit Migrationshintergrund tief verunsichert.“

Menschen, die nie Opfer eines rassistischen Anschlages werden könnten, weil sie deutsche Namen tragen, werden nie verstehen, was es heißt, wenn man seinen Namen von der Klingel oder dem Briefkasten entfernen muss, weil von außen nicht erkennbar sein darf, dass dort eine ausländischstämmige Familie wohnhaft ist, sagt Basay-Yildiz.

Bundesanwaltschaft fordert lebenslänglich mit Sicherheitsverfahrung

Sie vertritt die Angehörigen von Enver Simsek, dem ersten Mordopfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). An diesem Dienstag wird der Prozess mit dem 402. Verhandlungstag vor dem Münchner Oberlandesgericht fortgesetzt. Sie sagt: „Als im November 2011 klar wurde, dass Neonazis die Mörder waren, haben viele Migranten ihren Glauben in den deutschen Rechtsstaat verloren. Es ist absurd, dass dieser Vertrauensverlust im Jahre 2018 trotz des Wissens über die Ideologie des NSU immer größer wird, und zwar durch die Hoffähigkeit nationaler Parolen und der um sich greifenden Deutschtümelei aus Angst vor Flüchtlingen.“

Der Prozess hat am 6. Mai 2013 in München vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts begonnen. Fast 600 Zeugen und Sachverständige wurden von den fünf Richtern gehört, die unzählige Befangenheitsanträge überstanden haben. 95 Opfer und Angehörige sind Nebenkläger, sie werden von 60 Anwälten vertreten. Jeder einzelne Prozesstag kostet 150 000 Euro. Für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat die Bundesanwaltschaft in ihrem Strafantrag lebenslang mit Sicherheitsverwahrung wegen der besonderen Schwere der Tat gefordert. Vier weitere mutmaßliche Hintermänner sind angeklagt, darunter Ralf Wohlleben, der das Trio geschützt, gestützt und die Mordwaffe mitorganisiert haben soll.

Seda Basay-Yildiz vertritt als Nebenklage-Anwältin Hinterbliebene der Familie Simsek, darunter den Sohn Abdul Kerim.
Seda Basay-Yildiz vertritt als Nebenklage-Anwältin Hinterbliebene der Familie Simsek, darunter den Sohn Abdul Kerim.
© privat

Am Dienstag wird Basay-Yildiz als eine der letzten Nebenkläger-Anwälte auch ihr Plädoyer halten, bei dem auch Abdul Kerim Simsek sprechen wird, der Sohn des am 9. September 2000 ermordeten Enver Simsek. Simsek Junior war zur Zeit des Mordes 13 Jahre alt.

Der NSU wurde erst durch den Selbstmord der mutmaßlichen Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 und durch das Abbrennen ihrer Zwickauer Wohnung und das Versenden von Bekennervideos durch Beate Zschäpe bekannt. Bis dahin hatten die Ermittler der rechtsextreme Hintergründe der Mordserie weitgehend ausgeschlossen und die Täter im Umfeld der Opfer gesucht. So war es auch im Fall Simsek, dem ersten Mordopfer der Terrorzelle. Ein rechtsextremer Hintergrund wurde ausgeschlossen und die Familie Simsek beschuldigt, den Vater umgebracht zu haben. Basay-Yildiz will in ihrem Plädoyer anhand von detaillierten Beispielen aus den Ermittlungen auch aufzeigen, wie „vorurteilsbehaftet“ die Polizei und andere Sicherheitsbehörden gegen die Familie vorgegangen sind „eben nur aus dem einen Grund, weil sie Türken waren“. Das machte sie per se verdächtig für die Ermittlungsbeamten.

Ombudsfrau Barbara John: Wir brauchen eine Null-Fehler-Politik

Während die Mutter, der 2009 vom NSU ermordeten Polizistin Michelle Kiesewetter von der Polizei in Begleitung einer Pastorin über den Tod der Tochter informiert worden war und sie zehn Tage Zeit bekam, bevor sie zuhause befragt wurde, musste Adile Simsek gleich am nächsten Morgen zum Verhör auf die Polizeistation.

