Terrorexpertin über IS: „Nicht bomben, korrumpieren!“
Loretta Napoleoni beschäftigt sich seit langem mit den ökonomischen Grundlagen des Terrors. Die Strukturen des „Islamischen Staats“ hält sie für modern. Ein Gespräch über Steuern und Pragmatismus.
Frau Napoleoni, Sie erforschen die Ökonomie des Terrors. Gibt es einen Unterschied zwischen dem „Islamischen Staat“ im Irak und Syrien und anderen Terrororganisationen?
Der „Islamische Staat“ ist einmalig in dem, was er tut. Er nutzt zwar die alten traditionellen Methoden. So kombiniert er legale und illegale Geschäfte, um sich zu finanzieren. Aber der „Islamische Staat“ ist sehr modern – und sehr pragmatisch. Das geht so weit, dass er sich in seinem Vorgehen stärker einer Staatsgewalt annähert.
Macht Boko Haram in Nigeria das anders?
Boko Haram ist ganz klar eine bewaffnete Organisation, die eher auf der kriminellen Seite zu verorten ist. Sie hat kein Konzept, wie sie ein Gebiet unter ihrer Herrschaft managen soll. Die Miliz hat auch keine Ahnung, wie sie den Wandel von einer bewaffneten zu einer politischen Organisation bewältigen könnte. Das, was diese Gruppierungen alle eigentlich anstreben, ist ein politisches Ziel. Terrorismus lässt sich definieren als kriminelle Aktivität mit darüber hinausgehenden Zielen. Ihr Ziel ist es, sich selbst an die Stelle des legitimen Staates zu setzen. Die meisten Terrororganisationen vor dem „Islamischen Staat“ haben sich in kriminellen Geschäften verloren, sind zu rein kriminellen Organisationen abgesunken.
Und was ist der „Islamische Staat“?
Anders. Er ist seinem Ziel, dem politischen Konzept eines islamischen Staates, eines Kalifats, sogar schon ziemlich nahe. Deshalb nähert sich seine Art und Weise des Wirtschaftens derjenigen eines Staates an, weg von einer rein kriminellen Organisation.
Bei Al Qaida im Maghreb (Aqim), die im Norden Malis während der Besatzung durch die Islamisten eine Art von Staatswesen begründet haben, scheint die Methode ähnlich gewesen zu sein, oder?
Ich denke, dass Aqim eine Organisation ist, die sich viel größer darstellt, als sie tatsächlich ist. Sie kontrolliert kein großes Gebiet. Sie bewegt sich lediglich in einem großen Gebiet. Aqim ist eher eine Schmugglerorganisation als ein Staat. Aqim führt ein Geschäft, der „Islamische Staat“ ein Staatswesen im Irak und in Syrien.
Und das ist ganz neu?
Dem „Islamischen Staat“ am nächsten kommt noch die PLO, die Palästinensische Befreiungsbewegung, zu der Zeit, als sie den Gazastreifen und das Westjordanland kontrollierte. In diesem Gebiet verhielt sie sich wie eine staatliche Autorität, baute eine Infrastruktur auf. Sie hat Steuern erhoben, sich um die Armen gekümmert. Das ist das typische Verhalten eines Staates.
Lässt sich das durchhalten?
Es ist sehr schwierig für eine Organisation, das politische Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren, weil die Kriminalität sie korrumpiert. Der Anführer des „Islamischen Staats“, Abu Bakr al Baghdadi, hat erkannt, wie hoch das Risiko ist, komplett zu einer kriminellen Organisation zu degenerieren. Bei den meisten Organisationen macht sich früher oder später Korruption breit. Mein Eindruck ist: Der „Islamische Staat“ ist sehr darauf bedacht, dass das nicht passiert. Ich denke, dass sich der „Islamische Staat“ sehr von anderen terroristischen Organisationen unterscheidet – obwohl vieles, was er tut, überhaupt nicht neu ist.
Welche Rolle spielt denn der Handel mit Rohstoffen wie Öl?
Rohstoffe spielen eine wichtige Rolle. Vor allem, um eine Partnerschaft mit den örtlichen Clans und Stämmen zu begründen, indem die Rohstoffe gemeinsam bewirtschaftet und Gewinne geteilt werden. Auch das ist ein Element von Modernität. Diese Art von Partnerschaft des „Islamischen Staates“ verhindert, dass er lediglich als Besatzungsmacht wahrgenommen wird – wie der gestürzte irakische Diktator Saddam Hussein, die Amerikaner und schließlich die Regierung des gescheiterten Premierministers Nuri al Maliki.
