Bürgerfest im Schloss Bellevue: Steinmeier: Verleumdet nicht die Demokratie als „System“!
"In der Demokratie muss gestritten werden, notfalls auch laut", sagt Bundespräsident Steinmeier. Demokratie brauche Engagement und Kompromisse. Seine Rede im Wortlaut.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat davor gewarnt, die Demokratie in Deutschland als „System“ zu verleumden. Diejenigen, die lautstark riefen „Das System muss weg!“, erinnere er an die Folgen, die die Verachtung der ersten Demokratie auf deutschem Boden hatte, sagte Steinmeier am Freitag zum Auftakt eines zweitägigen Bürgerfestes im Schloss Bellevue in Berlin. „Ein Land mit unserer Geschichte darf das niemals vergessen.“ Die Weimarer Republik endete in der NS-Diktatur.
Die Rede von zur Eröffnung des Bürgerfestes an die Bürger und den als Gast anwesenden sächsischen Ministerpräsident Michale Kretschmer (CDU) im Wortlaut:
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
herzlich willkommen im Schloss Bellevue, herzlich willkommen in unserer Hauptstadt Berlin, und vor allem: Herzlich willkommen zu Ihrem Bürgerfest!
Was für ein wunderbarer Anblick! Meine Frau und ich freuen uns, Sie alle hier zu haben. Ganz besonders herzlich möchte ich die vielen unter Ihnen begrüßen, die sich im Ehrenamt engagieren. Dies ist vor allem Ihr Fest, denn der heutige Tag feiert und würdigt Ihr Engagement. Danke für Ihre Ideen, Ihre Initiativen und die vielen tausend Stunden ehrenamtlicher Arbeit, die Sie unserem Land und den Menschen in unserem Land schenken! Ein riesengroßes Dankeschön an Sie alle!
Ebenso danken möchte ich unseren Gästen aus Sachsen und Italien. Sie sind in diesem Jahr die Partnerländer, die zusammen mit vielen weiteren Partnern dieses Fest mitgestalten. Ich begrüße sehr herzlich den Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer, und den Staatssekretär im italienischen Außenministerium, Guglielmo Picchi. Ein großes Dankeschön für die tatkräftige Unterstützung und für die – künstlerisch wie kulinarisch – große Bereicherung: Herzlich willkommen und Benvenuto!
Lieber Herr Ministerpräsident,
in Ihrer Landeshauptstadt, in Dresden, hat vor ungefähr 200 Jahren Caspar David Friedrich eines seiner bekanntesten Bilder gemalt: Meeresküste bei Mondschein. Es kam mir vor kurzem in den Sinn. Es ist wie viele von Friedrichs Bildern sehr schön, aber auch sehr düster, sehr romantisch und sehr deutsch – an Heiterkeit und Farbenpracht sicherlich kaum zu überbieten, werden unsere italienischen Freunde sich belustigen. Und in der Tat: Das Meer ist dunkel. Über dem Wasser türmen sich schwere Wolken auf, die den Mond verdecken. Ein Kahn liegt gekentert im Schlick. Ein Unwetter zieht auf.
Wer heutzutage die Zeitung aufschlägt, den mag manchmal ein Gefühl beschleichen, wie dieses Gemälde es vermittelt. Ja, es gibt Spannungen in der Gesellschaft, es gibt Konflikte – in unserem Land und auch bei unseren heutigen Partnern: auch in Italien, auch in Sachsen. Das haben wir erst in der vergangenen Woche gesehen: Wir erlebten Hass, sogar Gewalt auf offener Straße.
Aber wer das Gemälde kennt, von dem ich spreche, der erinnert sich vielleicht: Für den Betrachter ist nicht die Düsternis im Bild das Beherrschende, es ist die lebendig-lodernde, kräftige Flamme in der Mitte des Bildes – ein wärmendes Feuer, um das sich Menschen versammeln. Nicht die Düsternis, das Helle ist die Botschaft!
Menschlichkeit, die uns verbindet
Diese Flamme ist, was wir Menschlichkeit nennen. Menschlichkeit ist, was uns verbindet und wärmt. Ohne sie gelingt kein Zusammenhalt, ohne sie ist jedes Zusammenleben schwer. Menschlichkeit ignoriert nicht Unterschiede, Vorlieben und Abneigungen, Angst und Ärger. Aber sie ist ein Schutz, dass nicht alles, was Unzufriedenheit hinterlässt, in grenzenlose Wut und offenen Hass umschlägt. Eine offene Gesellschaft, wie sie die Mehrheit in unserem Land will, leugnet nicht die Schattenseiten und muss die Debatte darüber wollen. Aber vor allem ist sie ein Angebot, nicht nur das Düstere zu sehen, sondern sich um das Licht zu versammeln. Sie muss Offenheit auch für Kritik und abweichende Meinungen zulassen. Aber einschüchtern lassen darf sie sich nicht! Und deshalb ist es gut, dass Menschen nicht nur gegen etwas auf die Straße gehen; es ist gut, dass sich auch diejenigen, die für Demokratie und Zusammenhalt stehen, zeigen.
