Fast 400.000 Tote, zwölf Millionen Flüchtlinge: Nach neun Jahren Krieg ist Frieden in Syrien in weiter Ferne
Syriens Diktator Baschar al Assad bleibt wohl an der Macht. Und er ist zynisch genug, dem Krieg positive Seiten abzugewinnen. Eine Analyse.
Fast 400.000 Tote. Bis zu zwölf Millionen Flüchtlinge. Ein regionaler Flächenbrand. Doch Syriens Staatschef Baschar al Assad ist zynisch genug, um dem Krieg in seinem Land positive Seiten abzugewinnen.
Was den Zusammenhalt und die „soziale Integration“ angehe, stehe die syrische Gesellschaft heute besser da als zu Beginn des Konflikts am 15. März 2011, sagte Assad vor einigen Tagen dem russischen Fernsehsender Rossija 24. Mit anderen Worten: Viele Regimegegner sind tot oder mussten fliehen.
Obwohl der Krieg nun ins zehnte Jahr geht, kann der 54-jährige Assad sicher sein, dass er auch weiter an der Macht bleiben wird. Das Leid der Zivilbevölkerung dürfte anhalten, denn es gibt keine Aussicht auf ein baldiges Ende des Konflikts.
„Nieder mit dem Regime“
Im Frühjahr 2011 inspirierten die Aufstände des Arabischen Frühlings auch Demonstranten in Syrien, das seit Jahrzehnten vom Assad-Clan beherrscht wird. Hafez al Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, hatte das Land bis zu seinem Tod im Jahr 2000 mit eiserner Hand regiert. Als Baschar al Assad, ein studierter Augenarzt, im selben Jahr das Präsidentenamt übernahm, galt er zunächst als Reformer. Doch bald wurde klar, dass der jüngere Assad der harten Linie seines Vaters folgen würde.
Als Jugendliche Anfang März 2011 in der Stadt Daara die Parole „Nieder mit dem Regime – jetzt bist du dran, Doktor“ an Hauswände sprühten, reagierten die Sicherheitskräfte mit Festnahmen. Dies löste weitere Proteste aus. Eine Demonstration in der Hauptstadt Damaskus am 15. März 2011 gilt als offizieller Beginn des Aufstandes, der zunächst mit friedlichen Mitteln vorgetragen wurde.
Das Regime antwortete mit Gewalt, die zur Radikalisierung der Opposition beitrug. Konfessionelle Spannungen verschärften die Lage. Das Assad-Regime wird von Alawiten getragen, die zum schiitischen Islam gehören, während sunnitische Muslime die Bevölkerungsmehrheit stellen.
Internationalisierung und „Islamischer Staat“
Schon bald nach Ausbruch des Bürgerkrieges befeuerten internationale Akteure den Konflikt. Der schiitische Iran kam Assad umgehend zur Hilfe, doch Saudi-Arabien und andere sunnitische Staaten wollten verhindern, dass Syrien zum Teil des „schiitischen Halbmonds“ vom Iran über Irak bis nach Libanon wird. Deshalb bewaffneten sie sunnitische Milizen, zu denen auch islamistische Extremisten gehörten. Auch der nördliche Nachbar Türkei strebte den Sturz von Assad an und half sunnitischen Gruppen.
Assads Armee geriet somit unter starken Druck und musste etliche Landstriche aufgeben. Zu den Nutznießern gehörten die Dschihadisten vom „Islamischen Staat“ (IS), die 2014 große Gebiete im Osten Syriens und im Westen des Irak eroberten. Die Erfolge des IS riefen die USA und ihre Partner auf den Plan: Sie griffen die Dschihadisten in Syrien an. Dabei verbündeten sich die USA mit der syrischen Kurdenmiliz YPG, einem Todfeind des Nato-Partners Türkei.
Russland bringt die Wende
Assad stand damals am Rande der Niederlage, doch die Intervention Russlands im Jahr 2015 rettete ihn. Präsident Wladimir Putin erkannte die Chance, sein Land als neue Nahost-Macht zu etablieren. Die Gelegenheit war günstig, denn die USA hatten viel Glaubwürdigkeit verloren.
Präsident Barack Obama hatte Assad mit Militärschlägen wegen eines Chemiewaffen-Einsatzes durch die syrische Armee gedroht, den Präsidenten in Damaskus dann aber geschont. Immer mehr Syrer verließen im Jahr 2015 ihre Heimat in Richtung Europa und erschütterten mit ihrer Massenflucht die EU.
Mit russischer Hilfe konnte Assad verlorenes Territorium Stück für Stück zurückgewinnen. Die immer enger werdende Zusammenarbeit von Russland und der Türkei sorgte dafür, dass Ankara den Vormarsch von Assad nicht störte.
Für die Türkei ging es in Syrien inzwischen nicht mehr so sehr um einen Sturz des syrischen Präsidenten, sondern um die Zerschlagung des YPG-Autonomiegebietes entlang ihrer Südgrenze. Mit Putins Genehmigung schickte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Armee ab dem Jahr 2016 zu drei Militärinterventionen gegen die YPG nach Syrien.
Idlib, das letzte Rückzugsgebiet der Regime-Gegner
Der angekündigte Rückzug der USA aus dem Osten Syriens hat die Möglichkeit eines Bündnisses von Assad mit den syrischen Kurden eröffnet, die befürchten, nach dem Abzug der Amerikaner schutzlos der Türkei ausgeliefert zu sein. Damit ist die nordwestliche Provinz Idlib die einzig verbleibende Bastion der Regierungsgegner.