Welchen Zweck hat das?
Diese Partnerschaften sind entscheidend, um innerhalb der sunnitischen Bevölkerung so etwas wie Konsens zu schaffen. Sie führen zu einem Trickle-Down-Effekt, das heißt, der örtlichen Bevölkerung geht es etwas besser als vorher, die Wirtschaft entwickelt sich und damit die Steuerbasis. Es ist eine Wirtschaft, die sich von der Kriegsökonomie wegbewegt zu einer Wirtschaft, die von Unternehmen angetrieben wird. Das bietet Aussicht auf Wohlstand. Aber ich denke, die wichtigste Ressource ist bereits das Staatswesen, also das Erheben von Steuern.
Wie funktionieren eigentlich die Schnittstellen zwischen der illegalen und der legalen Wirtschaft?
Die illegale Welt hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr und mehr in der legalen Welt ausgebreitet. Die Globalisierung hat diese Art von Abhängigkeiten noch weiter vergrößert. Das illegal geförderte Öl lässt sich auf dem internationalen Markt problemlos verkaufen.
Das spielt dem „Islamischen Staat“ in die Hände?
Das illegale Ölgeschäft ist ein rein kriminelles Unternehmen. Das ist genau, wogegen der „Islamische Staat“ vorgibt zu kämpfen: die korrupten Eliten. Wobei: Gehört dem „Islamischen Staat“ das Öl wirklich nicht? Die Organisation führt einen traditionellen Eroberungskrieg. Er kann argumentieren: Wir sind nicht kriminell. Wir teilen die Ressourcen mit der lokalen Bevölkerung. International wird das nicht akzeptiert. Aber das ist, was die Protagonisten des IS selbst denken.
Welche Rolle spielt die Gewalt? Ist die brutale Gewalt des „Islamischen Staates“ nicht ein Element, das ihr politisches Ziel komplett untergraben kann?
Die Gewalt des „Islamischen Staates“ ist nicht so verschieden von der Gewalt, die wir von anderswo her bereits kennen. Der Unterschied ist, dass wir in Zeiten sozialer Medien diese Gewalt auch zu sehen bekommen, quasi in Echtzeit. Früher haben wir die Informationen bekommen in Nachrichtensendungen, die die Bilder sehr sorgfältig ausgewählt haben – und vieles nicht zensiert, aber eben auch nicht gezeigt haben. Der „Islamische Staat“ hat ziemlich genau verstanden, wie Kommunikationskanäle genutzt werden können. Die Gewalt ist nicht das Ziel, sondern das Kalifat. Aber die Gewalt wird genutzt, um Menschen einzuschüchtern – vor allem uns im Westen. Wir denken: Diese Leute sind ruchlos, gefährlich, stark.
Nur im Westen?
Im Mittleren Osten wird diese Gewalt als endgültige Gerechtigkeit Gottes inszeniert und verstanden. Der Gott der Liebe ist auch der Gott der Strafe. Das wirkt auf manche Menschen sogar positiv. Wenn jemandem für den Diebstahl eines Schmuckstücks eine Hand abgehackt wird, dann wird das in einer Gesellschaft, die lange im Krieg und im Chaos gelebt hat, die himmelschreiende Ungerechtigkeit erlebt hat, zu so etwas wie einem positiven Zeichen. Das klingt für uns ganz unglaublich. Aber diese Menschen leben nicht wie wir in einer politisch korrekten Komfortzone.
Und es gibt keine Rechtssicherheit.
Das ist der große Unterschied. Ich fände es furchtbar, wenn jemandem eine Hand abgehackt würde, weil er mir Schmuck gestohlen hat. Aber ich kann sicher sein, dass er bestraft wird, womöglich ins Gefängnis geht. Es ist nicht notwendig, Menschen die Hände abzuhacken, um sie vom Stehlen abzuhalten, weil es einen Rechtsstaat gibt. Aber in einer Gesellschaft ohne Rechtsstaat, wo Menschen bestohlen, vergewaltigt oder misshandelt werden können, ohne dass sich jemand dafür verantworten muss, ist eine hart strafende Autorität durchaus willkommen. Diese Autorität zitiert die Strafen aus dem siebten Jahrhundert, die geradezu gottgleich sind. Für die Menschen ist das, als käme Gott zurück, um sie zu retten.
