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Ein Mitglied der oppositionellen Nationalen Befreiungsfront feuert auf Stellungen der russischen und syrischen Streitkräfte. Zuvor waren 80 Kämpfer, die von der Türkei unterstützt werden, bei einem Luftangriff getötet worden.
© Omar Haj Kadour/AFP

Streit mit Erdogan in Syrien: Putins Kampfansage

Russlands Präsident lässt Türkei-treue Kämpfer in Idlib bombardieren – es ist eine Machtdemonstration Richtung Ankara. Was steckt dahinter?

Einige Monate herrschte ein wenig Ruhe. Doch jetzt verschärfen sich die militärischen Spannungen in der umkämpften syrischen Provinz Idlib wieder. Die russische Luftwaffe tötete diese Woche bei einem Angriff rund 80 Türkei-treue Kämpfer.

Die Attacke auf ein Ausbildungslager der Miliz Failak al Sham nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt war ein schwerer Schlag gegen die Aufständischen – und zugleich eine Kampfansage. Moskau erhöht in Syrien offenkundig den Druck auf Ankara und warnt die türkische Regierung zugleich wegen ihrer Einmischungsversuche im Konflikt um Berg-Karabach.

Dennoch droht Präsident Recep Tayyip Erdogan mit einem erneuten Einmarsch in Nordsyrien.

Russland und die Türkei arbeiten seit Jahren im Bürgerkriegsland zusammen, obwohl Moskau Baschar al Assad unterstützt und Ankara die Opposition, die gegen den syrischen Staatschef kämpft. Die Kooperation nützte bisher beiden Seiten: Russland konnte das Nato-Land Türkei aus dem Westen herauslösen und die Türkei ihre eigenen Interessen in Syrien verfolgen.

Eine Offensive Assads in Idlib, der letzten Rebellenbastion nach fast zehn Jahren Krieg, belastete jedoch bereits Ende vergangenen Jahres das Bündnis.

Ein Waffenstillstand von kurzer Dauer

Im Frühjahr einigten sich Kremlchef Wladimir Putin und Erdogan auf einen Waffenstillstand zwischen ihren Verbündeten in Syrien, der die Lage in Idlib stabilisieren sollte. In jüngster Zeit fliegen russische und syrische Kampfflugzeuge jedoch wieder mehr Angriffe in der Gegend; türkische Soldaten mussten sich jetzt von einigen Beobachtungsposten in Idlib zurückziehen.

Erst am Mittwoch starben nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte bei Raketenangriffen der syrischen Armee auf die Stadt Ariha an der strategisch wichtigen Überlandstraße M4 vier Menschen.

Assads will ein Exempel statuieren

Assad lässt keinen Zweifel daran, dass er Idlib wieder unter seine Kontrolle zwingen will – vor wenigen Tagen ernannte er zum ersten Mal seit Langem einen Gouverneur für die Provinz. Das passt zu seinem Anspruch, ganz Syrien zu beherrschen.

Dazu gehört nicht zuletzt, mit allen Mittel und ohne Rücksicht ein Exempel zu statuieren: Jeder, der es wagt, Widerstand zu leisten, bekommt die militärische Macht des Regimes zu spüren. Verkauft wird das als „Kampf gegen Terrorismus“.

Vertreter Deutschlands, der USA und Frankreichs bei den UN werfen dem Herrscher in Damaskus zudem vor, die Verhandlungen über eine neue syrische Verfassung unter dem Dach der Vereinten Nationen zu verschleppen, um sich bei der geplanten Präsidentschaftswahl in Syrien kommendes Jahr für eine weitere siebenjährige Amtszeit bestätigen zu lassen.

Verbündete und Kontrahenten: Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan
Verbündete und Kontrahenten: Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan
© Pavel Golovkin/Reuters

Die neuen Angriffe der russischen Luftwaffe und der syrischen Armee in Idlib könnten die Türkei in Schwierigkeiten bringen. Die Miliz Failak al Sham ist ein wichtiger Partner Ankaras in der Provinz und hatte in den vergangenen Jahren an der Seite der türkischen Armee an Militärinterventionen im Norden Syriens teilgenommen.

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Die Türkei hatte Moskau mehrmals versprochen, radikale Gruppen in Idlib zu zähmen – doch besonders die Al Qaida nahestehende Extremistenmiliz HTS, die weite Teile der Provinz beherrscht, blieb bisher unbehelligt. Russland habe schon lange auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen gewartet, sagt Kerim Has, Experte für russisch-türkische Beziehungen.

Dass Ankara die Islamisten nicht in den Griff bekommt, habe Moskau einen willkommenen Vorwand geliefert, um seine Macht in Idlib zu demonstrieren.

Im Konflikt um Berg-Karabach fordert Erdogan Mitsprache

Damit will Putin mit Blick auf den Konflikt in Berg-Karabach vor allem Erdogan seine Grenzen aufzeigen. Die Türkei hat sich aufseiten Aserbaidschans in den Karabach-Konflikt eingeschaltet und stellt so die Position Russlands als Ordnungsmacht im Kaukasus infrage.

Denn Moskau ist Schutzmacht Armeniens. Erst vor wenigen Tagen forderte Erdogan ein Mitspracherecht in Karabach, was von Moskau kategorisch abgelehnt wird. Nun setzte Russland seine Kampfflugzeuge in Idlib nicht etwa gegen HTS-Kämpfer ein, sondern gegen die Türkei-treue Islamistenmiliz Failak al Sham.

Der Angriff sei als direkte Botschaft Moskaus an Ankara zu verstehen, schreibt Nahost-Experte Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington auf Twitter.

Machthaber Baschar al Assad ist fest entschlossen, Idlib zurückzuerobern.
Machthaber Baschar al Assad ist fest entschlossen, Idlib zurückzuerobern.
© Syrian Presidency/AFP

In einer ersten Reaktion auf den Luftangriff ließ Erdogan erkennen, dass er erhebliche Probleme bei der Zusammenarbeit mit Russland in Syrien sieht. Das Bombardement zeige, dass Moskau nicht an einem dauerhaften Frieden in der Region interessiert sei, sagte er.

Der türkische Präsident bekräftigte zudem, die Armee werde wieder in den Norden Syriens einmarschieren, wenn sie das wegen der Präsenz kurdischer Milizionäre an der Grenze für notwendig erachte. Seit 2016 hat die Türkei bereits an vier Stellen ihre Soldaten in das Nachbarland geschickt.

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Auch die USA verstärken wieder ihre militärischen Aktivitäten in Idlib. Bei einem Drohnenangriff vorige Woche töteten die US-Streitkräfte nach eigenen Angaben sieben führende Mitglieder des Terrornetzwerks Al Qaida. Für die Menschen in Idlib heißt das: Sie dürfen nicht auf Ruhe hoffen.

Fast anderthalb Millionen Frauen, Kinder und Männer wurden seit Anfang 2019 durch die Gefechte vertrieben. Die Flüchtlingslager sind völlig überfüllt, Zivilisten müssen deshalb oft unter freiem Himmel nächtigen – und das bei sinkenden Temperaturen. Und viele Menschen leiden Hunger.

Hinzu kommt Corona. Immer mehr Menschen infizieren sich. Doch die Testkapazitäten sind ebenso mangelhaft wie die Ausstattung mit Intensivbetten oder Beatmungsgeräten. An das Einhalten von Hygieneregeln ist unter extrem beengten Lebensverhältnissen ohnehin nicht zu denken. In Kriegszeiten hat die Pandemie leichtes Spiel.

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