Proteste und Generalstreik in Belarus: Minsk ist das neue Leipzig
Mitten in Europa zeigt die derzeit größte Demokratiebewegung, wie wichtig Freiheit ist. Die Menschen in Belarus brauchen jetzt unsere Hilfe. Ein Kommentar.
Die Macht zeigt ihre Macht: gepanzerte Armeefahrzeuge, Räumkommandos mit schwerem Gerät, vermummte Paramilitärs – bereit, friedliche Bürgerinnen und Bürger auseinanderzutreiben, festzunehmen und in Gefängnissen zu quälen. Und was tun die Menschen, die so eingeschüchtert werden sollen? Sie gehen auf die Straße, gewaltfrei und bei aller persönlichen Angst hoffnungsvoll, Woche für Woche immer zahlreicher und machtvoller. So war es im Herbst 1989 in Leipzig. So ist es im Herbst 2020 in Minsk.
Generalstreik läuft an, Proteste in Betrieben
In Belarus zeigen die Menschen gerade friedlich ihre Macht – und ihren Mut, mit dem sie schon jetzt Geschichte schreiben. Am Wochenende gab es nach drei Monaten unermüdlicher Proteste die größte Demonstration mit mehr als 100.000 Demonstrantinnen und Demonstranten – ein Leipzig-Moment in Minsk. Das Regime wusste sich gegen die Übermacht des Volkes nur mit dem kriegsähnlichen Einsatz von Blend- und Lärmgranaten sowie einer neuen Verhaftungswelle mit hunderten Gefangenen zu wehren.
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Am Montag nun begann ein Generalstreik in staatlichen Betrieben und an Universitäten. Nach Angaben von Korrespondenten vor Ort ließ Diktator Alexander Lukaschenko Einsatzkräfte zur Abschreckung zu den großen Werken schicken. Über Oppositionskanäle beim Messangerdienst Telegram wird berichtet, dass Dutzende Betriebe und Firmen in den Ausstand traten, in mehreren Betrieben gab es demnach offene Proteste. Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage in Belarus und weniger Ersparnisse sind viele Menschen allerdings auf die Löhne angewiesen, auch wenn diese gering sind.
Sie streiten für Freiheiten, die für uns selbstverständlich sind
Ein Nationalstreik bringt neben dem Regime deshalb auch jeden Einzelnen an die Grenzen seiner Existenz. Die Opposition um die unfreiwillig nach Litauen exilierte Swetlana Tichanowskaja stellt sich deshalb auf einen langen Winter des Widerstands ein.
Die derzeit größte und mutigste Demokratiebewegung Europas führt uns vor Augen, wie wichtig Freiheit ist. Und wie mutig und wagemutig man mit friedlichen Mitteln für Freiheiten eintreten kann, die für uns im vereinten Deutschland längst selbstverständlich sind und auch im Zuge der Corona-Einschränkungen weiterhin uneingeschränkt gelten: die Freiheit des Wortes, der Demonstration der eigenen Meinung, der unabhängigen und geheimen Wahl, auch der Presse.
Aufmerksamkeit macht den Mutigen noch mehr Mut
Ja, die ganze Welt hat in der Pandemie einen schweren Herbst und Winter vor sich; das trifft auch jede und jeden in Deutschland. Die Menschen in Belarus aber setzen weit mehr für ein friedliches, freies Europa aufs Spiel. Helfen wir ihnen dabei, indem wir unsere Blicke und unser Mitgefühl weiterhin auch nach Osten richten. Und trotz des eigenen Corona-Stresses und des Wahl-Irrsinns in Amerika unser Interesse für die Menschen in Belarus zeigen, Anteil nehmen an den Minsk-Momenten in diesen Tagen der Entscheidung.
Denn auch das hat der Herbst 1989 in Leipzig und Ost-Berlin gezeigt: Aufmerksamkeit macht den Mutigen noch mehr Mut. Friedliche Revolutionen gelingen nur, wenn andere hinsehen und helfen. Diesmal sind wir damit dran.
Von Robert Ide