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Chimamanda Ngozi Adichie , 36, wurde in Nigeria geboren. Nach dem Studium an der Yale University begann sie, Romane zu schreiben. Ihr dritter, "Americanah", erschien gerade auf Deutsch - er wurde vergangenes Jahr vom "National Book Critic Circle" als bestes Buch ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann in den USA und in Nigeria.
© Mike Wolff

Chimananda Ngozi Adichie: "Zum ersten Mal ist meine Hoffnung angekratzt"

Über den Terror von Boko Haram, Luxuskarossen in Lagos, Zensur von Filmen: Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Adichie erklärt ihre Heimat und warum sie keinen amerikanischen Pass möchte.

Frau Adichie, als Sie von Lagos nach Deutschland geflogen sind, wurden Sie bei der Einreise auf Ihren nigerianischen Pass angesprochen?

Nein, was überraschend ist. Normalerweise muss ich mindestens 25 Fragen über mich ergehen lassen - so wie in Dänemark vor einigen Monaten. Ob ich wirklich Schriftstellerin sei? Dabei habe ich so viele Visa in meinem Pass, da scheint das doch nicht so abwegig!

Sie haben drei Romane geschrieben, für Ihren letzten, "Americanah", erhielten Sie in den USA den "National Book Award". Seit Wochen steht das Buch auf der "Spiegel"-Bestsellerliste. Zücken Sie doch einfach ein Buch als Beweis.

Nein. Ich glaube nicht, dass Schriftsteller das tun sollten. Wie furchtbar, dass ein Beamter in meinen grünen Pass schaut und denkt: Lügnerin.

"Nigerianer haben einen schlechten Ruf"

Wofür steht ein nigerianischer Pass in Europa?

Nigerianer haben einen schlechten Ruf - übrigens auch in Afrika. Wir sind die Drogenhändler und Betrüger, die Ihnen Spam-Mails schreiben: "Bitte schicken Sie uns Ihre Kontodaten." Ich verstehe ja, dass jedes Land das Recht hat, Menschen, die es nicht haben will, an der Einreise zu hindern. Aber es darf doch nicht so reflexhaft werden.

Sie leben einen Teil des Jahres in den USA. Beantragen Sie doch einen amerikanischen Pass.

Das will ich nicht. Ich hänge an meinem Pass. Damit zu reisen, ist Teil unserer nigerianischen Identität. Das gehört dazu.

Durch Ihre Studien- und Arbeitsaufenthalte in Amerika bekommen Sie wenigstens leichter Visa als andere Nigerianer.

Es gibt in Nigeria Botschaften, die ihre Praxis verändert haben, weil ich öffentlich darüber gesprochen habe. Es war eine Schande. Nicht weil Visa abgelehnt, sondern weil die Antragsteller würdelos behandelt wurden. Manche Beamte waren unhöflich. Nehmen wir das Beispiel einer 70-jährigen Frau, die zum Schalter geht, und die Botschaftsangestellte fängt an, sie anzuschreien - über das Mikrofon, so dass alle mithören müssen. Alle Nigerianer im Warteraum krümmen sich vor Scham. Bei uns respektieren wir das Alter.

"Ich habe mir einen riesigen Generator gekauft"

Nun läuft auch in Nigeria nicht alles glatt.

Jedes Mal, wenn ich am Flughafen lande, empfinde ich zwei Dinge: pures Glück, weil Lagos meine Heimatstadt ist, und eine leichte Enttäuschung. Ich steige aus dem Flugzeug aus, die Klimaanlage funktioniert wieder nicht, und ich denke: Warum zum Teufel?

Die Stromversorgung ist im ganzen Land mangelhaft. Haben Sie wie viele Nigerianer einen Generator für Ihr Haus gekauft?

Natürlich, einen riesigen, und er verbraucht unglaubliche Mengen an Kraftstoff. Vor kurzem habe ich mir einen Stromwandler angeschafft, mit dem ich Diesel sparen kann.

Schauen Sie von Amerika manchmal mit einer gewissen Distanz auf dieses Leben ohne zuverlässigen Strom in Lagos?

Nein. Ich verbringe viel mehr Zeit in Nigeria als in den USA. Es ist ein Unterschied, ob man als Besucherin nach Lagos kommt oder in einen Generator investiert. Dann schlägt man Wurzeln.

"Für einen Big Man in Ordnung"

Die Hauptfigur in Ihrem Roman "Americanah" kehrt nach 13 Jahren in den USA nach Nigeria zurück. Sie wundert sich: Jeder hat ein Mobiltelefon, Limousinen fahren auf den Straßen...

