Koalitionsgipfel: Thomas de Maizière hat sich gegen Andrea Nahles durchgesetzt
Die Regierungsparteien haben sich auf ihre gemeinsamen Vorhaben für die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode geeinigt. Wer hat sich in den Streitfragen durchgesetzt, und was ist jetzt zu erwarten?
Wie soll die Integration von Flüchtlingen konkret verbessert werden?
Um das geplante Integrationsgesetz war vor dem Gipfel hart gerungen worden. Der Kompromiss sieht nun eine Vielzahl von Einzelpunkten vor, die es Flüchtlingen ermöglichen sollen, möglichst schnell in Deutschland Fuß zu fassen. Vor allem sollen sie früher als bisher Integrations- und Sprachkurse erhalten – nach sechs Wochen statt wie bisher nach drei Monaten. Der Bund will insgesamt 100.000 zusätzliche, teilweise auch gemeinnützige Arbeitsgelegenheiten finanzieren, die Flüchtlinge an den Arbeitsmarkt heranführen sollen. Und: Wenn es in einer Region viele offene Stellen gibt, dürfen sich arbeitssuchende Asylbewerber und Flüchtlinge mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung direkt bewerben. Die Vorrangprüfung, nach der zuerst geklärt werden muss, ob Deutsche oder EU-Bürger für den Job infrage kommen, entfällt. Außerdem können Flüchtlinge schneller eine Ausbildung oder andere Berufsbildungsmaßnahmen beginnen: Schon der Ankunftsnachweis öffnet künftig den Zugang zum Arbeitsmarkt. Wer einen Ausbildungsplatz hat, darf dann unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens bis zum Abschluss bleiben. Das soll auch den Unternehmen Planungssicherheit geben.
Die meisten der vereinbarten Regelungen gelten allerdings nur für Flüchtlinge mit hoher Bleibeperspektive. Afghanen bleiben zudem von Integrationskursen ausgeschlossen, obwohl im vergangenen Jahr fast 78 Prozent zumindest einen sogenannten subsidiären Schutz für ein Jahr zuerkannt bekamen. Viele Afghanen könnten aber von einer weiteren Koalitionsvereinbarung profitieren: Flüchtlingen, die sehr lange auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten müssen, sollen ebenfalls Sprachkurse angeboten werden. Bei Afghanen ziehen sich die Verfahren teilweise zwei Jahre hin, bei Somaliern sogar noch länger, weil Anträge von Syrern und Irakern seit dem vergangenen Jahr bevorzugt bearbeitet werden.
Die Koalition verständigte sich aber auch auf Sanktionsmaßnahmen. So müssen Flüchtlinge, die sich Integrationsangeboten verweigern, damit rechnen, dass ihnen finanzielle Leistungen gekürzt werden. Dauerhaft in Deutschland bleiben darf künftig zudem nur, wer sich aktiv integriert. Damit vor allem in Großstädten keine neuen sozialen Brennpunkte entstehen, sollen die Bundesländer schließlich auch anerkannten Asylbewerbern einen Wohnort vorgeben dürfen.
Hat sich der Bundesinnenminister mit seinen harten Forderungen durchsetzen können?
Bundesinnenminister de Maizière (CDU) hatte vor dem Gipfel vor allem Sanktionsmöglichkeiten gegen Flüchtlinge gefordert, die sich einer Integration verweigern. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die das Gesetz maßgeblich mit ausarbeiten muss, ging das zu weit: „Fordern ohne Fördern ist mit mir nicht zu machen“, sagte sie im Interview mit dem Tagesspiegel. Nun hat sich de Maizière doch durchgesetzt. Allerdings konnte Nahles im Gegenzug viele eigene Forderungen realisieren: etwa die Streichung der Vorrangprüfung bei Jobbewerbungen und die Bleibegarantie für Auszubildende. Insgesamt überwiegen in den Eckpunkten zum Integrationsgesetz die Förderangebote.
Wie soll die Terrorabwehr gestärkt werden?
Die Sicherheitsbehörden sollen in den Daten der Telekommunikationsunternehmen auch eine automatisierte Suche nach Personen vornehmen können, wenn Namen nur unvollständig oder mit verschiedenen Schreibweisen bekannt sind. Das kommt häufig vor, wenn arabische Namen in lateinische Buchstaben übertragen werden. Provider und Telefonläden werden verpflichtet, auch von Nutzern von Prepaid-Handys die Vorlage eines Ausweises mit vollständiger Adresse zu verlangen. Nicht nur bei verurteilten Terroristen, sondern auch bei Terrorhelfern soll nach Verbüßung der Strafe die „Führungsaufsicht“ mit elektronischer Fußfessel möglich werden. Künftig soll die Bundespolizei verdeckte Ermittler schon zur Gefahrenabwehr und nicht erst bei der Strafverfolgung einsetzen dürfen – vor allem mit Blick auf die Schleuserkriminalität. Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und Bundesnachrichtendienst (BND) sollen zudem mit ausländischen Partnern, darunter auch Israel, gemeinsame Dateien einrichten.
Was bringen diese Maßnahmen?
