Hauptsache effektiv gegen das Coronavirus: Söder kann gar nicht schnell genug „vorpreschen“
Die breite Kritik an Bayerns Regierungschef Markus Söder verwundert. Im Kampf gegen das Virus waren bisher zu langsame Reaktionen das Problem. Ein Kommentar.
In Krisenzeiten hat es die Opposition schwer. Krisen bieten Chancen für die Macher, tatkräftig zu führen. Die Opposition kann, erstens, nicht regierend handeln. Und wenn sie es, zweitens, mit der Option, die ihr bleibt - Kritik an der Exekutive - überzieht, geht sie ein hohes Risiko ein. Das kann nämlich nach hinten losgehen. Sinngemäß gilt dieses Dilemma auch für konkurrierende Regierende, die um die Vormacht in ihrer Partei wetteifern.
Große Koalition der Söder-Kritiker
Wie also übt man sich in der Kunst der Kritik in Corona-Zeiten? Das Wochenende bot ein Beispiel für die Variante "Hohes Risiko". Ganz unterschiedliche Politiker kritisierten den bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder.
Der sei „vorgeprescht“ bei der Verschärfung der Bewegungsfreiheit und habe "die Geschlossenheit" des Handelns von Bund und Ländern gefährdet, monierten Oppositionspolitiker wie die Bundesvorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, und der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, aber auch Regierungspartner wie SPD-Chef Norbert Walter-Borjans.
Den gleichen Vorwurf erhob, wenngleich verklausuliert und ohne Nennung des Namens Söder, der Regierungschef von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU). Er wetteifert mit Söder um die Vormacht in der Union, das Image des besten Krisenmanagers und langfristig um die Kanzlerkandidatur.
Bei NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) kommen die Motive der Opposition und der Länderkonkurrenz in einer Person zusammen. Die FDP ist im Bund in der Opposition und in NRW in einer Koalition mit Laschet, also in beiden Fällen gegen Söder.
Eine so massive und parteiübergreifende Kritik wirkt auf den ersten Blick ziemlich beeindruckend. Da steht der Söder aber schlecht da, nicht wahr?
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Auf den zweiten Blick erhebt sich jedoch die Frage: Wie kann "Vorpreschen" nach den bisherigen Erfahrungen mit dem Verlauf der Corona-Ausbreitung ein Vorwurf sein? Und warum sollte nach diesen Erfahrungen "Geschlossenheit" ein höheres Gut sein als Effektivität?
Bisher war die Lehre: Im Zweifel haben die deutschen Exekutiven in Bund und Land zu spät reagiert und damit die rasche Ausbreitung des Virus begünstigt. Auch in Europa gilt: Wer früher als andere schärfere Maßnahmen verhängte, wurde zwar zunächst kritisiert - wenige Tage später zogen die anderen nach.
Auch der Ruf nach Einheitlichkeit ist erstaunlich. Es ist doch nur sachgerecht, wenn Bundesländer mit höheren Prozentzahlen an Infizierten wie Baden-Württemberg und Bayern früher und schärfer reagieren als Bundesländer, die bisher glimpflich davon gekommen sind wie Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt. Es ist auch richtig, wenn Bundesländer mit Außengrenzen zu schwer getroffenen EU-Staaten wie Frankreich, der Schweiz und Österreich früher und schärfer reagieren als Bundesländer, die an EU-Partner mit geringen Fallzahlen wie Polen und Tschechien grenzen.
Was zu tun ist, richtet sich nach Fallzahlen und Geografie
Das hieße abermals: Baden-Württemberg und Bayern müssen "vorpreschen", Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nicht. Nordrhein-Westfalens Grenznachbarn Benelux sind prozentual weniger betroffen als die Grenznachbarn im Süden. Durch Bayern und Baden-Württemberg kommen zudem alle deutschen Heimkehrer aus Italien, dem am schlimmsten von Corona getroffenen Staat der Erde.
Der Ruf nach "Einheitlichkeit" und "Geschlossenheit des Handelns" von Nationalstaat und Regionen wird geradezu gefährlich, wenn man ihn auf China oder Italien anwendet. Peking hätte also entweder noch langsamer auf den Ausbruch in Wuhan reagieren dürfen, um die Einheitlichkeit der Maßnahmen mit den noch nicht betroffenen Provinzen aufrecht zu erhalten? Oder nicht betroffene Regionen sofort mit der kompletten Lähmung des öffentlichen Lebens überziehen müssen, um der Geschlossenheit willen?
Lob der Unterschiedlichkeit
"Einheitlich" hat im Übrigen auch NRW nicht gehandelt, als Heinsberg zum Zentrum der Coronakrise dort wurde. Die Menschen dort kamen in Quarantäne, lange bevor anderswo davon die Rede war.
Damals galt Unterschiedlichkeit auch bei Laschet als richtig. "Vorpreschen" ist ein fragwürdiger Vorwurf im Kampf gegen das Coronavirus. Ebenso fragwürdig ist der prinzipielle Ruf nach einheitlichen Regeln in ganz Deutschland unabhängig von der jeweiligen Lage.
Söder ist jetzt der Umfragen-König
Wer als Sieger aus dieser Kontroverse hervorgeht - Söder oder seine Kritiker - wird sich zeigen: im Urteil der Bürger in den Umfragen.
Nach erstem Anschein muss Söder da nicht bange sein. Vor anderthalb Jahren war er der am wenigsten beliebte Ministerpräsident. Neuerdings ist er der populärste Politiker Deutschlands. Ist dieser Umschwung womöglich der eigentliche Grund für die breite Kritik an ihm?