In gewisser Weise ist Nigeria für Afrika, was die USA für Nord- und Mittelamerika sind. Es gibt dank des Öls viel Geld, viel mehr als in anderen afrikanischen Staaten. Allerdings ist es auf einen kleinen Kreis von Menschen beschränkt. Vor einiger Zeit habe ich eine Freundin in Nairobi besucht. Sie hat mich auf einen schicken Sportwagen aufmerksam gemacht, als fragte sie sich, wie der nach Kenia gekommen sei. Ich habe ihr gesagt: In Lagos gibt es Hunderte davon. Wir Nigerianer halten Wohlstand für normal, obwohl er nur wenigen zugutekommt. Fünf Geländewagen? Für einen Big Man doch in Ordnung.

Bitte, was ist ein Big Man?

Ein reicher Mann mit Klassenprivilegien. Er gehört zur Oberschicht und ist beinahe unantastbar.

Was bedeuten die neuen Anti-Schwulengesetze?

Gilt das auch, wenn man ihn im Zuge des neuen Anti-Schwulengesetzes verhaften würde?

Niemand wird einen Big Man festnehmen, auch wenn es Politiker mit homosexuellen Affären gibt. Das Gesetz ist ein Problem für Menschen ohne Verbindungen, jene, die keinen Big Man kennen, der ein Bestechungsgeld zahlt.

Sie haben sich in einem Zeitungsartikel gegen das Gesetz ausgesprochen.

Weil es Homophobie und die Gewalt gegen Schwule und Lesben legitimiert. Die Polizei hat einfach Männer, die im Verdacht standen, schwul zu sein, verhaftet. Im Norden Nigerias wurden sie auf eine Polizeistation gebracht. Vor dem Gebäude versammelte sich ein Mob und verlangte die Auslieferung - um die Beschuldigten auf der Stelle zu töten.

Sie wurden für den Text scharf angegriffen, weil Sie angeblich "Menschen täuschen, um das Böse im Namen der Menschenrechte zu propagieren".

Freunde von mir haben mir sogar geraten, den Artikel gegen die Schwulengesetze nicht unter meinem Namen zu schreiben. Sie meinten, das wäre nun ein Verbrechen, und ich könnte theoretisch für 14 Jahre inhaftiert werden. Ich habe ihnen geantwortet: Ich hoffe, ihr bringt mir frisches Obst und Gemüse, wenn ich ins Gefängnis komme. In Zürich habe ich vor kurzem eine Lesung gehalten. Da stand ein Nigerianer auf und fragte: "Finden Sie nicht, dass der Westen uns die Gleichstellung der Schwulen nicht aufzwingen darf?" Und ich antwortete ihm: "Der Westen zwingt uns gar nichts auf."

Was hat der Westen damit zu tun?

Die Regierung hat das Gesetz als anti-imperialistisch bezeichnet. Man solle Homosexuelle nicht unterstützen, weil der Westen das gerade tue, sondern sich als unabhängiges Land dagegenstemmen. Ich glaube, der Grund für die Homophobie liegt in der Religion. Dieser Hass vereint nämlich Christen und Muslime gleichermaßen.

Nigeria ist ein sehr religiöses Land

Der amerikanische Thinktank Pew Research hat herausgefunden, dass Nigeria nach Ghana das zweitgläubigste Land der Welt ist.

Religion kann bei uns eine Menge bedeuten. Es gibt eine öffentlich gelebte Religiosität. Die Menschen glauben an Gott. Wenn der Diesel für den Generator ausgeht, heißt es: Gott wird sich darum kümmern. Dass sie oft in die Kirche gehen, heißt aber nicht, dass sie bei einer sich bietenden Gelegenheit auf ein Bestechungsgeld verzichten würden. Es ist keine moralische Gesellschaft.

Eine religiöse Sekte, die islamistische Boko Haram, terrorisiert nun seit Jahren den Nordosten Nigerias. Was bedeutet das für Ihren Alltag?

Bisher war uns das im Süden gleichgültig. Aber seit der zweiten Bombe in der Hauptstadt Abuja Mitte April hat sich das geändert. Täglich gibt es Geschichten über mögliche Bomben in Lagos. Die Menschen haben Angst. Das ist eine neue Entwicklung. In Lagos waren wir distanziert besorgt, wir dachten, der Norden ist weit weg, wir sind sicher. Das glaube ich nun nicht mehr.

"Boko Haram sagt: Die Scharia ist die Lösung"

Was bedeutet die Entführung der 300 Mädchen durch die Boko Haram für Sie?

