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Am Jahrestag der Entführung der 276 Mädchen aus einer Schule in Chibok im Nordosten Nigerias gab es im ganzen Land Gedenkveranstaltungen für die 219 Mädchen, die nach wie vor in den Händen der Terroristen von Boko Haram sind. Hier spricht die Mutter eines der vermissten Mädchen zu anderen Eltern aus Chibok.
© AFP

Terror in Nigeria: Vergessen sind sie nicht

276 von der Terrormiliz Boko Haram entführte Schulmädchen haben Nigeria verändert. Die Gewalttat hat den Präsidenten Goodluck Jonathan sein Amt gekostet. Ein Kommentar.

Die 276 Mädchen aus Chibok im Nordosten Nigerias sind zum Symbol geworden. Für die Brutalität der islamistischen Terrormiliz Boko Haram, die seit 2009 gegen den Staat kämpft. Für die Angriffe auf Schulen, auf Bildung vor allem für Mädchen in einigen, vorwiegend muslimischen Ländern. Für die Leiden der Frauen und Mädchen im Krieg.

Boko Haram hat seit Anfang 2014 nach Recherchen von Amnesty International mindestens 2000 Frauen und Mädchen entführt und mindestens 5500 Menschen getötet. Wie viele junge Männer oder sogar Kinder die Miliz gezwungen hat, für sie zu kämpfen, ist unklar. Aber es sind viele.

Den Chibok-Mädchen hat es nichts genutzt, zum Symbol zu werden. 219 Mädchen, die Boko Haram am 14. April 2014 aus ihrer Schule entführt hat, sind weiterhin in der Gewalt der Terroristen. 57 Mädchen gelang die Flucht. Weder die nigerianische Armee, die erst seit sechs Wochen ernsthaft und mit regionaler Unterstützung gegen Boko Haram kämpft, noch die Spionagetechnik der USA und anderer Staaten haben die Mädchen bisher aufspüren können.

Zunächst gerieten die Mädchen in die Mühlen der politischen Auseinandersetzung in Nigeria. Der gerade abgewählte Präsident Goodluck Jonathan hatte erst nicht an eine Entführung geglaubt. Seine Berater und seine Frau redeten ihm ein, die Geschichte sei eine Erfindung der Opposition, um ihn schlecht dastehen zu lassen. Die ersten Wochen ließ Jonathan vorbeigehen, obwohl aus der Bewegung „#BringBackOurGirls“ zeitweise eine internationale Bewegung mit hoher Promidichte geworden war. Selbst Michelle Obama ließ sich mit einem Schild ablichten, auf dem sie forderte, die Mädchen zurückzubringen.

Während das internationale Interesse nach wenigen Wochen wieder erloschen war und sich dem nächsten Skandal zuwendete, haben die Mütter und eine Solidaritätsbewegung in Nigeria selbst die Massenentführung nicht vergessen. Woche für Woche marschiert die Bring-Back-Bewegung in der Hauptstadt Abuja – zuletzt am Montagabend. Und selbst in Lagos, diesem Stadtmoloch im Südwesten Nigerias, dem der Rest des Landes oft völlig egal ist, existiert die Bewegung bis heute noch.

Die Entführung der Chibok-Mädchen und die inkompetente Reaktion von Regierung und Armee darauf haben Goodluck Jonathan die Präsidentschaft gekostet. Doch zumindest ein Gutes ist aus der Katastrophe erwachsen: Nigerias Zivilgesellschaft hat Mitgefühl aufgebracht, Durchhaltevermögen und den Willen, einen gesellschaftlichen Skandal endlich einmal nicht auf sich beruhen zu lassen.

Im Wahlkampf hatte der künftige Präsident Muhammadu Buhari noch versprochen, die Mädchen zurückzubringen. Inzwischen ist er sich nicht mehr so sicher, ob er das auch kann. Niemand weiß genau, wo die Mädchen sind. Die meisten sind aber offenbar noch am Leben. Frauen oder Mädchen, denen die Flucht – oft erst nach Monaten der Gefangenschaft, Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit – gelang, berichten davon, dass sie die Mädchen gesehen hätten. Und dass sie anders behandelt würden als andere Entführungsopfer.

Gelänge es Nigeria, die Mädchen zurückzubringen, wäre das ein machtvolles Zeichen, dass das Land doch in der Lage ist, dem Terror zu begegnen. Noch ein Symbol.

Dagmar Dehmer

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