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Volker Rühe (CDU), hier vor der Bundespressekonferenz, war Verteidigungsminister im Kabinett von Kanzler Helmut Kohl.
© Thomas Trotschel/imago/photothek

Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe: „Natürlich brauchen wir die nukleare Teilhabe“

Volker Rühe über Deutschlands Rolle bei der atomaren Abschreckung, Merkels Fehler auf diesem Feld und die Aufgaben der Ampelkoalition in der Welt.

Volker Rühe (CDU) galt zeitweise als potenzieller Nachfrage von Kanzler Helmut Kohl. Er war Generalsekretär der CDU (1989 bis1992) und Bundesminister der Verteidigung (1992 bis 1998). In dieser Funktion warb er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für die Ausdehnung der Nato nach Osten und schickte die Bundeswehr in ihre ersten Auslandseinsätze.

Herr Rühe, im Wahljahr 2021 hat nur ein außen- und sicherheitspolitisches Thema die Deutschen zeitweise beschäftigt – der Abzug aus Afghanistan. War er ein Desaster für den Westen?
Die Bekämpfung des Terrorismus in Afghanistan war ein legitimes und vernünftiges Ziel, darauf hätte man sich konzentrieren sollen. Aber der Westen wollte dort eine Demokratie aufbauen.  Das musste schief gehen. US-Präsident Joe Biden hatte das erkannt, schon als Vizepräsident trat er für einen früheren Abzug der US-Soldaten ein. Grundsätzlich hatte er den richtigen Ansatz, aber in der letzten Phase hat er Fehler gemacht, weil er dann nicht mehr auf seine Militärs hörte.

Welche Fehler meinen Sie?
Wenn die USA einzelne Regionen etwa ein halbes Jahr militärisch länger gesichert hätten, dann hätten sie die Kontrolle behalten und die Entwicklung besser steuern können. Alle westlichen Staaten hätten auch viel mehr ihrer afghanischen Helfer herausholen können. Stattdessen hat die US-Regierung ein Chaos angerichtet. Das war eine politische Niederlage, keine militärische. Wenn man die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Afghanistan-Einsatz zieht, muss sein Ende aber keine langfristige Schwäche des Westens bedeuten. 

Worin sehen Sie die Lehren aus Afghanistan? 

Der Afghanistan-Einsatz wird als eine Wasserscheide wirken – die Außen- und Sicherheitspolitik danach muss sich von der davor unterscheiden. Mit militärischen Mitteln kann man kein „Nation building“ machen, keine Demokratie schaffen, wenigstens nicht außerhalb Europas. In Afghanistan hat es nie einen funktionierenden Zentralstaat gegeben, geschweige denn eine Demokratie. Wir müssen für die Zukunft lernen, nur in Auslandseinsätze zu gehen, die realistische Ziele verfolgen und diese in einer genau definierten Zeit erreichen können.

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Welche Fehler hat die Bundesregierung beim Abzug aus Afghanistan gemacht?
In der letzten Phase des Einsatzes haben sich Auswärtiges Amt, Verteidigungsministerium und Innenministerium gegenseitig blockiert. Es ist eine Schande, dass riesige bürokratische Hürden die Rettung der deutsche Ortskräfte verhinderten. Man hätte sie nach Deutschland holen und den Papierkram dann hier erledigen sollen.

Wie hätte man die Blockade beseitigen können?
Es ist ein Versagen des Kanzleramtes, dass es diesen Streit nicht aufgelöst hat. Wenn die Bundesregierung nun nicht alles dafür tut, noch möglichst viele Ortskräfte zu retten, dann wird Blut an ihren Händen kleben. Sie steht jetzt in einer ganz besonderen Verantwortung. Das gilt auch für die neue Regierung.

An der Mauer des Flughafens von Kabul endete auch für viele Ortskräfte der Deutschen der Versuch der Flucht vor den Taliban.
An der Mauer des Flughafens von Kabul endete auch für viele Ortskräfte der Deutschen der Versuch der Flucht vor den Taliban.
© Wali Sabawoon/AP/dpa

Apropos neue Regierung: Was erwarten sie in der Außen- und Sicherheitspolitik von der Ampelkoalition?
Ich messe die Ampel an ihren eigenen Ansprüchen. SPD, Grüne und FDP haben erklärt, dass sie die strategische Souveränität Europas erhöhen wollen. Das ist dringend notwendig. Denn die Hinwendung der USA nach Asien, der „Pivot to Asia“, ist in vollem Gange: Die USA ziehen nach und nach militärische Kapazitäten aus Europa ab und verlagern sie nach Asien. Wenn wir nicht eines Tages völlig schutzlos dastehen wollen, muss Deutschland einen fairen Anteil an der Garantie europäischer Sicherheit übernehmen.  