Und, liebe Gäste: Sind Zusammenhalt und Menschlichkeit nicht auch, was Sie bewegt und antreibt in Ihrem ehrenamtlichen Tun? Sie alle wissen: Bürgersein in einer Demokratie ist viel mehr als ein Katalog von Rechten und Ansprüchen. Es bedeutet zuallererst Menschsein. Und das heißt: Nicht sich selbst genug sein, natürlich an die eigene Zukunft, die Familie, aber auch an andere denken. Es ist Anspruch und Verpflichtung – sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.
Und deshalb lautet das Motto des Bürgerfests in diesem Jahr ganz einfach: Zusammenstehen! Wir wollen gemeinsam Flagge zeigen! In Zeiten, in denen immer öfter von den dunklen Wolken gesprochen wird, von Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft und Verrohung der Sprache, von Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit, da wollen wir ein anderes Zeichen setzen, ein Zeichen gegen Spaltung und für Zusammenhalt. Dafür, dass Sie, liebe Gäste, liebe Freunde, auch für ein solches Zeichen gekommen sind, dafür danke ich Ihnen!
Friedlich zusammenleben
Seit anderthalb Jahren bin ich nun Ihr Bundespräsident und in dieser Zeit sind meine Frau und ich auf Deutschlandreise durch alle 16 Bundesländer gewesen. Wir haben unser schönes Land in seiner ganzen Vielfalt gesehen – die vielen, kleinen und großen Orte der Demokratie. Die Orte, wo Neues gelingt und es Erfolge zu feiern gibt, aber eben auch Orte, wo es Spannungen gibt und wo um Lösungen gerungen wird. Doch in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit hat uns eines am meisten beglückt: die Vielen, die dafür arbeiten, dass Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Chancen, Haltungen und Meinungen in diesem Land friedlich zusammenleben können. Sie alle stehen für eine Gesellschaft, die zusammenhält. Sie sind es, die Probleme nicht nur benennen und mit dem Finger auf andere zeigen, sondern die sich aufs Probleme-Lösen konzentrieren und gemeinsam mit anderen die Dinge zum Besseren verändern. Denn Zusammenstehen – das geht nicht allein im stillen Kämmerlein, sondern das müssen wir wollen und das müssen wir tun. Sie tun es – und dafür will ich Ihnen heute Danke sagen!
Die Vielfalt des Engagements, das meine Frau und ich gesehen haben und das Sie hier heute verkörpern, ist schier überwältigend. Es sind so viele Stunden ehrenamtlicher Arbeit, dass man sie kaum zählen, und so viel Leidenschaft, dass man sie gar nicht messen kann. Arbeit in Vereinen, Stiftungen oder Verbänden – Umwelt und Kultur, Integration und Inklusion, Sport und Bildung. Jedes Projekt steht für sich – und jedes ist unvergleichbar viel wert. Aber in der Zusammenschau aller, von hier oben, und nachher beim Rundgang zu den vielen Ständen, da entsteht noch ein anderer, ein größerer Eindruck. Da spürt man: Es ist nicht nur ein kleines Feuerchen, wie in jenem Gemälde, sondern es ist eine große, leuchtende Flamme. Dieses Licht auch durch dunklere Zeiten von Herausforderungen und Konflikten zu tragen, sich mit Mut und Vertrauen stark zu machen für die Demokratie – dafür stehen wir zusammen mit der Mehrheit der Menschen in unserem Land ein. In einer Demokratie wird jeder gebraucht, und wir werben um jeden. Und wir zeigen nicht nur heute Abend: Wir haben ein gemeinsames Fundament. Wir verschwenden nicht unsere Kraft darauf, dass die Gräben tiefer werden in unserer Gesellschaft. Wir wollen Zusammenhalt! Und wir wissen: Wir sind stärker, wenn wir zusammenstehen.