Über den Anschlag auf ihren Mann wurde sie gegen 21:50 Uhr sechs Stunden nach seinem Auffinden informiert mit dem Hinweis, dass ein sofortiger Besuch in der Klinik, in der der lebensgefährlich verletzte Ehemann lag und dessen Ableben jederzeit zu erwartet war, „nicht nötig“ sei. Bereits am nächsten Tag musste sie vom Krankenbett zur Polizei, damit eine Vernehmung durchgeführt werden konnte  Ab diesem Tag an wollte die Polizei beweisen, dass es entweder um Schutzgelderpressung, Drogen, eine Beziehungstat oder mafiöse Strukturen ging.

Anwältin Basay-Yildiz sagt: „Es ist ja vollkommen klar, dass am Anfang in einem Mordfall in alle Richtungen ermittelt werden muss, aber hier hat es nie aufgehört, dass immer nur die Familie unter Verdacht stand, obwohl es absolut keine Anhaltspunkte gab. Das ist der Skandal und das Trauma, das die Hinterbliebenen bis heute mit sich tragen.“ Gerade weil die Ermittlungen „strukturell rassistisch“ waren, wie die Anwältin findet, „konnte auch kein weiterer Mord verhindert werden“. Dies zeige, dass die Ermittlungsbehörden dieses Landes nicht in der Lage sind, jeden Bürger dieses Landes unabhängig von der Herkunft zu schützen.

Abdul Kerim Simsek war 13 Jahre alt, als sein Vater Enver getötet wurde.
Abdul Kerim Simsek war 13 Jahre alt, als sein Vater Enver getötet wurde.
© Armin Lehmann

Auch die Ombudsfrau der Hinterbliebenen und Opfer, Barbara John, die in wenigen Tagen 80 Jahre alt wird und lange Jahre Berlins Ausländerbeauftragte war, sieht in diesem Versagen der Behörden einen Skandal. „Bis heute haben wir für die Gesamtpolizei keine Fehlerkultur entwickelt. Es gibt keine Null-Fehler-Politik als Ziel, wie in anderen europäischen Ländern.“ John sagt auch, dass die Angehörigen zurecht enttäuscht sind, weil bis heute „kein einziges Verfahren wegen Strafvereitelung im Amt“ eingeleitet worden sei, obwohl „die zahlreichen Untersuchungsausschüsse dokumentiert haben, wie schlampig und falsch in vielen Amtsstuben gearbeitet worden sei“.

John sieht auch einen anderen Zusammenhang zwischen den NSU-Morden und der heutigen politischen Situation: „Damals wie heute waren die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage, Terror zu verhindern. Dabei ist der Schutz der Bürger ihre zentrale Aufgabe. Doch der Fall Amri hat gezeigt, dass die Fehler der Vergangenheit wie etwa mangelnde Kooperation der Behörden bis heute nicht abgestellt worden sind.“

Semiya Simsek, die Tochter, ist 2012 in die Türkei gezogen, wo sie geheiratet hat und mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe dem Dorf lebt, aus dem der Vater stammt.
Semiya Simsek, die Tochter, ist 2012 in die Türkei gezogen, wo sie geheiratet hat und mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe dem Dorf lebt, aus dem der Vater stammt.
© Doris Spiekermann-Klaas

Der Tagesspiegel hat die Familie Simsek seit Anfang 2012 mehrfach interviewt und getroffen, der Autor dieser Zeilen hat vor allem über die Tochter Semiya Simsek und ihre Freundin Gamze Kubasik geschrieben, deren Vater ebenfalls vom NSU ermordet wurde. Beide Töchter lernten sich auf einer Demonstration 2006 kennen, als man die Polizei aufforderte, endlich auch im rechtsextremen Milieu zu fahnden. Jetzt hat erstmals auch Semiyas Bruder Abdul Kerim Simsek darüber geredet, was der Mord und das, was danach geschah, aus seinem Leben gemacht hat und wo er heute steht. Simsek erzählt über seine Ängste, über seine Wut und die Sehnsucht nach seinem Vater. Das große Porträt lesen Sie ab Sonntagabend im Tagesspiegel-E-Paper und ab Montag in der Printausgabe auf der Reportageseite Die Dritte Seite.

Armin Lehmann

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