Polens Konflikt mit der EU weitet sich aus: Streit über Zuständigkeit an der Grenze zu Belarus
Brüssel gibt Frontex den Vorzug, Warschau der eigenen Armee. Wie im Ringen um die Justizreform werden jetzt Zeit und Geld zu den Hebeln der Macht. Eine Analyse.
Beides sind knappe Güter, Zeit und Geld. Doch welches taugt besser als Hebel der Macht?
Auch durch Hinhalten kann man Druck ausüben: Polen zögert das Urteil über seinen Grundsatzkonflikt mit der EU, auf das viele in Europa warten, immer wieder hinaus. Warschau weitet den Streit zudem auf einen dritten Bereich aus. Zum Ringen um die Justizreform und die Auszahlung der Coronahilfe kommt nun die Zuspitzung an der Außengrenze mit Belarus: Wer soll dort die Kontrolle haben: Polens Militär oder die EU-Grenzschutzagentur Frontex?
In allen drei Fragen setzt Polen die EU-Kommission nicht mit einer Eskalation unter Zugzwang, was viele erwartet hatten. Sondern durch Abwarten und Aussitzen.
In Brüssel wünscht man sich die Reihenfolge so: Erst soll das Verfassungstribunal in Warschau urteilen, was aus seiner Sicht Vorrang habe im Konflikt um Polens Justizreform – EU-Recht oder nationales Verfassungsrecht. Je nachdem mildert oder verschärft die Kommission dann die Bedingungen für die Auszahlung der 24 Milliarden Euro aus dem Aufbaufonds der EU an Polen. Für Brüssel sind die Zuteilung oder Verweigerung von Geld sowie Geldstrafen das Druckmittel.
Die PiS-Regierung hat mehr Zeit als die Kommission
Die nationalpopulistische PiS-Regierung in Warschau kalkuliert umgekehrt. Sie setzt auf die Zeit als Druckmittel. Ohne triftige Gründe könne die Kommission ihr jetziges Auftreten nicht durchhalten. Sie hat fast allen EU-Staaten deren Vorschläge für die Verwendung der „Recovery“-Mittel genehmigt, Polen und Ungarn jedoch nicht. Je länger diese unterschiedliche Behandlung andauert, desto größer wird der Druck auf die Kommission, sich zu erklären.
Seit Juli vertagt das Verfassungstribunal die Entscheidung über den Rechtsvorrang unter diversen Vorwänden. Auch in dieser Woche wieder. Gerichtspräsidentin Julia Przylebska ist eine Vertraute des PiS-Parteichefs Jaroslaw Kaczynski.
Das angebliche Kriterium, um das sich die politischen Debatten in der EU drehen, taugt nicht zur Differenzierung: die Garantie rechtsstaatlicher Prinzipien bei der Verwendung von europäischen Geldern. Wer kann überzeugend erklären, dass die Anwendung des Budgetrechts in Polen und Ungarn stärker in Zweifel stehe als, zum Beispiel, in Bulgarien, Malta, Rumänien oder Zypern?
Abschreckung versus Humanität an der Außengrenze
Alle wissen: Es geht um konkurrierende Machtansprüche. Die EU-Kommission und das Europäische Parlament möchten Polen durch Geldentzug disziplinieren und zur Unterordnung unter EU-Vorgaben zwingen – von der Organisation des Gerichtswesens über die staatliche Haushaltspraxis bis zur Sicherung der Außengrenze der EU.
Dort spielt der dritte große Konflikt dieser Tage zwischen Brüssel und Warschau. Alexander Lukaschenko, der autoritäre Herrscher von Belarus, lässt Migranten aus dem Irak und anderen Brennpunkten einfliegen. Er verspricht ihnen die Weiterreise nach Deutschland und bringt sie an die Grenzen zu Polen und Litauen, um der EU Probleme zu bereiten.
