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Selbst im Wahlkampf treten Politiker, wie hier Bundeskanzlerin Angela Merkel, fast ausschließlich vor den eigenen Anhängern auf.
© Paul Zinken/dpa

Krise der Demokratie: Hinein ins Land und in die Wahlkreise

Zuhören, nicht zutexten: Warum Spitzenpolitiker viel häufiger die Bürger treffen sollten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ingrid Müller

Wenn sie sich selbst beobachten könnten, die Regierenden, wie würden sie das wohl nennen, was sie da auf höchster politischer Ebene in Deutschland gerade veranstaltet haben? Wenn sie als Bürger aufs Geschehen blickten – vom holsteinischen Eutin oder aus Remse in Sachsen und vielen anderen Orten? Die Umfragen zeigen gerade wieder die Unzufriedenheit.

Die maßlose Debatte um die Zurückweisung einer bestimmten Gruppe von Flüchtlingen an der Grenze in der Union ist nur der aktuelle Höhepunkt einer Entfremdung, die täglich stärker zu werden scheint. „Die da in Berlin“, also die Bundesregierenden, gelten vielen Menschen schon lange als abgehoben. Ähnlich ist es in Orten jenseits von Landeshauptstädten zu hören, da heißt es „die da in München“, „die da in Potsdam“. Viele Menschen meinen offenbar nicht nur, die Regierenden wüssten nicht, was die Menschen umtreibt und warum. Schlimmer: Manche meinen, das interessiere sie auch gar nicht.

Hilflosigkeit mündet in maßlosen Beschimpfungen

Bei allzu vielen mündet die gefühlte Hilflosigkeit in empörten Beschimpfungen, nicht nur in sozialen Netzwerken, die allzu oft jedes Maß vermissen lassen. Bürger, die sich nicht wichtig genommen fühlen, geben nicht nur der AfD ihre Stimme, um den so genannten Etablierten einen Denkzettel zu verpassen. Mancherorts ist die Stimmung so aufgeheizt, dass Bürger mit Identitären von ganz Rechtsaußen zur Demo gehen. Diesen Eindruck hatte mancher Beobachter in Mainz nach dem furchtbaren Tod von Susanna.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mehrfach Worte gefunden, die alle zum Nachdenken anregen sollten – und zum Handeln. Die Sprache in den sozialen Netzwerken erinnere ihn inzwischen an die Missachtung und Verächtlichmachung der demokratischen Institutionen in der Weimarer Demokratie, sagt er. Nicht nur in den sozialen Netzwerken würden Schranken fallen. Auch bei seinen Reisen treffe er auf Empörte. Steinmeier wählte wohl nicht ohne Grund den Vergleich mit Weimar. Angesichts des unerbittlichen Tons des jüngsten Streits innerhalb der Union, kann man nur hoffen, dass solche Verbissenheit nicht die breite politische Debatte erobert. Es wäre verheerend.

Spitzenpolitiker haben seit den beängstigenden Wahlergebnissen der AfD erklärt, sie hätten verstanden. Doch was haben sie verstanden? Müssen sie wirklich aus Umfragen erfahren, dass den Bürgern Kitas, die Zukunft von Schulen, die Pflege, die Nähe zum Arzt und eine bezahlbare Wohnung wichtig sind? Auch Politiker scheinen in ihren Blasen gefangen. Nicht nur im Regierungsviertel und in nach Rollen besetzten Talkshows, wo immer die gleichen aufeinander einreden.

Ja, viele Bundestagsabgeordnete sind in ihren Wahlkreisen aktiv. Aber sind sie dort auch bei ihrer Klientel? Kommen die Themen nicht über die Parteigrenzen hinweg? Im Moment scheint es, als sei es eine eher theoretische Idee, dass auf dem Weg über die in ihren Wahlkreisen verankerten Abgeordneten , die vielfältige Realität der Bürger, Parlament und Regierung mit ihrem Handeln erreicht und die Menschen sich ernst genommen fühlen.

