SPD-Chefin über Handy-Tracking in der Coronakrise: „Schürt nur Panik, dämmt aber die Infektionsgefahr nicht ein"
Kann Digitaltechnik helfen, das Coronavirus einzudämmen? Ein Gespräch mit SPD-Chefin Esken über Vorschläge der Union und die Chancen des Homeoffice.
Saskia Esken ist Co-Vorsitzende der SPD und staatlich geprüfte Informatikerin. Die digitale Gesellschaft ist einer ihrer Arbeitsschwerpunkte.
Frau Esken, die Pandemie zwingt Millionen von Deutschen und die Kanzlerin dazu, von ihrer eigenen Wohnung aus mithilfe von IT zu arbeiten und zu kommunizieren. Wenn man von der Ursache absieht: Ist das Fluch oder Segen?
Es ist eine Herausforderung. Hier in Berlin funktioniert das mit der Arbeit aus dem Homeoffice, weil die Infrastruktur gut ist. In dünner besiedelten Regionen Deutschlands haben Sie aber kein oder nur ein schlechtes Netz. Das trifft dann auch die Schüler, die ihre Aufgaben jetzt online bekommen und bearbeiten sollen.
Dann ist da die Frage der technischen Ausstattung: Wer konnte und kann sich leisten, einen schnellen Laptop zu kaufen, der auch größere Datenmengen verarbeiten kann? Das ist auch eine Frage des Einkommens, also eine soziale Frage. Jetzt wird sehr deutlich, auf welchen Feldern die Digitalisierung in Deutschland nicht vorangekommen ist.
[Aktuelle Entwicklungen der Coronavirus-Pandemie weltweit können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]
Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?
Wir müssen beim Netzausbau, sowohl im Festnetz als auch mobil, noch eine gewaltige Schippe drauflegen. Wir müssen leider erkennen, dass der bisher favorisierte marktgetriebene Ansatz auch mit massiven Fördermitteln aus Bund und Ländern nicht in der Lage ist, für gleiche Bedingungen in allen Landesteilen zu sorgen. Das ist eine klassische Aufgabe der Daseinsvorsorge, und da ist der Staat gefragt.
Wir sehen jetzt aber auch, dass zahlreiche Unternehmen ebenso wie staatliche Institutionen, beispielsweise Schulen oder Verwaltungen, es versäumt haben, ihre Mitarbeiter mit sicheren Geräten für die mobile Kommunikation und Arbeit auszustatten. Viele arbeiten jetzt im Homeoffice, aber auf privaten Geräten. Das ist unter Aspekten von Datenschutz und IT–Sicherheit ein gefährliches Versäumnis.
Welche positiven Erfahrungen machen die Deutschen in dieser Zeit mit der Welt der IT?
Wir lernen jetzt in dieser Krise neue Formen der digitalen Zusammenarbeit kennen und schätzen. Wer nicht reist, sich stattdessen per Videokonferenz abspricht, spart nicht nur CO2, sondern auch eine Menge Zeit. Und viele erfahren, dass sie Beruf und Familie besser vereinbaren können, wenn sie nicht jeden Tag neun Stunden außer Haus sein müssen. Andere nutzen das Netz, um sich zusammenzutun und in solidarischen Aktionen Menschen zu unterstützen, die nun Hilfe brauchen.
Könnte die erzwungene Umstellung uns auf einigen Feldern sogar voranbringen?
Ja, wenn wir richtig reagieren. Wir müssen genau beobachten und die richtigen Lehren aus dieser Ausnahmesituation für die Gestaltung des digitalen Wandels ziehen. Dazu kommt: Wir sollten die freie Zeit, die die Krise uns schenkt, auch für digitale Angebote der Weiterbildung nutzen. Seit Jahren wird Weiterbildung gepredigt, lebenslanges Lernen, aber tatsächlich nehmen immer noch viel zu wenige die Angebote in Anspruch.
Wer in Kurzarbeit ist oder im Homeoffice arbeitet, sollte jetzt die Gelegenheit ergreifen, sich schlauer zu machen. Der gesellschaftliche und der wirtschaftliche Wandel verlangt uns neue Kompetenzen ab. Die können wir uns jetzt aneignen. Die digitalen Formate ermöglichen es schließlich, Wissens- und Lernstoff dann abzurufen, wenn man will, oder ihn sich in mehrere Portionen einzuteilen.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Ist das auch ein Appell an die Unternehmen, spezielle Programme anzubieten?