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Die Vorstellungen über die richtige Reaktion gehen in Warschau und Brüssel auseinander. Das reicht von der Gangart bis zur Zuständigkeit. Polen setzt auf Härte. Es hat sein Militär an der Grenze verstärkt mit dem Auftrag, niemanden ins Land zu lassen. Es lässt die Migranten auf verschiedenen Kommunikationswegen wissen, dass sie nicht willkommen seien – darunter auch Massen-SMS an alle Mobiltelefone, die im Grenzgebiet eingeloggt sind.
Mehrere Tote durch Unterkühlung und giftige Pilze
Mehrere Menschen sind ums Leben gekommen, teils durch Unterkühlung, teils durch den Verzehr giftiger Pilze, wie polnische Medien berichten. Die Belarussen, die die Migranten an die Grenze bringen, versorgen sie nicht mit Essen, Trinken, warmer Kleidung und Zelten.
Warschau hat eine Notlage im Grenzgebiet erklärt. Damit ist Journalisten der Zugang verwehrt. Amnesty wirft Polen vor, es habe Migranten nach Belarus zurückgeschickt, die bereits Polen erreicht hatten. Das wäre nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) rechtswidrig.
Auch die Rhetorik von Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak löste Empörung unter Menschenrechtsaktivisten aus, weil sie die Migranten „entmenschliche“. Er hatte behauptete, die Migranten hätten Verbindungen zu Kriminellen und im Grenzgebiet Sex mit Tieren praktiziert. Ein entsprechendes Video erwies sich als Fake.
Lukaschenko kann Werte missachten, die EU nicht
Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, hatte am Donnerstag in Warschau mit Innenminister Mariusz Kamiński vor allem über drei Anliegen gesprochen. Brüssel ist besorgt über die Vorwürfe solcher illegalen „Pushbacks“. Es verlangt eine humane Behandlung der Migranten. Die Schuld an der Lage habe eindeutig Lukaschenko, aber „wir sind die EU. Wir müssen die Standards einhalten.“
Brüssel möchte erreichen, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die ihren Sitz in Warschau hat, die Kontrolle übernimmt. Doch der Grenzschutz ist eine nationale Angelegenheit. Frontex kann erst tätig werden, wenn ein EU-Mitglied um Hilfe bittet. Die PiS-Regierung sagt, Polen könne die Probleme an der Grenze allein lösen.
Wo kann die EU überhaupt eingreifen, wo muss sie die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten respektieren: Da liegt der Kern der drei Streitfragen. Die Konflikte mit Polen und Ungarn finden so viel Aufmerksamkeit, weil sie die Brüssels Machtansprüche dezidierter in Frage stellen als andere Mitglieder. Und betonen, dass die EU sich aus Bereichen, die nicht vergemeinschaftet sind, besser heraushalte.
Das Justizwesen, der Grenzschutz und Migration liegen in nationaler Kompetenz, argumentiert die PiS. Also seien erstmal nationale Gerichte für die Überprüfung zuständig; das gelte auch für die Einhaltung der Haushaltsregeln.
Polen ist unpopulär, nicht aber seine Bedenken gegen die EU
Unter den EU-Partnern sind Polen und Ungarn nicht sonderlich populär. Die Bedenken gegen Brüsseler Tendenzen zur Selbstermächtigung in Bereichen, für die die EU nach den Verträge nicht zuständig ist, teilen aber einige. Darunter politische Schwergewichte in Frankreich wie Ex-EU-Kommissar Michel Barnier und Ex-Bundesverfassungsrichter.
EU-Justizkommissarin Vera Jourova sendet derweil ein Friedenssignal: Im November könne die Kommission Polens Aufbau-Pläne genehmigen, sofern es zusichert, dass die umstrittene Disziplinarkammer für Richter aufgelöst wird. Was für ein Zufall wäre das wohl: Wenn das Verfassungstribunal genau so lange Gründe findet, sein Urteil hinaus zu zögern?
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