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Der Mensch ist ein soziales Tier - keiner ist gern nur allein.
© picture alliance/dpa

Das Coronavirus und unsere Gesellschaft: Wir bleiben zu Hause – um uns bald wieder treffen zu können

Der öffentliche Raum wird durch das Coronavirus wieder zur Bedrohung. Warum es uns so schwer fällt, auf Gemeinschaftserlebnisse zu verzichten.

Wir halten jetzt Abstand, am besten eineinhalb Meter. Kein Handschlag, keine Umarmung, kein Kuss. Wir bleiben trotzdem in Kontakt und telefonieren. Oder mailen, facebooken, slacken.

Das Coronavirus hat den öffentlichen Raum kontaminiert

Eine Gesellschaft unter Quarantäne. Nicht so heftig wie in Italien oder in China, aber schon so, wie es noch nie war. Die Börse kriselt, Grenzen werden kontrolliert, Flüge sind gecancelt, Schulen werden geschlossen. Die Zahl der leeren Konzertsäle, Musikarenen, Theater und Opernhäuser steigt stündlich.

In Italien sind die Restaurants am Abend zu, Berlin hat jetzt sämtliche Großveranstaltungen untersagt. Zu den Geisterspielen in den Fußballstadien gesellen sich Online-Vorlesungen, digitale Konzertauftritte, Videokonferenzen. Immer mehr Firmen schicken ihre Mitarbeiter ins Home Office, U-Bahn und S-Bahn fährt man auch nicht mehr gern. Wir bleiben lieber zu Hause.

Auch wenn die Menge der in Deutschland infizierten Menschen sich nach wie vor in Grenzen hält: Der öffentliche Raum ist kontaminiert, mit der Angst vor dem Virus. Mit der Unsicherheit angesichts dieses Aliens, dieser neuen, fremden Lebensform, die sich in unseren Alltag eingenistet hat und den Planeten überwuchert. Zwar sterben die allermeisten Menschen nicht, die Mehrzahl wird kaum krank davon, und angeblich kehrt in China langsam das normale Leben zurück.

Vor dem Coronavirus bedrohte Terror die Gesellschaft

Trotzdem meinen viele, es seien Körperfresser am Werk. Der Planet außer Kontrolle, wegen einer unsichtbaren Bedrohung. Wie lange halten sich diese Viecher auf Türklinken und Aufzugknöpfen? Halbwissen grassiert, Infoflutwellen sorgen für Schnappatmung, Toilettenpapier ist aus, manche Virologen raten zur kompletten Schließung öffentlicher Einrichtungen, und sie klingen nicht paranoid. Es herrscht große Verunsicherung. Viel Stoff für das Kopfkino. Die Einbildungskraft entfaltet ihre Wirkung.

Zuletzt wurde der öffentliche Raum vom islamistischen Terror bedroht. Plötzlich wurden gerade die frei zugänglichen, von vielen frequentierten Orte obsolet. Weihnachtsmärkte, Stadien, Konzerthallen, Partymeilen – alles potentielle Angriffsziele. Da galt es, die Versammlungsfreiheit zu verteidigen, dieses hohe Gut einer demokratischen, zivilen Gesellschaft, und gleichzeitig Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Keine Hysterie, kein Leichtsinn, Augenmaß wahren, lautete die Devise. So lautet sie auch jetzt.

Wobei es sich mit dem Virus und der Versammlungsfreiheit komplizierter verhält. Gegen den Terror konnte, ja: sollte man auf die Straße gehen. Hunderttausende bekundeten Trauer, demonstrierten Solidarität. Gegen das Virus hilft keine Demo. Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Macht und Ohnmacht einer Menschenmenge erübrigt sich. Denn die Einschränkung der Bewegungsfreiheit erfolgt nicht wegen menschlicher Attentate, sondern wegen höherer Gewalt.