Sie macht mich zutiefst traurig und wütend. Eigentlich bin ich hoffnungsvoll, was mein Land angeht. Trotz des offensichtlichen Chaos denke ich, unsere Probleme sind gar nicht so groß. Es ist das erste Mal, dass meine Hoffnung etwas angekratzt ist. Ich fühle mich wie viele Nigerianer hilflos. Wie können sich die Terroristen während eines Ausnahmezustands so frei bewegen? Welche Ziele hat die Gruppe überhaupt?

Boko Haram hat mit gebildeten Studenten angefangen, die keine Jobs gefunden haben und gegen die Korruption kämpfen wollten.

Die jagen aber nicht Märkte in Abuja in die Luft. Ich glaube nicht, dass Boko Haram gegen die Korruption gerichtet ist. Die gibt es überall. Die Sekte sagt, die Scharia ist die Lösung des Problems. Das ist etwas völlig anderes.

Hat Sie die weltweite Kampagne "Bring Back Our Girls" überrascht?

Sie hat mich eher irritiert.

Das müssen Sie erklären.

Im Großen und Ganzen bin ich natürlich froh, dass die Welt Anteil nimmt. Das ist einer der Gründe, warum die Regierung von Goodluck Jonathan reagieren muss. Auf der anderen Seite übernehmen diesen Slogan Menschen, von denen ich mich frage, ob sie Nigeria auf einer Landkarte zeigen könnten. Das hat für mich einen absurden Beigeschmack.

Die USA haben angekündigt, Nigeria mit Drohnen und Soldaten bei der Suche zu unterstützen.

Man soll nach Hilfe fragen, wenn man das Beste versucht und es nichts gebracht hat. Ich glaube nicht, dass Nigeria an diesem Punkt ist. Ich will eine besser ausgerüstete Armee. Freunde von mir haben mit Soldaten im Norden geredet, die bekommen eine Mahlzeit pro Tag, da würde ich auch nicht kämpfen wollen. Die Lösung kann nicht sein, dass Amerikaner ihre Drohnen einsetzen.

Chimamanda Adichie über Lupita Nyong'o und den Rassismus

Das undatierte Foto zeigt eine junge Mutter mit ihrem Kind im Südwesten Nigerias. Zwischen 1967 und 1970 hatte sich die ölreiche Region zum unabhängigen Staat ausgerufen. Der folgende Bürgerkrieg mit der nigerianischen Armee verursachte eine entsetzliche Hungersnot in Biafra. Millionen Menschen starben. Chimamanda Adichies Roman "Half of a yellow sun" erzählt vom Biafra-Krieg. Der zugehörige Film wurde von der nigerianischen Zensurbehörde monatelang blockiert.
Das undatierte Foto zeigt eine junge Mutter mit ihrem Kind im Südwesten Nigerias. Zwischen 1967 und 1970 hatte sich die ölreiche Region zum unabhängigen Staat ausgerufen. Der folgende Bürgerkrieg mit der nigerianischen Armee verursachte eine entsetzliche Hungersnot in Biafra. Millionen Menschen starben. Chimamanda Adichies Roman "Half of a yellow sun" erzählt vom Biafra-Krieg. Der zugehörige Film wurde von der nigerianischen Zensurbehörde monatelang blockiert.
© picture-alliance/dpa

Wenn Sie sich so äußern, müssen Sie vielleicht bald ins Exil wie einige Intellektuelle vor Ihnen.

Das ist eine andere politische Lage als vor 20 Jahren, als Schriftsteller und Professoren flüchteten. Das war zu Zeiten von Diktator Sani Abacha, er war brutal und bösartig, niemand wusste, was am nächsten Tag passieren könnte. Nun ist es nicht so, dass keine Menschenrechte verletzt werden, aber die politische Lage ist stabiler.

Gerade wurde die Verfilmung Ihres Romans "Eine halbe gelbe Sonne" im Kino verboten (Anmerkung der Redaktion: Am 5. Juli hat die Zensurbehörde in Nigeria den Film für ein Publikum über 18 freigegeben, nach monatelanger Blockade). Das beunruhigt Sie gar nicht?

Der staatliche Sicherheitsdienst muss noch einmal darüber beraten, und das ist bisher nicht geschehen. Nach der Entführung der Mädchen durch Boko Haram liegen bei einigen Beamten die Nerven blank. Sie wollen auf keinen Fall ihre Arbeit und die damit verbundenen Privilegien verlieren - und überlegen, ob es eine Möglichkeit gibt, dass der Film Unruhen provozieren könnte. Das ist Teil unseres militärischen Erbes.

Buch und Film handeln vom Biafra-Konflikt Ende der 1960er Jahre, als sich ein südwestlicher Teil des Landes abspalten wollte. Ist das Thema ein Tabu?