Wenn Spitzenpolitiker „das Volk“ treffen, ist allzu oft Wahlkampf – und der wird häufig vor den eigenen Mitgliedern absolviert. Dann (be)suchen sie ihre Anhänger, als Helfer und als Wähler. Der so genannte Haustürwahlkampf ist eher Geste als Gespräch. Dabei treffen Politiker oft genau jene, die sie vorher als ihre potentiellen Wähler ausgemacht haben. Dann werden die Menschen mit Botschaften beschallt. Manchmal gibt es regionale Konferenzen. Die CDU hat immerhin jetzt mal ihre Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer über Land geschickt, um zuzuhören. Aber sie geht eben auch wieder: in die eigene Partei.

Vertrauen zu gewinnen ist nicht leicht, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen ungleich schwieriger. Die Menschen zu erreichen heißt vielleicht öfter einmal zuhören, weniger zutexten.

Wer hört den Menschen zu? Persönlich? Ohne Bildschirm.

Viele Politiker sehen sich in der modernen Kommunikation angekommen, weil sie digitale Kanäle nutzen. Sie twittern, machen Podcasts. So erreichen sie viele Menschen. So können sie die Vorzüge der Digitalisierung preisen, die gerade Menschen in abgelegeneren und kleineren Gemeinden das Leben erleichtern kann. Im Moment fühlen sich Bürger dort oft abgehängt. Immerhin leben 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland in Städten und Gemeinden unter 100 000 Einwohnern. Kontakt über all die neuen Kanäle zu suchen und zu halten, ist für Politiker wichtig. Doch: Wer hört den Menschen zu? Gibt Antworten auf ihre Fragen? Persönlich. Ohne Bildschirm. Guckt ihnen in die Augen. Dann schauen auch die Kritiker den Kritisierten ins Gesicht. Wer jemandem etwas direkt sagt, erfährt auch dessen Reaktion unmittelbar.

Es ist dringend an der Zeit für mehr Dialog. Die Regierenden sollten sich, wenn sie nach diesem Streit einmal durchgeschnauft haben, im Land umhören, sich zeigen, bei Menschen aus Wohnsilos in schwierigen Vierteln wie in ländlichen Gemeinden. Den Bürgern klar machen, wie wichtig sie sind.

Es mag altmodisch und viel zu analog klingen: Aber warum setzen sich nicht Spitzenpolitiker zusammen in einen Bus und treffen Menschen an Orten, wo selten einer von ihnen hinkommt? Hinein ins Land. Angela Merkel, Horst Seehofer und Andrea Nahles könnten im sächsischen Burgstädt aufschlagen, im pommerschen Demmin, im südpfälzischen Kandel. Nicht nur einmal „for show“, sondern regelmäßig, an verschiedenen Orten, mit wechselnder Besetzung. Vielleicht sogar mal gemeinsam mit Politikern von Oppositionsparteien im Bund, mit Robert Habeck oder Sahra Wagenknecht? Der Brandenburger Regierungschef Dietmar Woidke und seine Mannschaft könnten Bürger in Döbern und anderswo treffen und über deren Wünsche und Sorgen reden. Ja, auch über die vergeigte Kreisgebietsreform.

Auch Talkshows könnten auf Roadshow gehen. Die ARD etwa ist in den Ländern gut vertreten. Mit den Politikern raus aus dem heimeligen Studio. Nicht nur in die Landeshauptstadt, sondern in eine Stadthalle. Oder in diesem wunderbaren Sommer auf den Marktplatz einer kleineren Stadt. Da wäre in manchem Ort etwas Relevantes los, wenn das Public Viewing zur Fußball-WM und die Show der lokalen Band zum Sommerfest in der Kreisstadt vorüber sind.

Dem Volk via soziale Netzwerke aufs Maul zu schauen ist das eine. Mit dem Volk zu reden, etwas anderes. Reden und die eigene Politik im Dialog zu erklären, ist anstrengend, mit Enttäuschten noch einmal mehr. Auch für die, die ihre Kritik dann nicht anonym ins Netz speien können. Gewählte könnten sich den Respekt von Wählern (zurück)erobern. Es wäre ein Anfang. Das bedeutet gemeinsame harte Arbeit. Aber Nähe kann Vertrauen schaffen. Die Bürger wie die Demokratie, die gerade mächtig Schaden nimmt, sollten diese Mühe wert sein. Vielleicht entsteht ein ganz neues Miteinander.

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