Ja klar! Es ist doch im ureigenen Interesse der Unternehmen, dass sich die Leute mit neuen Fähigkeiten und neuen Verfahren vertraut machen und so fit bleiben für ihre sich verändernde Tätigkeit. Seit wir das Qualifizierungschancengesetz durchgesetzt haben, kann jedes Unternehmen massive staatliche Unterstützung sowohl für Kurskosten als auch für den Verdienstausfall erhalten. Jetzt wäre die Zeit, das zu nutzen.
Die deutsche Verwaltung, auch das zeigt sich in der Krise, macht zu wenig Angebote für digitale Dienstleistungen, die den Gang ins Amt ersetzen. Woran liegt das?
Wir haben viel Zeit verloren, weil jahrzehntelang über Zuständigkeiten gestritten wurde. Mit der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes wollen wir aber einen großen Schritt vorankommen. Bis zum Jahr 2022 soll die Möglichkeit geschaffen werden, alle Dienstleistungen der Verwaltung online zu erledigen.
Positiv finde ich, dass jetzt in der Krise einige Unterstützungsleistungen des Sozialstaats leichter beantragt werden können. Das gilt für den Kinderzuschlag, aber auch für die Grundsicherung. Hier haben wir den Zugang erleichtert, damit Menschen in existenzieller Not schneller geholfen werden kann. Die verringerte Bürokratie könnte meinetwegen auch auf Dauer verringert bleiben.
In Südkorea hat die Ortung von Mobiltelefonen zur schnellen Eindämmung des Virus beigetragen. Sollte diese Technik im Notfall auch bei uns zum Einsatz kommen, wie Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das fordert?
Das, was Jens Spahn da vergangene Woche mal eben im laufenden Gesetzgebungsverfahren unterbringen wollte, hat die SPD nicht mitgemacht. Die vorgeschlagene Vorgehensweise, die Bewegungsdaten infizierter Menschen ohne ihre Einwilligung zu verfolgen, wäre nicht nur ein starker Eingriff in die Bürgerrechte.
Die Vorgehensweise würde auch gar nicht helfen gegen die Ausbreitung des Virus. Weil die Funkzellen viel zu groß sind, wären die Ergebnisse zu ungenau. Niemandem ist damit gedient, wenn in einer Großstadt auf dem Smartphone die Nachricht aufblinkt, dass sich im Umkreis von 500 Metern eine Corona-Infizierte Person befindet. Das schürt nur Panik, dämmt aber die Infektionsgefahr nicht ein. Das war einfach nur ein untauglicher Vorschlag.
Sind Sie generell gegen den Einsatz von Trackingverfahren zur Bekämpfung des Virus?
Nein. Es gibt durchaus taugliche Vorschläge, deren Einsatz zum einen freiwillig wäre und die zum anderen durch den Einsatz der richtigen Technik Datenschutz und Privatheit bewahren. So einer Lösung würden wir uns nicht verschließen. In einer solchen Situation kann man Bürgerrechtseingriffe für eine begrenzte Zeit hinnehmen, aber nur wenn sie verhältnismäßig sind und dem wichtigen Ziel auch wirklich dienen, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Wenn das durch technischen Lösungen gar nicht notwendig ist, dann ist es umso besser.
Die Börse stürzt weltweit ab, aber IT-Giganten in den USA legen zu. In Deutschland haben wir aber nur wenige erfolgreiche Unternehmen in diesem Sektor. Warum haben wir das verschlafen?
Auch hierzulande gibt es Unternehmen, die nicht unter der Krise leiden. Aber es stimmt schon: Was die Technologie und die Plattformen angeht, haben uns andere ein Stück weit abgehängt. Aber auch das können, nein müssen wir müssen aus dieser Krise lernen: Wir brauchen eine aktivere Wirtschaftspolitik, um in diesem Bereich voranzukommen.
Wir müssen – und zwar nicht nur in der Digitalwirtschaft - von der reinen Effizienzdenke wegkommen, wir müssen nachhaltiger und resilienter werden, also weniger abhängig, weniger verwundbar und selbstständiger. Shareholder-value und Quartalsergebnisse dürfen in der Wirtschaft nicht mehr das einzige Kriterium sein.
Und damit sollen Deutschland und Europa in der Digitalwirtschaft dann wettbewerbsfähiger werden?