Wie könnte das gelingen?
Da geht es um viel Geld für nationale Kapazitäten, aber auch eine europäische Zusammenarbeit jenseits nationaler Zuständigkeiten. Es greift zu kurz, wenn die Ampelpartner in ihrem Sondierungspapier für eine verstärkte europäische Zusammenarbeit nationaler Armeen eintreten.  Wir brauchen europäische multilaterale Strukturen, wir brauchen europäische Arbeitsteilung und Spezialisierung in der Verteidigungspolitik.

Wo sollte Deutschland mehr für die europäische Sicherheit leisten?
Wir sollten den größten konventionellen Beitrag bei den Landstreitkräften stellen. Kleine und mittlere EU-Länder müssen nicht über das ganze Spektrum militärischer Fähigkeiten verfügen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir etwa bewaffnete Drohnen im Verbund mit den Franzosen anschaffen und nutzen. Darauf lässt sich Frankreich aber nur ein, wenn die Deutschen ohne jeden Zweifel bereit sind, diese Waffe einzusetzen.

Noch hat die Bundeswehr diese Waffe gar nicht. Glauben Sie, dass die Ampelkoalition bewaffnete Drohnen anschafft?
Das ist eine offene Frage. Wenn die Ampelkoalition es ernst meint mit der Stärkung der europäischen Souveränität, muss sie bewaffnete Drohnen anschaffen. Wenn sie sich gegen diese Waffen entscheidet, beschreitet sie einen deutschen Sonderweg und schadet der gemeinsamen europäischen Sicherheit. Ganz abgesehen davon, dass diese Waffe Leben und Gesundheit deutscher Soldaten schützen kann.

Wo zum Beispiel? 
Zum Beispiel beim Einsatz in Mali. Drohnen werden von der Bundeswehr dort ja heute schon zur Aufklärung eingesetzt. Stellen Sie sich vor, sie erkennen die Vorbereitung eines Angriffs auf einen deutschen Konvoi. In diesem riesigen Land kann es aber lange dauern, bis Verstärkung geholt werden kann. Eine bewaffnete Drohne kann den angegriffenen deutschen Soldaten sehr schnell und effektiv helfen.

In Büchel in der Eifel lagern rund 20 US-amerikanische Atomsprengköpfe. Bundeswehr-Flugzeuge vom Typ Tornado üben ihren Einsatz.
In Büchel in der Eifel lagern rund 20 US-amerikanische Atomsprengköpfe. Bundeswehr-Flugzeuge vom Typ Tornado üben ihren Einsatz.
© Thomas Frey/dpa

Woher kommen die großen Vorbehalte gegen diese Waffe in Deutschland?
Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Die USA töten im Kampf gegen den Terrorismus mit bewaffneten Drohnen weltweit gezielt Personen, die sie für Terroranschläge verantwortlich machen. Diese Praxis verschreckt viele, aber das hat in Deutschland niemand vor. Hier geht es um etwas völlig anderes, und der Unterschied ist wichtig.

Es gibt Hinweise, dass SPD, Grüne und FDP die Bundeswehr nicht von 180.000 auf 203.000 Stellen aufstocken wollen, wie das die Vorgängerregierung geplant hatte. Ist das vernünftig?
Wenn das zutreffen solle, ist das bitter und nur dann zu vertreten, wenn die eingesparten Mittel in die notwendigen großen Ausrüstungsentscheidungen der Bundeswehr fließen.

Ein weiterer Streitpunkt bei den Koalitionsverhandlungen ist die Höhe der Verteidigungsausgaben, das geht es um das Zwei-Prozent-Ziel der Nato für Rüstungsausgaben…
Ich bin kein Anhänger des Zwei-Prozent-Ziels, denn es ist kein vernünftiger Maßstab. Ich sage ihnen ein Beispiel, dass die Absurdität dieser Vorgabe zeigt: Wegen des Wirtschaftseinbruchs in der Corona-Pandemie ist das deutsche Bruttosozialprodukt gesunken, die Ausgaben für Verteidigung stiegen dadurch anteilmäßig auf einen Wert von 1,5 Prozent. Aber in Wirklichkeit hat die Bundeswehr keinen Cent mehr bekommen. 

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ich werbe weiter für das, was ich das „Bundeswehrfähigkeitengesetz“ nenne: Der Bundestag sollte grundsätzlich darüber entscheiden, welche Fähigkeiten die deutschen Streitkräfte über einen längeren Zeitraum, sagen wir, in den nächsten drei Legislaturperioden, braucht und sie entsprechend ausstatten. Da geht es um Strukturen, Personalstärke, Bewaffnung. Dann wäre die Bundeswehr wirklich eine Parlamentsarmee.

Die Ampelkoalition könnte sich auf den FDP-Vorschlag einigen, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik auszugeben. Halten Sie das für sinnvoll?
Nein. Das ist doch ein Taschenspielertrick. Auch eine solche Zielmarke würde keine Klarheit darüber bringen, welchen Beitrag die Bundeswehr für eine verstärkte europäische Souveränität bringen könnte.

