Rassismus im Fußball: Überlassen wir unser Land nicht den Hetzern und Spaltern
Die Erklärung Mesut Özils zu seinem Rücktritt ist bezeichnend. Wenn sich ein 92-facher Nationalspieler über Rassismus an der DFB-Spitze äußert, darf es uns nicht kalt lassen. Ein Gastkommentar.
Ein kurzer Rückblick. Als am 24. Juni 2018 Präsidentschafts -und Parlamentswahlen in der Türkei stattfanden, durften die „Auslandstürken“ bereits zum vierten Mal in den Konsulaten wählen. In Deutschland haben etwa 50 Prozent der knapp 1,5 Mio. wahlberechtigten Türkinnen und Türken von diesem Wahlrecht Gebrauch gemacht und sind zur Urne gegangen. Nachdem die Ergebnisse aus Deutschland veröffentlicht wurden, war das Staunen (wieder) groß: 65,1 Prozent haben ihre Stimme der Erdogan-Partei AKP gegeben und 64,8 Prozent haben das Kreuz bei Erdogan gemacht.
Ein ähnliches Bild bei der Abstimmung zum Verfassungsreferendum in 2017, wo das AKP-Lager 63,1 Prozent in Deutschland bekam und bei den Parlamentswahlen in 2015, als die Erdogan Partei AKP 58,7 Prozent von den Deutsch-Türken erhielt. Immer deutlich mehr als in der Türkei selbst. Nach jeder dieser Wahlen entbrannte in Deutschland eine Diskussion über die Integrationsfähigkeit und -willigkeit der Deutsch-Türken hierzulande. Die Empörung war groß. Zurecht wurde die Frage aufgeworfen, weshalb insbesondere junge Türken, die hier geboren und aufgewachsen sind, sich mehr für die Politik von Erdogan interessieren als für die Politik bei uns.
Dafür gibt es sicherlich viele Erklärungen. Mesut Özil, der Weltmeister von 2014 und Stolz der Nationalmannschaft für lange Jahre, hat mit seinem gestrigen Rücktritt eine weitere Erklärung hinzugefügt „Wenn wir gewinnen bin ich ein Deutscher, und wenn wir verlieren bin ich ein Migrant.“
Mesut Özil trifft den Nagel auf den Kopf
Dieser Satz ist bezeichnend und gibt die Gefühlslage von Hunderttausenden jungen Türkinnen und Türken wieder. Die Tragweite dieses Satzes wird folgende Generationen junger Deutsch-Türken prägen, meines Erachtens zum schlechten, ob es uns gefällt oder nicht.
Sicherlich war das Foto mit Erdogan in Mitten des türkischen Wahlkampfs extrem unklug und extrem naiv. Sicherlich hätte Mesut Özil sich schon vor Monaten äußern können. Sicherlich kann und darf man die Einschränkungen der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit in der Türkei nicht unreflektiert lassen. Aber das alles ändert nichts an der Tatsache, dass Mesut Özil mit diesem entscheidenden Satz, den Nagel auf den Kopf trifft.
Wenn der Weltmeister von 2014, Nationalspieler des Jahres 2011, 2012, 2013, 2015 und 2016 sowie 92-facher Nationalspieler sich über Rassismus an der DFB-Spitze äußert, darf es uns nicht kalt lassen. Es darf auch nicht vergessen werden, dass Mesut Özil sich in 2009 bewusst für die DFB-Elf entscheiden und sehr lukrative Angebote aus der Türkei abgelehnt hat. Die schäbigen Angriffe von Grindel, Hoeneß, Bierhoff, Matthäus und anderen auf einen der erfolgreichsten Spieler der Nationalmannschaft werfen ebenso kein gutes Bild auf den mitgliederstärksten Sportverband der Welt und unsere Gesellschaft.
Wir erinnern uns, vor nicht all zu langer Zeit hat sich auch ein bekannter Rassist öffentlich zum Nationalspieler Boateng geäußert und von sich auf alle Deutschen geschlossen. Niemand möchte Boateng als Nachbarn, sagte dieser gewisse Herr. Die Welle der Entrüstung war groß. Sie war auch richtig und wichtig. Warum nährt man dagegen heute beim DFB die Ressentiments statt einen klaren Kurs für mehr Integration, Toleranz und gegen Rassismus zu fahren?
