Altersvorsorge: Die Politik entdeckt die Rente als Wahlkampfthema
Ein Jahr vor der Bundestagswahl steht die Altersvorsorge plötzlich wieder im Fokus. SPD und Union wetteifern um Aufmerksamkeit, bisherige Gewissheiten kommen auf den Prüfstand.
Im Jahr vor der Bundestagswahl entdeckt die Politik das Thema Rente wieder. SPD-Chef Sigmar Gabriel und der CSU- Vorsitzende Horst Seehofer fordern eine große Rentenreform und wollen mit dem Thema in den Wahlkampf ziehen. Die CSU erklärt die Riester-Rente für gescheitert, und Gabriel rückt sogar von den rot- grünen Beschlüssen aus dem Jahr 2001 ab, wonach das Rentenniveau langfristig auf bis zu 43 Prozent sinken darf. Auch Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) hat es jetzt sehr eilig und kündigt noch für dieses Jahr ein umfassendes Konzept an. Das zentrale Versprechen des Sozialstaats sei es, sagte sie, dass Arbeitnehmer nach einem Arbeitsleben im Alter auch davon leben könnten.
Warum machen die Regierungsparteien die Rente jetzt zum großen Thema?
Nachdem Union und SPD gleich zum Beginn der Legislatur ihre jeweilige Klientel mit Mütterrente und Rente mit 63 bedient hatten, schien das Thema Rentenreform erstmal abgehakt. Zumal beide Projekte pro Jahr mehr als neun Milliarden Euro verschlingen. Doch demnächst wird wieder gewählt – und ohne die Stimmen der Rentner, das wissen alle Wahlstrategen, ist angesichts des demografischen Wandels immer weniger Staat zu machen. Durch die Milliardenausgaben für Flüchtlinge fühlen sich die Regierenden zudem unter sozialpolitischem Rechtfertigungsdruck. Man müsse jetzt alles tun, damit sich die heimische Bevölkerung nicht benachteiligt fühle, meint SPD-Chef Sigmar Gabriel und begründet damit seine Forderung nach einem Sozialpaket inklusive höherer Renten. Da will und kann die Union nicht abseits stehen. Schließlich haben die Populisten der AfD die Bedrohung der deutschen Sparer und Rentner durch die Niedrigzinspolitik bereits zum Thema gemacht. Aus gutem Grund: Riester-Renten, Lebensversicherungen und andere Altersvorsorgeprodukte, die den Bürgern zur Kompensation ihrer gesetzlichen Rente empfohlen wurden, werfen immer weniger ab. Und den vielen Teilzeitbeschäftigten, Geringverdienern und Solo-Selbständigen wird immer stärker bewusst, dass sie mit ihren Einkünften im Alter kaum über die Runden kommen werden.
Wie viele Menschen sind tatsächlich von Altersarmut bedroht?
Aufregung verursachte eine Darstellung des WDR, wonach fast jedem zweiten Bundesbürger eine Rente unterhalb der Armutsgrenze droht. Um im Jahr 2030 auf eine Rente über der Grundsicherung zu kommen, müsse man nach heutigem Stand 40 Jahre lang ununterbrochen monatlich mindestens 2097 Euro brutto verdienen, hieß es darin. Das schafften derzeit gerade mal 38 Prozent. Experten der Deutschen Rentenversicherung bezeichneten solche Schlussfolgerungen als irreführend. Allein aus den gesetzlichen Rentenansprüchen könne nicht auf Armutsrisiken geschlossen werden. Schließlich erhielten viele im Alter auch Leistungen aus anderen Versorgungssystemen. Einkommensarmut sei zudem „immer nur im Haushaltskontext“ zu betrachten, niedrige Rentenleistungen könnten durch den Partner ausgeglichen werden. Und rentensteigernde Leistungen für Kindererziehung oder Pflege blieben in dem WDR- Szenario ebenfalls außen vor.