Viele Kämpfer und Flüchtlinge hatten sich im Laufe der Kriegsjahre in Idlib in Sicherheit gebracht. Nun leben dort mehrere Zehntausend Kämpfer – darunter die islamistischen Extremisten der Miliz HTS, ein Ableger der Terrorgruppe Al Qaida, sowie etwa drei Millionen Zivilisten.
Vor knapp einem Jahr begannen Assads Truppen mit einer Offensive, um Idlib für die Regierung zurückzuerobern und damit den militärischen Sieg des Präsidenten im Bürgerkrieg perfekt zu machen. Anfang Februar schickte Erdogan mehrere Tausend Soldaten in die Provinz, um Assads Vormarsch zu stoppen und eine neue Massenflucht von bis zu einer Million Menschen aus Idlib in die Türkei zu verhindern.
Trotz eines von Erdogan und Putin ausgehandelten Waffenstillstandes lässt Assad keinen Zweifel daran, dass er Idlib unter seine Kontrolle bringen will. Die Kämpfe könnten deshalb bald wieder aufflammen.
Das Elend der Menschen
Neun Jahre Krieg haben den Syrern und dem Land schwer zugesetzt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung musste ihr Zuhause verlassen. Fast zwölf Millionen Frauen, Kinder und Männer sind zum Teil seit Jahren auf der Flucht. 5,5 Millionen leben mittlerweile in Nachbarstaaten wie dem Libanon, der Türkei und Jordanien, mehr als sechs Millionen irren in ihrem Heimatland umher.
Viele von ihnen kämpfen Tag für Tag ums Überleben. Medikamente, Lebensmittel, Trinkwasser, ärztliche Hilfe, Treibstoff, Strom – es mangelt an allem. In einigen Teilen Syriens kann von ziviler Infrastruktur keine Rede mehr sein. Straßen, Plätze und Dörfer liegen in Schutt und Asche.
Satellitenbilder zeigen, dass ganze Landstriche im Grunde ausgelöscht wurden. In einigen Gebieten sind 30 Prozent der Häuser zerstört. Der Alltag der Menschen dort liegt in Trümmern. Ohne humanitäre Hilfe kämen sie nicht über die Runden. Schätzungen zufolge würden für den Wiederaufbau 200 bis 300 Milliarden Dollar benötigt. Assad selbst spricht sogar von 400 Milliarden. Bis zu 15 Jahre bräuchte es, die Kriegsschäden zu beseitigen.
Aber auch jenseits aktueller Kampfgebiete ist es um die meisten syrischen Familien schlecht bestellt. 80 Prozent der Syrer leben an der Armutsgrenze. Die Währung hat kriegsbedingt massiv an Wert verloren, Jobs sind kaum zu finden. Kinder müssen dabei helfen, den Lebensunterhalt zu sichern. Ein Schulbesuch kommt damit für sie kaum infrage.
Besonders prekär ist die Lage seit Monaten in Idlib. Was sich im letzten Rückzugsgebiet der Opposition abspielt, nennen Helfer eine Tragödie, sogar nach syrischen Maßstäben. Allein seit Dezember haben fast eine Million Menschen ihre Heimat verloren. Die meisten versuchen, sich an der türkischen Grenze in Sicherheit zu bringen.
Doch die Grenze ist abgeriegelt, eine Mauer hindert die Syrer daran, ihre Heimat zu verlassen, und hinter ihnen rückt Assads Armee, unterstützt aus der Luft von russischen Kampfjets und am Boden von proiranischen Milizen, immer weiter vor. Die Menschen sind in die Enge getrieben.
Die Flüchtlingslager können niemanden mehr aufnehmen. Frauen, Kinder und Männer hausen bei eisigen Temperaturen und Regen oft schutzlos in Garagen, Ruinen, auf Lastern oder sogar unter Bäumen. Nun hoffen alle, dass die zwischen Russland und der Türkei vereinbarte Waffenruhe hält. Nur: In Syrien wurde noch jede Feuerpause gebrochen.
Mit Assad in die Zukunft?
Nach seinen Erfolgen in den vergangenen Jahren denkt der syrische Präsident nicht ans Aufgeben. Er dürfte bei der im nächsten Jahr anstehenden Präsidentenwahl wieder antreten und auch gewinnen, denn von fairen, also freien und demokratischen Abstimmungen kann in Syrien keine Rede sein. Gespräche zwischen Regierung und Opposition unter dem Dach der UN über eine Nachkriegsverfassung für Syrien kommen nicht von der Stelle.
Dass Assad recht gelassen in die Zukunft schauen kann, liegt auch an seinem Geschick darin, seine beiden internationalen Partner – Russland und den Iran – gegeneinander auszuspielen. Neun Jahre nach Kriegsausbruch kann der syrische Präsident zudem wieder auf bessere Beziehungen mit seinen arabischen Nachbarn hoffen.
Die Golfstaaten Vereinigte Arabische Emirate und Bahrain haben ihre jahrelang geschlossenen Botschaften in Damaskus wieder geöffnet, die Arabische Liga diskutiert darüber, Syrien volle Mitgliedsrechte zurückzugeben. Die Zeit als internationaler Paria könnte für Assad allmählich zu Ende gehen. Für die Millionen, die unter seiner Herrschaft leiden, ist das eine fatale Nachricht.