Eine Terrorökonomie ist also letztendlich dann erfolgreich, wenn sie sich in eine Staatswirtschaft entwickelt?
So sehe ich das. Wenn die Wirtschaft zu einem Mittel wird, um einen Staat zu organisieren. Aber für die Menschen, die in einem solchen Gebiet gefangen werden, ist das lediglich eine Staatshülle. Denn es ist ein Staat, der keine politische Legitimität hat. Nach der Eroberung hat der „Islamische Staat“ sofort begonnen, die soziale Infrastruktur aufzubauen: Eine Suppenküche für die Armen wurde eingerichtet, die Stromversorgung repariert. Was aber fehlt, ist der Kern. Die Menschen können nicht entscheiden, ob sie dort sein wollen oder nicht. Das nenne ich eine Staatshülle. Die Terrormiliz gibt den Menschen Sicherheit vor Kriminalität, gibt ihnen Strom. An einem bestimmten Punkt sagen die Leute: Es ist zumindest besser als vorher. Der „Islamische Staat“ sucht den Konsens. Das hat keine andere Terrororganisation vorher getan. Die Taliban sind einmarschiert und haben die Bevölkerung ausgeplündert. Sie waren eine Besatzungsmacht.
Das klingt ziemlich positiv.
Die Kernfrage lautet: Ist das stabil? Kann der „Islamische Staat“ verhindern, zu einer kriminellen Organisation abzusinken, zur Besatzungsmacht zu degenerieren, zur reinen Diktatur?
Ihr Rat an die Regierungen, die den „Islamischen Staat“ bekämpfen wollen, lautet also: Nicht bomben, sondern korrumpieren?
Ja. Das würde ich so sagen. Bomben sind die falsche Strategie, weil der „Islamische Staat“ mitten in der Bevölkerung lebt. Sind wir wirklich bereit, Zivilisten zu bombardieren? Ich bin es nicht. Die beste Strategie ist, sie so zu korrumpieren. Nicht unbedingt, um die Islamisten komplett degenerieren zu lassen. Sondern, um sie in den Rahmen des internationalen Rechts zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass man mit einem Diktator verhandelt. Muammar al Gaddafi oder Saddam Hussein sind auch nicht auf legitime Weise an die Macht gekommen. Warum fürchten wir also den „Islamischen Staat“ so sehr? Bedroht er den Westen? Ich glaube das nicht. Der „Islamische Staat“ ist allenfalls eine Gefahr für die westlichen Interessen im Nahen Osten. Aber selbst das bezweifle ich. Wir sind nicht vom irakischen Öl abhängig; wir kaufen es nicht einmal. Wir haben keine Interessen in Syrien. Für uns ist es wichtiger, zu Russland gute Beziehungen zu haben. Allerdings sieht es derzeit nicht danach aus. In der westlichen Strategie gibt es keine Realpolitik.
Wirklich?
Das ist die Wahrheit. Wir gehen mit den Krisen in der Ukraine und im Irak völlig falsch um. Wir zeigen keinerlei Pragmatismus. Al Baghdadi zeigt uns, was Realpolitik ist. Das ist beängstigend. Aber wenn man so was sagt, etwa in einem Nato- Treffen, dann wird man gekreuzigt.
Das droht Ihnen sicherlich nicht. Dennoch: Warum gewinnt der „Islamische Staat“ so viele Anhänger?
Der „Islamische Staat“ ist populär, weil er nicht redet, sondern handelt. Das ist neu. Das Konzept des modernen Staates beruht auf dem Ausgleich von Interessen. Die salafistischen Strömungen sehen das komplett negativ. Der „Islamische Staat“ hat das aber einfach beiseite gewischt. Diese Gruppe lehnt moderne Technologien nicht ab, sondern nutzt sie. Die Jugend muss auch nicht auf Musik verzichten. Sie arbeiten für ihren eigenen, nicht korrupten modernen muslimischen Staat.
Ziemlich idealistisch.
Ja, das ist es wohl.
Dagmar Dehmer