Auch der Blick auf die tatsächliche Rentenhöhe ist den Versicherern zufolge verzerrend. Schließlich handle es sich bei vielen Niedrigrentenbeziehern um Selbständige oder Beamte, die nur kurz Rentenbeiträge eingezahlt, sich dann anderweitig abgesichert hätten und von ihrer gesetzlichen Mini-Rente nicht leben müssten.
Dennoch steigt die Zahl derer, die im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind, ganz erheblich. Aus 260.000 im Jahr 2003 sind inzwischen fast doppelt so viele geworden; die Quote erhöhte sich binnen zehn Jahren von 1,7 auf drei Prozent. Und die Dunkelziffer der „verschämten Alten“, die trotz Armut keine Leistungen beantragen, kommt noch hinzu. In ihrer mittelfristigen Finanzplanung hat die Bundesregierung auf diese Entwicklung bereits reagiert. Sie geht davon aus, dass die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter bis 2020 um 35 Prozent steigen. Während im laufenden Jahr 6,51 Milliarden Euro für bedürftige Rentner vorgesehen sind, stehen dafür in vier Jahren 8,81 Milliarden bereit. Die größten Risikogruppen für Armut im Alter seien Alleinerziehende, Solo-Selbstständige, Erwerbsunfähige und Langzeitarbeitslose, sagt der Rentenexperte Franz Ruland.
Wie entwickelt sich das Rentenniveau?
Walter Riester sprach von der „größten Reform, die in der Nachkriegszeit gemacht worden ist“, nachdem der Bundestag im Januar 2001 die rot-grüne Rentenreform verabschiedet hatte. Es war ein Paradigmenwechsel, der unter dem damaligen Arbeitsminister vollzogen wurde: Damit das Rentensystem auf Dauer bezahlbar bleibt, wurde eine langfristige Absenkung des Rentenniveaus beschlossen. Um die Einbußen auszugleichen, sollten die Versicherten einen steigenden Teil ihrer Altersversorgung aus eigener Tasche ansparen – entweder privat oder betrieblich. Die Politik legte damals langfristige Ziele fest: Bis 2030 sollte der Rentenbeitrag nicht über 22 Prozent steigen, das Rentenniveau sollte 43 Prozent nicht unterschreiten.
Das sogenannte Rentenniveau setzt die Einkommen der älteren Generation in Beziehung zum Einkommen der arbeitenden Bevölkerung. Konkret wird es jedes Jahr berechnet, indem die Standardrente nach 45 Arbeitsjahren geteilt wird durch den Durchschnittsverdienst. 2008 lag das Rentenniveau noch bei 50,5 Prozent, aktuell beträgt es 47,5 Prozent. Und nach Regierungsprognosen wird es bis 2029 auf 44,6 Prozent sinken.
Das sinkende Rentenniveau bedeutet aber nicht, dass die Renten überhaupt nicht mehr steigen. Bei guter Lohnentwicklung profitieren auch die Älteren. Im Juli 2016 werden die Renten in Ostdeutschland beispielsweise um 5,95 Prozent erhöht , im Westen um 4,25 Prozent – das ist das höchste Plus seit 23 Jahren.
Was wäre, wenn sich Gabriel und Seehofer mit ihrer Forderung durchsetzen, eine weitere Senkung des Rentenniveaus zu stoppen?
Das Rentenniveau zu stabilisieren oder von derzeit 47,5 auf 50 Prozent anzuheben, wie die SPD-Linke es fordert, wäre sehr teuer. Schätzungen zufolge würde das bis 2030 rund 28 Milliarden Euro kosten. Der Rentenbeitrag müsste dann auf 24 Prozent steigen. Eine enorme Zusatzbelastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die derzeit 18,7 Prozent zahlen. Alternativ müsste der Steuerzuschuss des Bundes erhöht werden. Der Rentenexperte der Grünen-Fraktion, Markus Kurth, kritisierte Gabriels Versprechungen: „Alle Zusagen zur Stärkung der gesetzlichen Rente bleiben wertlos, solange Vorschläge zur Finanzierung fehlen“. Und mit Gabriel und Seehofer meldeten sich genau diejenigen, „die mit der falschen Finanzierung des Rentenpakets die Rentenkasse geschwächt“ hätten.