Das Virus fördert jedoch ein anderes Paradox zu Tage. Die globale Verbreitung von Covid-19 bringt eine vorübergehende Deglobalisierung mit sich. Die Selbstverständlichkeit schier ungebremster und unbegrenzter Mobilität ist erstmal dahin. Die „New York Times“ meldete am Montag, dass sich ausgerechnet der Geschäftsführer der Port Authority von New York und New Jersey infiziert hat.

Das liest sich makaber, handelt es sich doch quasi um den obersten Mobilitäts-Chef der Region. Die Behörde ist unter anderem für alle drei dortigen Flughäfen zuständig, für Busbahnhöfe, Schiffshäfen, Brücken, Tunnel.

Hintergrund über das Coronavirus:

Verbindungen sind gekappt, von vielen Reisezielen wird abgeraten, und Deutschland re-regionalisiert sich. Nicht jedes Bundesland ist gleichermaßen betroffen. Hallo, ich bin’ s, ist das Virus bei euch schon angekommen? Die Kollegin lässt sich von ihrer Schwester aus dem Saarland Trockenhefe schicken, in Berlin gab’s keine mehr. Care-Pakete in besetzte Gebiete, wie früher. In manchen Orten sind die Supermarktregale noch gut gefüllt.

Apropos Vergangenheit. Wie global die Welt schon damals war, das zeigt schon ein flüchtiger Blick auf frühere Seuchen und Epidemien. Cholera, Pest, Spanische Grippe – übrigens weit tödlichere Krankheiten: Mit jedem Eroberungszug, jeder Entdeckungsexpedition, jeder Kolonisierung rückte die Welt enger zusammen. Dass die unkontrollierbare Übertragung von Krankheitserregern erst zu den Nebenwirkungen der heutigen Globalisierung gehört, dürfte eine Autosuggestion der Gegenwart sein. Auch das eine Corona-Erkenntnis.

Das waren noch Zeiten: Fanmeile in Berlin 2018.
Das waren noch Zeiten: Fanmeile in Berlin 2018.
© Jens Büttner/dpa

Zu den eindrücklichsten Empfindungen dieser Tage gehört jedoch die (Selbst-)Erkenntnis, wie schwer es fällt, nichts zu tun. Unsere Gesellschaft ist auf Leistung, aufs Handeln gepolt, auf unaufhörliche Bewegung. Halt auf freier Strecke, darin haben wir keine Übung. Aber selbst bei verordneten „Corona-Ferien für alle“ fällt es schwer, zu Hause zu bleiben.

Der Mensch ist ein social animal, die wenigsten bevorzugen das Einsiedlerdasein. Wir kämpfen auch nicht gern allein – und sei es gegen das Virus. Wir möchten uns treffen, uns sehen, suchen die physische Nähe, die analoge Begegnung, den persönlichen Austausch, den Augenkontakt.

Mit dem Coronavirus schlägt die Stunde der Hausmusik

Wir versammeln uns auch gern mit vielen Leuten. Selbst wer Fußball nicht vor Ort, sondern nur im Fernsehen guckt, hat wenig Spaß dabei, wenn im Bildhintergrund leere Ränge gähnen. Feiern im engsten Freundeskreis? Okay, nur soll es manchmal bitte die große Sause sein.

[Mehr zum Thema: Amtsarzt zu Coronavirus in Berlin – „Müssen praktisch alle sozialen Kontakte unterbinden“]

Schon deshalb sterben die Musentempel und Festivals im Zeitalter von Streamingdiensten und Digital Concert Halls nicht aus. Um es in ein musikalisches Bild zu fassen: Mit dem Virus schlägt die Stunde der Hausmusik, der Kammerensembles, der kleinen Besetzung. Aber man möchte schon auch mal in die Philharmonie oder in die Arena am Ostbahnhof. Wegen des Wir-Gefühls und der Sehnsucht nach dem Gemeinschaftserlebnis, dem analogen Bad in der Menge. Darauf zu verzichten, ist hart.

