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Anhänger Erdogans jubeln nach der Verkündung der vorläufigen Wahlergebnisse in Istanbul.
© Oliver Weiken/dpa

Türkei-Wahl: Erdogan hat die Wahl gewonnen – aber nicht nur er

Die Türkei rückt nach rechts: Präsident Erdogan ist künftig mehr denn je auf Nationalisten angewiesen. Sein Hauptrivale Muharrem Ince wirft der Regierung schwere Manipulationen bei den Wahlen vor.

Recep Tayyip Erdogan ist es nicht gewohnt, dass andere Politiker bestimmen, wo es lang geht. Doch daran wird er sich nach der Parlaments- und Präsidentschaftswahl vom Sonntag in der Türkei gewöhnen müssen. Als erster Gratulant meldete sich bei ihm Nationalistenchef Devlet Bahceli. Beide hatten ein Bündnis für die Wahl geschmiedet, in dem Erdogan sich eigentlich als stärkerer Partner gesehen hatte. Dabei hat er sich nach vorläufigen Angaben über das Wahlergebnis möglicherweise getäuscht: In Zukunft ist er wohl von Bahceli abhängig.

Stundenlang tobte am Abend in der Türkei ein Streit um die Ergebnisse. Die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu verbreitete Resultate, nach denen Erdogan die Präsidentenwahl klar gewonnen hat und seine AKP mit Bahcelis Nationalisten-Partei MHP eine klare Mehrheit von 347 der 600 Mandate erreichte.

Erdogans Hauptrivale im Präsidentschaftswahlkampf, Muharrem Ince, warf der Regierung schwere Manipulationen vor. Er rief seine Anhänger auf, in den Wahllokalen zu bleiben, um Unregelmäßigkeiten zu verhindern. Die Opposition wollte die Anadolu-Ergebnisse nicht anerkennen - sie ging davon aus, dass sich Erdogan einer Stichwahl am 8. Juli stellen muss. Am späteren Abend schwenkte der Auszähldienst der Opposition, Adil Secim, zwar auf ähnliche Ergebnisse wie Anadolu ein. Dennoch blieb die Oppositionspartei CHP bei ihrem Einspruch.

Die AKP büßt rund sieben Prozentpunkte ein

Fest stand demnach, dass die AKP im Vergleich zur letzten Parlamentswahl im Jahr 2015 sieben Prozentpunkte einbüßte. Durch den Wiedereinzug der Kurdenpartei HDP in die Volksvertretung sank der Sitzanteil der AKP noch weiter, so dass sie ihre Mehrheit im Parlament verlor. Damit ist Erdogan künftig im Parlament auf Bahcelis Nationalisten angewiesen, wenn er Gesetze verabschieden will: Nicht die Opposition schwächt Recep Tayyip Erdogan, sondern der nationalistische Partner.

Deshalb ist es nach der Wahl sehr fraglich, ob der seit 2016 geltende Ausnahmezustand nun wirklich bald aufgehoben wird, wie Erdogan das versprochen hat: Bahcelis MHP will ihn beibehalten. In der Kurdenpolitik wird Bahceli den Präsidenten auf eine harte Linie festlegen. Erdogan hatte sich von dem Übergang zum Präsidialsystem, das mit der Wahl am Sonntag in Kraft trat, mehr Macht für sich selbst versprochen – doch nun muss er die Macht mit Bahceli teilen. Damit seien Bahceli und die MHP die eigentlichen Wahlsieger, sagte der Moderator Oguz Haksever im türkischen Nachrichtensender NTV.

Schon wenige Stunden nach Beginn der Stimmabgabe am Morgen hatte die Opposition über versuchte Wahlmanipulationen der Regierungsseite berichtetet. Im kurdischen Südosten sollen kistenweise fertig ausgefüllte Stimmzettel aufgetaucht und Wahlbeobachter am Zutritt zu Wahllokalen gehindert worden sein. Die Wahlkommission in Ankara erklärte, den Berichten über Unregelmäßigkeiten werde nachgegangen. Erdogan betonte, es gebe keine Hinweise auf ernsthafte Störungen bei der Wahl.

Unter dem türkischen System mit Vertretern aller Parteien in den Wahllokalen und mehreren Hunderttausenden freiwilligen Beobachtern sind groß angelegte Wahlmanipulationen bei der Auszählung kaum möglich.

Nach Erkenntnissen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist das eigentliche Problem die Benachteiligung der Opposition während des Wahlkampfes, etwa durch eine einseitig regierungsnahe Berichterstattung in den Medien oder durch den Einsatz der öffentlichen Verwaltung für die Regierung.

Hauptthemen im Wahlkampf waren die schlechte Wirtschaftslage und das neue Präsidialsystem, das mit der Wahl in Kraft tritt. Die Außenpolitik stand weniger im Mittelpunkt. Weder Erdogan noch seine Kontrahenten traten mit überzeugenden Bekenntnissen zur türkischen EU-Bewerbung hervor. Erdogan will laut Medienberichten sogar das türkische Europa-Ministerium abschaffen, das vor sieben Jahren eigens zur Unterstützung der EU-Kandidatur gegründet worden war.

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