Nicht mehr, es ist allerdings umstritten. Wenn Sie es in einem Kreis von verschiedenen nigerianischen Ethnien anschneiden, wird eine gewisse Spannung in der Luft liegen. Familien haben Schreckliches erlebt - Mädchen, die ihren kleinen Bruder verloren haben, als sie durch einen Fluss fliehen mussten, und er ertrank.

Lupita Nyong'o hat die Filmrechte an "Americanah" gekauft

Demnächst wird auch "Americanah" verfilmt. Gerade hat die kenianische Schauspielerin Lupita Nyong’o die Filmrechte gekauft.

Sie hat mir eine lange reizende E-Mail geschrieben, wie viel ihr das Buch bedeutet hat, das war noch, bevor sie den Oscar gewann.

Den Preis bekam Sie als beste Nebendarstellerin für "12 Years a Slave" im Februar. War das ein wichtiges Zeichen?

Ist sie ein Symbol für viele andere junge Frauen geworden? Ja. Weil die Welt so lange Schönheit nur als die der Weißen definiert hat. Lupita zeigt nun, dass es auch anders geht.

Wer ist Beyoncé?

Die Sängerin Beyoncé zitiert Sie in einem ihrer Songs: "Wir lehren Mädchen, dass sie sich kleiner machen sollen, als sie sind."

Wer, bitte?

Aha, Sie möchten nicht darüber reden?

Ich nehme an, mehr Menschen wissen nun, wer ich bin. Und sie reden mehr über Feminismus. Das ist doch großartig.

Sie haben einmal gesagt, in der Arbeitswelt werden Frauen in den USA und Nigeria unterschiedlich behandelt.

Sehen Sie sich die Diskussion um die entlassene Chefredakteurin der "New York Times" an. Sie drehte sich um ihren angeblich so polarisierenden Führungsstil. "Polarisierend" - das Wort taucht auch immer im Zusammenhang mit Hillary Clinton auf. Ich kenne einige amerikanische Männer, die brüsk und barsch Organisationen leiten, und niemand hält sie für polarisierend. Natürlich finde ich das sehr geschlechterbezogen! Anderes Beispiel: Eine Frau wird auf einer Konferenz übergangen, jemand klaut ihre Idee. In den USA geht sie danach auf die Toilette, um heimlich zu weinen. In Nigeria wird sie aufbegehren: "Hey, das war meine Idee!"

In "Americanah" behaupten Sie auch, Michelle Obama und Beyoncé glätteten ihre Haare, um vom Mainstream akzeptiert zu werden.

Jahrelang habe ich das selbst versucht. Möchten Sie einen bestimmten Job haben, bedeutet das: Glätteisen und Chemie.

"Wie reden Sie über Diskriminierung in Deutschland?"

Sie schreiben in Ihrem Roman, über die Haare definieren Amerikaner auch Rasse. Warum ist dieser Aspekt nach wie vor so wichtig in Amerika?

Natürlich wegen der Geschichte. Und ist das nicht dasselbe hier in Deutschland? Ich habe gehört, Sie dürfen nicht einmal mehr das Wort "Rasse" gebrauchen, wenn Sie von Menschen reden, höchstens von Hunden.

Es wird mit dem Nationalsozialismus assoziiert.

Wenn das Wort tabu ist, wie reden Sie dann über Diskriminierung in Deutschland?

Mit Begriffen wie "Migrationshintergrund".

Egal, ob es sich um Türken, Japaner oder Nigerianer handelt?

Die Formulierung gefällt Ihnen nicht.

Überhaupt nicht. Gut gemeint, aber sie hat etwas von einer faulen Ausrede. Warum wollen Sie nicht über Rasse sprechen oder über Sklaverei, wenn Sie das so furchtbar finden? Teil des Problems ist nach wie vor, dass es keine Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gruppen gibt.

Auch hierzulande?

Neulich in Frankfurt wollte man wissen, warum ich bisher Einladungen nach Deutschland abgelehnt habe. "Weil ich mich das erste Mal vor Jahren überhaupt nicht wohlgefühlt habe! Mir kam es so vor, als würden mich die Menschen ständig anstarren!" Da sagten die Frankfurter zu mir: "Ach, das war bestimmt in einer Kleinstadt im Schwarzwald, hier würde das nie passieren!" Ich schaute sie an, alles Weiße um mich herum, und fragte sie: "Woher nehmen Sie die Gewissheit, wenn Sie selbst nicht schwarz sind oder Freunde mit schwarzer Hautfarbe haben?"

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