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Die EU hinkt hinterher: Erst verhängen Nationalstaaten Einreiseverbote, jetzt auch die EU. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag in Brüssel.
© Olivier Matthys/AP/dpa

Krisenmanagement der Regierungen: Wenn der Nationalstaat über der EU steht

In den Köpfen und Herzen trauen die Bürger den nationalen Regierungen mehr zu als der Zentralmacht in Brüssel. Doch es braucht die Solidarität der EU. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Erleben wir das Ende der europäischen Einigung? In einem Moment, in dem wir Koordination dringender brauchen als je zuvor? 

Wenn die EU-Staaten ihre Kräfte und Ressourcen jetzt bündeln und rasch dorthin bringen würden, wo sie gerade am dringendsten gebraucht werden, müssten weniger Menschen sterben. Und die Krise könnte auch ökonomisch glimpflicher verlaufen.

Europa wirkt schwach, langsam, hilflos

Doch die EU-Kommission um Ursula von der Leyen wirkt in diesen Tagen so durchsetzungsschwach, langsam und hilflos, dass man Mitleid bekommen kann. Die Führung in Brüssel kann sagen und beschließen, was sie will – es scheint kaum jemanden zu interessieren. 

Die nationalen Regierungen sind allemal schneller und nehmen sich Entscheidungsrechte, die sie nach den Verträgen nur bedingt haben. Sie verfügen Grenzschließungen, obwohl eigentlich Freizügigkeit in der EU gilt und ein Staat bereits für Personenkontrollen an den Binnengrenzen grünes Licht aus Brüssel benötigt.

Eben noch hat eine stolze EU ein wichtiges Mitglied, Großbritannien, lieber gehen lassen, als Abstriche bei der Bewegungsfreiheit von Personen zuzulassen. Angesichts des Coronavirus wird das Prinzip im Handumdrehen preisgegeben.

Seehofer fordert Abstimmung, handelt aber national

Die Deutschen, die sich gerne als Mustereuropäer geben, machen da keine Ausnahme. Innenminister Horst Seehofer fordert eine „enge Abstimmung“ in der EU, verhängt aber parallel nationale Maßnahmen, die in der Praxis Grenzschließung bedeuten, ohne die Abstimmung in Brüssel abzuwarten. 

Dass er die Macht dazu hat und die EU ignorieren kann, scheint ihm Freude zu bereiten. Europa ist nur noch ein Lippenbekenntnis.

Doppelmoral ist vielerorts zu bestaunen. Als Bösewichter wie Donald Trump oder Polens PiS-Regierung Einreiseverbote verhängten, war das gängige Urteil: Das ist falsch und überzogen. Wenn die eigene Regierung kurz darauf das Gleiche tut, bleiben die Kritiker stumm.

Neue Priorität: Austausch von Waren statt Begegnung von Menschen

Zur Ehrenrettung Europas darf man einwenden: Die EU war schon in gesunden Zeiten ein Zwitterwesen – mit weniger Einfluss, als ihre Bewunderer wie ihre Verächter ihr andichteten. 

Und: In dramatischen Bedrohungslagen ändern sich Prioritäten. Seit Jahren stand die Begegnung von Menschen im Zentrum der Grundfreiheiten. Der freie Warenverkehr galt als nützliche Draufgabe. 

In der Krise ist es umgekehrt: Der ungehinderte Austausch im Binnenmarkt hat Priorität, um die Rezession zu mildern. Die Aufhebung der Reisefreiheit nimmt man hin, wenn Menschen mit Viren zur Gefahr werden.

So legt die Krise die wahren Machtverhältnisse schonungslos offen: Der Nationalstaat steht über der EU, in der Politik wie in den Köpfen und Herzen der Bürger. Auf den Pässen steht zwar „Europäische Union“ ganz oben und darunter „Bundesrepublik Deutschland“. 

Doch wohin wendet man sich, wenn man im Ausland plötzlich ohne Pass und Geld dasteht: an die EU-Vertretung oder die nationale Botschaft?

Ungeachtet aller Fortschritte bei der Integration Europas ist das Bewusstsein der meisten EU-Bürger national. Sie richten ihre Erwartungen, wer die Krise lösen soll, an die eigene Regierung, nicht an Brüssel. Ihr Urteil sprechen sie bei der nächsten nationalen Wahl, nicht bei der Europawahl.

Was ist der Mehrwert Europas und wie kann man ihn nutzen?

Das ist das Drama zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten: Kaum jemand fragt, welchen Mehrwert Europa in dieser Krise bietet und wie man ihn nutzen kann. Es ist zwar nicht falsch, dass sich Menschen instinktiv ihrem Nationalstaat zuwenden und jede Regierung an ihre Bürger denkt. 

Es ist hinzunehmen, dass EU-Regeln vorübergehend missachtet werden. Not kennt kein Gebot. Man braucht auch keine einheitlichen Vorgaben zum Kampf gegen das Virus, wenn die Bedrohungslage in Italien anders ist als in Deutschland oder Irland.

Es wird aber gefährlich, wenn EU-Staaten um knappe Güter wie Schutzmasken und Beatmungsgeräte konkurrieren und sich in der Corona-Abwehr gegenseitig behindern, statt sich zu koordinieren. Europa ist so viel wert wie die gelebte Solidarität.

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