Wir sind gefordert, sei es als Staat oder in der Wirtschaft, solche Produkte und Dienstleistungen von Digitalunternehmen zu bevorzugen, die sich an europäisches Recht halten und die europäische Werte teilen. Außerdem sind wir natürlich gehalten, klare Erwartungen auch bezüglich der Sicherheit zu formulieren und immer mit zu bedenken, von wem wir uns abhängig machen. Das gilt auch für den Ausbau des 5G-Netzes. Wir müssen den Wettbewerb stärken und nicht nur die großen Monopolisten bedienen. Eine aktive und verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik stärkt und stützt deutsche und europäische Anbieter.
Haben wir beim Ausbau des 5G-Netzes nicht nur die Wahl zwischen US-Monopolisten oder der chinesischen Firma Huawei, die ein Sicherheitsrisiko darstellt?
Wenn wir eine Abhängigkeit von Herstellern vermeiden wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass europäische Anbieter relevant werden, die im Moment vielleicht noch nicht so leistungsfähig sind. Die Telekommunikationsdienstleister sagen uns: Europäische Anbieter sind zu teuer. Das mag sein. Aber wenn wir unsere Sicherheit und unsere Unabhängigkeit stärken wollen, dann müssen wir eben etwas mehr Geld in die Hand nehmen.
Wir sehen nun in der Krise, was es bedeutet, wenn Lieferketten zusammenbrechen, zu denen wir keine Alternative haben. Wir sollten daraus die Lehre ziehen, künftig solche Abhängigkeiten zu vermeiden und uns unverletzlicher zu machen.
Sie wollen die SPD zum Betriebsrat der digitalen Gesellschaft machen. Der Aufstieg der IT-Giganten in den USA aber ist durch Disruption geglückt, durch einen radikalen Bruch mit bisherigen Techniken, Praktiken und Denkweisen. Sie wollen Kontinuität in der sozialen Sicherheit. Geht das zusammen?
Warum sollte das nicht zusammen gehen? Das liegt doch an uns. Wir haben als Sozialdemokraten den Anspruch, den Menschen als Bürger, als Verbraucher und als Arbeitnehmer auch dann zur Seite zu stehen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn sich Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend wandeln. Was verändert sich denn da? Viele arbeiten zum Beispiel als Selbstständige, die eher scheinselbstständig sind. Umgehung von Arbeitnehmerrechten nenne ich das. Die Leute bekommen keinen Tariflohn oder auch nur Mindestlohn, sie haben keinen Anspruch auf soziale Absicherung oder Arbeitsschutz.
Das ist die Masche von Plattformen wie Uber und Airbnb, die scheinbar die Dienstleistung selbstständiger Akteure auf ihren Plattformen anbieten. Dabei sind diese Leute meist zu hundert Prozent abhängig von diesem einen Anbieter. Die SPD will auch diesen abhängigen Selbstständigen eine Lobby geben und dafür sorgen, dass sie Rechte erhalten und eine soziale Absicherung und dazu die Möglichkeit, ihre Interessen gegenüber dem Auftraggeber zu vertreten.
Wo sehen Sie Möglichkeiten, diesem Ziel näher zu kommen?
Die Künstlersozialkasse, in der bisher Autoren, bildende Künstler und selbständige Journalisten organisiert sind, ist dafür ein gutes Beispiel. Diese Idee könnte man so ausbauen, dass sie auch für andere Selbstständige ein Angebot macht.
Sie wollen die digitale Souveränität der Bürger erhöhen – wie?
Wir müssen durch eine gute, zeitgemäße Bildung dafür sorgen, dass die Bürger mit Kenntnis ihrer eigenen Rechte und Möglichkeiten im Netz agieren können und nicht nur Konsumenten sind oder Lieferanten von Daten, mit denen IT-Firmen handeln. Ich kann nicht frei über mich bestimmen, wenn ich nicht weiß, was ich kann und darf und was andere können und dürfen.
Und wir müssen dafür sorgen, dass sich endlich auch die großen IT-Anbieter aus den USA und aus China an unsere deutschen und europäischen Regeln halten, sei es das Steuerrecht oder der Datenschutz. Akteure wie Facebook sehen ihre Nutzer nicht als Kunden, sondern als Ware für die Werbewirtschaft an.
Wäre dem Nutzer von Digitalangeboten nicht auch geholfen, wenn IT-Giganten nicht verhindern dürften, dass kleinere Anbieter sich mit ihren Angeboten verbinden?