Berlin ist die Stadt der Freiheit. Keine Sperrstunde, dafür ist sie berühmt, erst recht für ihr vielfältiges, unüberschaubares Kulturangebot, für Clubs und Kneipenviertel, Ausgehmeilen, Open-Air-Events, Public Viewings und Sonnenuntergangsbrücken mit Wegbier.

Fällt jetzt alles aus, weshalb das Virus hier womöglich in besonderem Maß als Anschlag auf die Freiheit erlebt wird. Die Türen bleiben zu, Tickets werden erstattet, Schluss mit der offenen Gesellschaft. Im Moment weiß keiner, wie lange. Wird die Waldbühne im Sommer geöffnet sein? Finden die Olympischen Spiele im Juli in Tokio statt?

Sicher ist, es wird vorübergehen. Aber wohin bis dahin mit dem Wunsch nach Geselligkeit? Soziale Netzwerke und der Online-Chat können ihn kaum befriedigen. Womöglich erstreckt sich die Wir-Fastenzeit in diesem Jahr über Ostern hinaus. Der leere Saal, das Sinnbild dieser Tage.

Der Klimawandel bedroht uns stärker als das Coronavirus

Leere Flughäfen, leere Bahnhöfe, leere Welt – und saubere Luft über Peking sowie ein zauberhaft entvölkerter Markusplatz in Venedig: All diese Bilder wecken ein diffuses Gefühl der Apokalypse. Die Vernunft steuert dagegen und relativiert. Der Planet und unsere Zivilgesellschaft sind vom Klimawandel, von sozialer Spaltung, vom teils katastrophalen Umgang mit Migration oder mit den Ressourcen der Erde weit stärker betroffen und bedroht als vom Coronavirus. Der Panik entgegensteuern, das bedeutet auch, dies nicht aus dem Blick zu verlieren.

Der Komiker Dieter Nuhr wäre gerne aufgetreten.
Der Komiker Dieter Nuhr wäre gerne aufgetreten.
© Henning Kaiser/dpa

Der eigene Egoismus, der Egoismus des Westens lohnt eine nähere Betrachtung. Das Zögern beim behördlichen Stopp von Großveranstaltungen in Berlin trägt ähnliche Züge wie die Empörung von Arbeitnehmern darüber, dass sie von Vorgesetzten gegen ihren Willen nach Hause geschickt werden. Oder wie der Protest von Privattheatern, weil die ausgefallene Premiere existenzgefährdende Einnahmeeinbußen bedeutet.

Dieter Nuhr wollte trotz Coronavirus auftreten

Anders als die USA ist Deutschland eine noch halbwegs soziale Marktwirtschaft, ein Wohlfahrtsstaat. Die Politik engagiert sich dafür, dass Existenznöte abgefedert werden, auch die von kleineren Kultureinrichtungen.

„Wir haben eine Erkrankungsrate von 0,0001 Prozent der Bevölkerung. Also ich würde gerne einfach auftreten am Wochenende...“, twitterte der Kabarettist Dieter Nuhr, nachdem einige seiner Shows in Deutschland und Österreich abgesagt wurden. Die Folge: ein Shitstorm. Meinte er es ironisch? Wir sind tüchtig, wir sind geschäftstüchtig, ich lasse mir meine Freiheit und meine Selbstbestimmung nicht nehmen: Solches Denken geht auf Kosten der Freiheit und der Gesundheit des Anderen. Ich Ich Ich oder der Rest der Welt? Zum Wir-Gefühl gehören das soziale Miteinander, die Rücksicht auf Schwächere, Ältere, Menschen mit Vorerkrankungen, Risiko-Kandidaten, kurz: Verantwortungsbewusstsein. Darauf läuft es hinaus: Wir bleiben zu Hause, um uns möglichst bald wieder treffen zu können. Mit so vielen wie möglich.

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