Ehrenamt im Verborgenen
Ich will die Menschen hervorheben, deren Engagement nicht jeder wahrnimmt, deren Ehrenamt oft im Verborgenen passiert und die selten auf der großen Bühne stehen. Ich denke an die, die Alte und Sterbende in den letzten Stunden des Lebens begleiten. Ich denke an die, die Kindern vorlesen oder bei den Hausaufgaben helfen. Ich denke an die, die auf dem Land, dort, wo viele weggezogen sind und es still geworden ist, die Leere nicht zulassen, sondern sich zusammentun und Angebote schaffen. Auch die Feuerwehrleute und Helfer, die zuletzt – gar nicht weit weg von hier – ihre Gesundheit, ihr Leben riskiert haben, um die gewaltigen Brände in Brandenburg zu löschen. Alle, die sich kümmern um andere, um den Ort, die Region und die Menschen, die dort leben, denen sagen und zeigen wir: Wir wollen zusammenstehen!
Es geht auch nicht ohne die politisch Engagierten, ohne die, die in öffentlichen Ämtern, Institutionen oder Parlamenten Verantwortung übernehmen. Die vielen, die nach dem 8-Stunden-Tag nicht nach Hause, sondern in den Gemeinderat gehen und über die Umgehungsstraße streiten. Auch das soll heute unser Zeichen sein: Wir machen die Spalterei nicht mit. Die politisch Engagierten, sie sind nicht „die da oben“ oder das sogenannte „Establishment“. Nein, sie sind Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, Verantwortung zu tragen. Ohne diese Bereitschaft funktioniert die Demokratie nicht. Und deshalb sagen wir heute Abend: Nicht gegen, sondern mit ihnen wollen wir zusammenstehen!
Aufmerksamkeit für Engagierte
Auch das gehört zu diesem Bürgerfest: Aufmerksamkeit für solche Ehrenamtlichen, von denen ich auch viele getroffen habe im Land. Es gibt Engagierte, die ernten im Alltag nicht Dank, nicht Lob – und nicht einmal Respekt. Sondern die werden beschimpft für ihre Arbeit. Die werden bedroht, weil sie Obdachlosen oder Flüchtlingen helfen, oder weil sie den Mund aufmachen. Bitte lassen Sie uns das heute geraderücken: Nicht diejenigen müssen sich rechtfertigen, die Mitmenschlichkeit beweisen, sondern die, die sie verweigern! Bitte lassen Sie uns heute deutlich zeigen: Gegen grundlose Wut, gegen Demokratieverachtung wollen wir zusammenstehen! In der Demokratie muss gestritten werden, notfalls auch laut, aber es geht nicht ohne den Willen zur Verständigung und nicht ohne Respekt vor anderen und den Institutionen der Demokratie. Denen, die jetzt wieder lautstark unterwegs sind mit der Parole: „Das System muss weg!“, die erinnere ich an die Folgen, die die Verachtung der ersten Demokratie auf deutschem Boden hatte. Und ich rufe ihnen zu: Verleumdet nicht die Demokratie als „System“! Oder mit den Worten von Berthold Kohler gestern aus der FAZ: „dass diese Republik bei allen Mängeln, Irrwegen und Versäumnissen die freieste und demokratischste ist, die es je auf deutschem Boden gab.“ Ein Land mit unserer Geschichte darf das niemals vergessen.
Demokratie braucht Haltung
Demokratie lebt nicht allein aus der Verfassung, aus geschriebenem Recht heraus. Demokratie braucht Haltung und Engagement. Demokratie verlangt Respekt und die Bereitschaft zum Kompromiss.
Unsere Demokratie lebt von Menschen, die nicht nur danach fragen, was das Land für sie tut, sondern auch fragen, was sie für das Land tun können.
Menschen, die nicht nur schimpfen und meckern. Menschen, die anpacken und nicht nur Schuldige und Sündenböcke suchen. Menschen, die über den Tellerrand der eigenen Interessen hinausschauen und für Mitmenschen da sind. Menschen, die sich um mehr kümmern als nur sich selbst.
Kurz gesagt: Menschen wie Sie. Ohne Menschen wie Sie wären wir nicht dasselbe Land, wäre es ärmer und kälter um uns herum. Sie machen das Leben in unserem Land reich, wertvoll, lebenswert. Und Sie heute Abend hier im Park des Bellevue stehen für Hunderttausende und Millionen in ganz Deutschland. Das macht mich stolz auf unser Land und besonders auf Sie. Seien Sie es auch! Und nicht nur am heutigen Abend!
Danke, dass Sie hier sind – herzlich willkommen. Ich wünsche Ihnen ein entspanntes und fröhliches Bürgerfest!
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