Dass die Suche nach kompliziert zu übersetzenden arabischen Namen erleichtert wird und Nutzer von Prepaid-Handys identifiziert werden können, soll die Fahndung erleichtern. Zwar dürften militante Terroristen keine echten Ausweise vorzeigen, aber auch falsche Angaben sind Strukturdaten, die Polizei und Nachrichtendiensten wertvolle Hinweise liefern können. Schwierig wird die Umsetzung internationaler Kooperationen und gemeinsame Terrorabwehrdateien. Israel etwa zählt zu den meistbedrohten Ländern der Welt und wehrt sich so effektiv wie kaum ein anderer Staat – aber auch mit Methoden, die deutschen Behörden verboten sind. Dazu gehört die gezielte Tötung von Terroristen – und dazu dürfen BfV und BND nichts beitragen. Die Effektivität gemeinsamer Dateien hängt stark von der Beteiligung internationaler Partner ab – und da sieht es schon in Europa nicht gut aus: Bei der gemeinsamen „Plattform“ der „Counter Terrorism Group“, eines Verbundes von Nachrichtendiensten aus den EU-Staaten, Norwegen und der Schweiz, die jetzt in Amsterdam installiert werden soll, will nicht einmal die Hälfte der Mitgliedsländer mitmachen.
Wie ist der Stand bei der Erbschaftsteuer?
Im Streit über die vom Verfassungsgericht verlangte Reform der Erbschaftsteuer geht es um die künftige Form der Vergünstigungen für Unternehmenserben. Seit dem Veto, das Horst Seehofer Ende Februar gegen einen von den zuständigen Fraktionsspitzen im Bundestag ausgehandelten Kompromiss einlegte, zerrt das Thema an den Nerven der Beteiligten. Die CSU will unbedingt noch Verbesserungen für Familienunternehmen durchsetzen. Die Fachleute im Bundestag hielten jedoch die meisten der acht Forderungen, welche Seehofer zunächst vorlegte, für verfassungswidrig.
Wie es heißt, sieht das auch Finanzminister Wolfgang Schäuble so, der auf dringenden Wunsch einiger Teilnehmer im Koalitionsausschuss dabei sein musste, obwohl er eigentlich schon am Mittwoch nach Washington zum G-20-Treffen hatte fliegen wollen. Schäuble sollte Seehofers Drängen fachpolitisch Paroli bieten. Nun wurde eine Entscheidung einmal mehr vertagt, obwohl das Verfassungsgericht eine Reform bis Juni verlangt hatte. Merkels kurze Bemerkung, man habe „Gemeinsamkeiten identifiziert“, aber „nicht in der Tiefe diskutiert“, deutete an, dass die Koalition den Dissens noch eine Weile pflegen wird. Sie wirkt ratlos, weil Seehofer partout nicht ohne ein Zugeständnis bleiben will, während die SPD partout nicht einsieht, warum das so sein soll – und die CDU einerseits in der Sache bei Sigmar Gabriel steht, aber andererseits den bayerischen Kollegen irgendwie hätscheln muss. Dafür hat Merkel bisher keine Lösung gefunden.
Kommt jetzt das lang versprochene Gesetz gegen den Missbrauch von Leiharbeit?
Bereits vor fünf Monaten hatte Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ihren ersten Entwurf vorgelegt, Mitte Februar hätte er in die Ressortabstimmung gehen können. Doch die CSU legte auch hier Einspruch ein, und so schlummerte das Werk seither im Kanzleramt. Nun endlich darf es in die Bundesministerien verschickt werden, beschloss der Koalitionsausschuss – und zwar erstmal ohne Änderungen.
Beim Thema Werkverträge sehe er keine Probleme mehr, gab CSU-Chef Horst Seehofer zu Protokoll. Bei der Leiharbeit allerdings gebe es noch „in einigen Punkten Diskussionsbedarf“. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer nannte weitere Änderungen erforderlich, damit unterschiedliche branchenbezogene Tarifverträge zur Überlassungsdauer und gleichen Bezahlung („equal pay“) möglich blieben. Gewerkschafter dagegen stellten klar, man werde „weitere Verschlechterungen“ keinesfalls akzeptieren. Kern des Gesetzesvorhabens ist es, den Einsatz von Leiharbeitern im selben Betrieb auf 18 Monate zu begrenzen. Nach neun Monaten sollen sie die gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft erhalten. Nur bei anderslautenden Vereinbarungen der Tarifpartner darf davon dann abgewichen werden. Bei Werkverträgen soll sicherstellt werden, dass sie nicht zur Verdrängung regulärer Jobs missbraucht werden.
Welche Einigungen stehen außerdem noch aus?
Über die Förderung der Elektromobilität will die Koalition noch in diesem Monat entscheiden. Zum Gesetz über erneuerbare Energien (EEG) soll jetzt die Anhörung der Verbände stattfinden. Ideen und Forderungen aus SPD und CSU zu einer Rentenreform für mehr finanzielle Sicherheit im Alter wurden in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag im Kanzleramt ebenfalls besprochen. Um das Thema in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, sollen nun Gewerkschaften und Arbeitgeber an der Debatte beteiligt werden, sagte Angela Merkel.