Zur Aufklärung setzt die Bundeswehr Drohnen vom Typ Heron ein - schon lange drängt sie darauf, sie auch zu bewaffnen.
Zur Aufklärung setzt die Bundeswehr Drohnen vom Typ Heron ein - schon lange drängt sie darauf, sie auch zu bewaffnen.
© Abir Sultan/EPA/picture alliance/dpa

In den Koalitionsverhandlungen wird auch entschieden, ob Deutschland neue Kampfflugzeuge anschafft, die amerikanische Atomsprengköpfe transportieren. Dagegen gibt es große Widerstände bei SPD und Grünen. Brauchen wir US-Atomwaffen in Deutschland und die nukleare Teilhabe noch?
Natürlich brauchen wir sie. Briten und Franzosen haben eigene Nuklearwaffen, Deutschland hat keine – und das völlig zurecht. Die nukleare Teilhabe ist auf deutschen Wunsch eingeführt worden, damit wir mitreden können, wenn in der Nato über die atomare Abschreckung und eventuelle Atomwaffeneinsätze in Europa entschieden wird. Ich bedauere es, dass viele das heute nur noch als Last empfinden.

Was ist die Ursache für diese Entwicklung?
Kanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung haben völlig versagt vor der Aufgabe, dieses wichtige Thema den Bürgern zu erklären. Die nukleare Teilhabe ist unverzichtbar für unsere Sicherheit. Wenn wir aus ihr aussteigen, gefährdet das den atomaren Schutzschirm für Europa und den Zusammenhalt der Nato. Wir müssen wieder einen Konsens in der Bevölkerung über den Wert der nuklearen Teilhabe herstellen. Was man nicht diskutiert und erklärt, wird man gegenüber den Bürgern auf  Dauer auch nicht durchsetzen können.

Lassen Sie uns das Bild weiten: Wo sehen Sie die größten Gefahren für Deutschland in den kommenden Jahren? 
Im Kalten Krieg war Landesverteidigung für die Deutschen zugleich Bündnisverteidigung. Für die anderen Nationen war es umgekehrt: Indem sie in Deutschland das Bündnis verteidigten, verteidigten sie auch die Sicherheit ihres Landes. Heute liegt Deutschland nicht mehr an der Außengrenze der Nato. Auch für uns ist die Bündnisverteidigung zur Landesverteidigung geworden. Deutschland wird nicht erst an der Oder verteidigt, sondern an den Außengrenzen der Nato, etwa in Litauen.

Alle deutschen Kanzler seit Helmut Schmidt waren laut Volker Rühe von China fasziniert. So scheint es auch bei Kanzlerin Merkel, im Bild mit Präsident Xi Jinping.
Alle deutschen Kanzler seit Helmut Schmidt waren laut Volker Rühe von China fasziniert. So scheint es auch bei Kanzlerin Merkel, im Bild mit Präsident Xi Jinping.
© Michael Kappeler/dpa

Welche Bedrohung geht von China für Deutschland aus?
Wegen Chinas Verhalten verlagern die USA ihre Kräfte nach Asien. Drei Dinge beunruhigen mich. In Hongkong bricht Peking den Vertrag über das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“. Zweitens hat Präsident Xi lebenslange Vollmachten bekommen. China war auch vorher keine Demokratie. Der Präsident wird nicht vom Volk gewählt, sondern von der Partei. Jetzt wird er nicht mal mehr nach zehn Jahren ausgewechselt. Das ist ein Anzeichen für eine Diktatur: wenn der geordnete Machtwechsel gar nicht mehr vorgesehen ist, sondern einer lebenslang regiert. Drittens tritt China aggressiver auf und möchte Taiwan eingliedern, durch Druck und notfalls gewaltsam.

Viele rechnen mit einem Krieg um das demokratische Taiwan. Wie sollte sich Deutschland auf diese Möglichkeit vorbereiten?
Die „Kaffeefahrt“ der deutschen Fregatte Bayern in den Indopazifik ist jedenfalls kein Mittel, um unsere Sicherheit zu stärken. Damit übernehmen wir uns, das ist lächerlich. Denken Sie nur an die US-amerikanischen und britischen Kampfflugzeuge, die die USA und Großbritannien gemeinsam auf einem Flugzeugträger in den Indopazifik schicken. Deutschland hat nichts Vergleichbares zu bieten. Wir entlasten die Amerikaner in Asien, indem wir in Europa mehr Verantwortung übernehmen. 

Kann Deutschland in dem sich verschärfenden Konflikt zwischen China und den USA neutral sein?
Wir können nicht neutral sein. In einer Welt, in der China die Demokratie in Taiwan mit militärischen Mitteln beendet, möchte ich nicht leben. Alle Bundeskanzler seit Helmut Schmidt waren von China fasziniert, auch Helmuth Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel. Das kann ich nachvollziehen. Aber  man muss sich ein realistisches Bild von der Lage machen und verstehen, warum sich die USA in Asien an der Seite der Demokratien stärker engagieren. 

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