Tatsache ist auch, dass die desaströse und unterirdische Kommunikationsstrategie des DFB und des amtierenden DFB Präsidenten Grindel zu diesem katastrophalen Ergebnis für den deutschen Fußball geführt hat. Wie heißt es so schön im Fußball, wir gewinnen und wir verlieren gemeinsam. Die DFB-Spitze hat sich stattdessen einen Sündenbock ausgesucht und mit der Hilfe mancher Medien die Mobbingmaschinerie gefüttert.
Wenn Mesut Özil geht, ist es überfällig, dass auch die amtierende DFB-Spitze Anstand und Würde zeigt und ebenso den Hut nimmt. Nur so kann ein Neuanfang für den "deutschen Fußball" erfolgreich gelingen, der in Zukunft noch viel stärker ein "Fußball in Deutschland" sein muss.
Was bedeutet der Rücktritt von Özil für Kicker in den unteren Ligen?
Dass der Özil-Rücktritt von Rechten hüben wie drüben gefeiert wird, sollte uns ebenfalls zu denken geben. Was bedeutet der Rücktritt von Mesut Özil für die Hunderttausende junger Kickerinnen und Kicker in den unteren Ligen? Was für die Integration? Welchen Eindruck vermittelt es den Millionen Menschen aus der Türkei, die seit Jahrzehnten mit uns leben und längst ein Teil den Deutschlands geworden sind? Oder, sind sie überhaupt ein Teil Deutschlands? Und die entscheidende Frage, werden Sie überhaupt von der Mehrheit so gesehen? Was bedeutet es, wenn zwischenzeitlich Leistung kaum mehr zählt, nur weil man Ali oder Ayse heißt?
Die Antworten auf diese Fragen muss Politik und Gesellschaft dringend finden. Daher darf die Bundesregierung nicht länger schweigen, egal wie schwierig der Diskurs derzeit ist. Das Bekenntnis zu vielfältigen Gesellschaft und zum Einwanderungsland Deutschland ist überfällig. Die Politik im Bund und in den Ländern muss dieses Bekenntnis mit konkreten Programmen unterfüttern damit daraus nicht eine tickende soziale Zeitbombe wird. Dazu zählen insbesondere umfangreiche Reformen in der Bildungspolitik, gleiche Rechte und ein entschiedener Kampf gegen Rassismus.
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Die Vielfalt der Einwanderungsgesellschaft gehört in die Rahmenpläne der Schulen, in die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und in die Schulbücher. Interkulturelle Bildung muss von Sylt bis Oberstdorf, von Isenbruch bis Neißeaue Realität an unseren Schulen werden.
Die Migrationsforscherin Naika Foroutan sagte kürzlich in einem Tagesspiegel Interview sehr treffend „Deutschsein ist wieder sehr viel stärker mit Herkunft verbunden, mit nationalem Bekenntnis, mit Weißsein. Deutschland wird brutaler.“ Diese Entwicklung ist besorgniserregend und brandgefährlich. Die Folgen wären verheerend für das friedliche Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in unserem Land.
Wer Millionen Menschen die Zugehörigkeit zu unserem Land abstreitet, nur weil deren Großeltern aus dem Ausland stammen, treibt diese erst in die Hände von Autokraten und Despoten. Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass die AfD und Gleichgesinnte diesen Diskurs bestimmen und täglich eine neue Integrationssau durch das Dorf treiben. So wird das gesellschaftlichen Klima in unserem Land nachhaltig vergiftet.
Wenn der Rücktritt von Mesut Özil dazu führt, dass die Demokraten in unserem Land sowie Politik und Medien die Gefahr des Rechtsrucks und des grassierenden Rassismus in unserem Land endlich erkennen und gemeinsam mit demokratischen Mitteln bekämpfen, haben wir gewonnen. Wie Naika Fourutan es so schön im Tagesspiegel Interview sagt: "Es ist unser Land, verteidigen wir es gemeinsam“ Und ich füge hinzu, wir überlassen unser Land nicht den Hetzern und Spaltern!
Özcan Mutlu war von 2013 bis 2017 Mitglied des Bundestages. Dort war er sportpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen.
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Özcan Mutlu