Warum funktioniert die Riester-Rente nicht so wie erwartet?
Mit der Einführung der Riester-Rente im Jahr 2001 war die Erwartung verbunden, dass Arbeitnehmer durch private Vorsorge das sinkende Rentenniveau ausgleichen würden. Überlegungen, diese verpflichtend zu machen, wurden allerdings verworfen – aus Furcht vor Schlagzeilen von der „Zwangs-Rente“. Aktuell haben nach Statistiken des Sozialministeriums nur knapp 16 Millionen Deutsche eine Riester-Rente abgeschlossen, das sind lediglich 40 Prozent des geschätzten Riester-Potenzials. Etwa jeder fünfte Vertrag ruht außerdem, es werden also keine Beiträge gezahlt. Seit ihrer Einführung stehen Riester-Produkte in der Kritik: Verbraucherschützer rügten die mangelnde Transparenz und Unverständlichkeit. Die Tatsache, dass die Riester-Rente auf die Grundsicherung im Alter angerechnet wird, macht sie für Geringverdiener nicht attraktiver. Außerdem führen die niedrigen Zinsen dazu, dass alle Arten privater Vorsorge weniger Geld abwerfen. Karl-Josef Laumann, der Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, zog im Tagesspiegel eine ernüchterte Bilanz: „Die Riester-Förderung hat die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt“, sagte er. „Trotz Förderquoten von 40 Prozent und mehr.“
Was möchte die Politik an der zusätzlichen Altersvorsorge verändern?
Die Riester-Rente hat, darin sind sich Experten aller drei Regierungsparteien einig, die Erwartungen nicht erfüllt. Es sei fraglich, ob es sich angesichts der stagnierenden Nachfrage für den Staat überhaupt noch lohne, Milliarden an die Versicherer und in die Fördertöpfe zu überweisen, sagte Laumann. Als Alternative bieten sich Betriebsrenten an, die wegen des Massengeschäfts deutlich niedrigere Kosten verursachen als individuelle Vorsorgeverträge. Allerdings müssten diese, um mehr Verbreitung zu finden, von der Politik deutlich attraktiver gemacht werden – beispielsweise durch mehr steuerliche Anreize, direkte Zuschüsse und weniger Bürokratie für die Arbeitgeber. Außerdem müsste die Doppelverbeitragung von Betriebsrenten in der Kranken- und Pflegeversicherung und ihre Anrechnung bei der Grundsicherung gestoppt werden, fordern Experten. Im Sommer will Arbeitsministerin Nahles Vorschläge für eine entsprechende Reform vorlegen. Eine andere Möglichkeit wäre die so genannte Deutschland-Rente – eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge, bei der, da vom Staat auf Selbstkostenbasis organisiert, die Renditen deutlich höher ausfallen würden als bei den gängigen Riester-Produkten. Sie könnte bei der gesetzlichen Rentenversicherung angesiedelt werden, die Beiträge würden dann direkt und unbürokratisch über den Arbeitgeber abgebucht.
Wie will die Koalition die Menschen vor Altersarmut bewahren?
Arbeitsministerin Nahles will noch in diesem Jahr einen Gesetzesvorschlag für eine Mindestrente vorlegen. Mit ihrer „Lebensleistungsrente“ sollen die Renten von Geringverdienern über Steuergelder aufgestockt werden. Die Hürden dafür sind allerdings sehr hoch: Anspruch soll nur haben, wer 30 oder später 40 Beitragsjahre vorweisen kann. Kritiker bemängeln, dass dabei diejenigen durchs Raster fallen, die wegen langer Arbeitslosigkeit nicht auf die erforderlichen Versicherungsjahre kommen. Auch Freiberufler hätten von der Lebensleistungsrente nichts. Dabei sind es gerade die sogenannten Solo-Selbstständigen, die nicht ausreichend fürs Alter vorsorgen, wie auch die Wirtschaftsweisen vor einiger Zeit in ihrem Jahresgutachten festgestellt haben. Für sie ist noch keine Lösung in Sicht.