Unbedingt. Bei der SMS geht es doch auch, dass verschiedene Netzanbieter zusammenarbeiten, so dass alle auf der gleichen Nachrichten-App auf dem Smartphone eingehen. Bei Anbietern wie Whatsapp oder Telegram müssen Sie überlegen, wo verschiedenen Nachrichten gelandet sind und verschiedene Apps öffnen, um alles zu lesen und zu beantworten. Solange wir die Anbieter nicht zur Interoperabilität verpflichten, sind jetzt viele überall, und das ist ein einziges Chaos. So eine Funktion würde uns wirklich souveräner machen. Auch der Staat muss übrigens digital souverän werden.
Neulich hat das Innenministerium überraschend festgestellt, die öffentliche Verwaltung hänge womöglich zu weitgehend von einem einzigen großen Hersteller von Büro-Software ab. Für die Sicherheit, die Wehrhaftigkeit oder auch Resilienz der Handlungsfähigkeit des Staates ist das natürlich fatal.
Sie wollen eine Datenteilungspflicht, nach der insbesondere monopolartige Anbieter ihre nicht personenbezogenen Daten Mitbewerbern und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen sollen. Was wäre gewonnen?
Denken Sie nur an dieses Beispiel: Die Telekom stellt dem Robert-Koch-Institut aktuell anonymisierte Bewegungsdaten von Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung, damit dort die Auswirkung der Maßnahmen erforscht werden kann. Normalerweise verkauft die Telekom solche anonymisierten Daten, in der Krise stellt sie sie nun unentgeltlich zur Verfügung. Damit werden Potenziale dieser Daten für das Gemeinwohl eröffnet.
Gerade lernende Systeme der sogenannten künstlichen Intelligenz benötigen große Datenmengen, damit sie gute Ergebnisse liefern. Mit den richtigen Zielsetzungen könnten diese Ergebnisse uns allen dienen. Zudem haben kleine Anbieter gegen die großen Daten-Giganten mit ihren Silos kaum eine Chance. Deshalb ist die Teilungspflicht auch ein Mittel, mehr Wettbewerb und Innovation zu ermöglichen. Und natürlich muss auch der Staat seine Schätze nicht personenbezogener Daten für wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure öffnen.
Ihr Co-Vorsitzender Norbert Walter-Borjans und Sie haben eine E-Mail an die SPD-Mitglieder geschrieben und darin ausschließlich die Leistungen der SPD-Minister in der Coronakrise gewürdigt. Haben Gesundheitsminister Jens Spahn, Wirtschaftsminister Peter Altmeier oder Bundeskanzlerin Angela Merkel nichts dazu beigetragen, sie einzudämmen?
Die Leistung der gesamten Bundesregierung in dieser Lage ist bemerkenswert, und das haben wir an anderer Stelle durchaus positiv hervorgehoben. Als Parteivorsitzende habe ich aber auch die Aufgabe, gegenüber unseren Mitgliedern die Leistung der SPD herauszuarbeiten und damit deutlich zu machen, dass die Partei auf allen Ebenen fähige Leute in Regierung und Parlament hat, die einen guten Job machen. Mir ging es bestimmt nicht darum, die Leistung der Unionsvertreter in Abrede zu stellen oder die Kooperationsbereitschaft der Oppositionsfraktionen geringzuschätzen.
Müssen Sie den Mitgliedern Ihrer Partei auch den Rücken stärken, weil die Union in den Umfragen kräftig zulegt, die SPD aber nur wenig?
Ich gelte ja als Skeptikerin, was die große Koalition anbelangt. Das hat Gründe, die gar nicht nur in dieser aktuellen Legislaturperiode liegen. Grundsätzlich geht in einer großen Koalition die Erkennbarkeit der großen Volksparteien verloren, und das ist fatal für unsere Demokratie. Das hat auch zur Folge, dass die hervorragende Arbeit unserer Ministerinnen und Minister bei der Regierung einzahlt – und auf dem Konto der Kanzlerin landet. Am Ende bekommt Merkel einen Ehrendoktor für den deutschen Mindestlohn, den sie nun wirklich nicht erfunden und auch nicht durchgesetzt hat.
Die SPD speist im Zusammenspiel mit unseren Regierungsmitgliedern und der Fraktion wichtige Haltungen und gute Impulse ein und setzt sie mit gutem Regierungshandeln um. Am Ende wird das dann aber der Bundesregierung und der sie führenden Partei angerechnet. Das ist allerdings ein unter Juniorpartnern in Koalitionen verbreitetes Schicksal.
[Das Interview erschien zuerst in den Tagesspiegel Newslettern Background Digital und Background Digitalisierung.]